Kulturelle Beiträge | Jahrbuch 2000
Kazike Carayá
Eine Erzählung
Peter P. Klassen
1. Einführung
Von den Anden strömten ungeheure Wassermassen in die riesige Senke, die
man später den Chacotrog genannt hat. Zu
Tal flossen die Schmelzwasser der mächtigen Eismassen, die sich hier in
den Falten des Gebirges als Eisfelder und
Gletscher während der letzten großen Eiszeit, angesammelt hatten. Das war
vor etwa zwanzigtausend Jahren.
Eine Warmzeit hatte wieder einmal eingesetzt, und in den Schüben der
Jahreszeiten strömten größere oder kleinere
Wassermengen zu Tal. In dem starken Gefälle der Hänge des Gebirges rissen
sie viel Material mit sich. Das schwere Geröll blieb am Fuß
der Anden liegen, und die leichten Sande, Tone und den Löß trugen sie
weiter in die Ebene hinein und füllten sie langsam auf.
Hier im Tiefland bildeten sich regelrechte Ströme, in einer Breite von
einem oder auch mehr Kilometern. Der Lauf war bei
dem geringen Gefälle träge, und die etwas schwereren mitgeführten Sande
lagerten sich bei kleineren Stauungen, die schon
durch eine Bodenschwelle zustande kommen konnten, ab. Mit den Jahren,
staute sich der Wasserlauf auf diese Weise durch
seine eigenen Ablagerungen immer stärker nach rückwärts und versperrte
sich so seinen eigenen Weg. Diese Stauungen,
riesigen Sandbänken gleich, konnten viele Kilometer lang werden, zehn,
zwanzig und mehr. Bei dem ständig nachdrängenden
Wasser, das dann seitwärts vorbeifließen musste, reihten sie sich nach
rückwärts aneinander, oft verbunden durch schmale Schneisen.
Mehrere solcher Urströme flossen gleichzeitig nebeneinander durch die
Ebene des so entstehenden Gran Chaco, in
Abständen von zwanzig, dreißig Kilometern, alle von Nordwesten nach
Südosten, dem Gefälle folgend. Was wir heute davon sehen sind
die Sand- oder Hochkämpe, richtige Parklandschaften, die die
mennonitischen Einwanderer suchten, als sie ihre Dörfer
anlegen wollten. Langgestreckt wie diese Kämpe waren dann auch ihre
Siedlungen, und auf einer Luftaufnahme erscheinen sie
wie Ketten, angepasst an jenen geologischen Vorgang nach der letzten
Eiszeit.
Zwei dieser großen Urströme sollen für uns hier interessant werden, weil
sich gerade hier, nachdem die
Menschheitsgeschichte in diesem Raum begann, so viel abgespielt hat.
Auf einem dieser sandigen Landrücken liegen heute die Dörfer Waldesruh,
Friedensfeld, Wiesenfeld, Gnadenheim,
Schönfeld, Schöntal, Osterwick, Rosental, Reinfeld, Vollwerk und
Neuanlage. Auf einem weiteren Rücken, etwa zwanzig bis dreißig
Kilometer weiter südlich, liegt wieder eine Dörferkette: Neuhalbstadt,
Lichtenau, Gnadental, Neuendorf, Landskrone, Hohenau,
Blumental, Yalve Sanga und Pozo Amarillo.
Um von dem nördlichen Landrücken zum südlichen zu gelangen, mußte man
einen breiten Buschstreifen durchqueren,
dessen Böden aus schwerem Lehm oder Ton bestehen. Dieser Streifen macht
heute, verglichen mit den Hochkämpen, den
Eindruck einer Niederung, obwohl die Höhenunterschiede gering sind. Nach
dem vorherrschenden Baumbestand werden sie als
Palosanto Niederung oder Paloblanco Niederung bezeichnet.
Diese Lehm-, Ton- und Lössböden sind Ablagerungen von feinkörnigem
Material. Zwischen den nun etwas höher
liegenden Sandablagerungen war der Lauf der immer noch von den Anden
herabfließenden Gewässer sehr langsam, oder sie blieben
oft über längere Zeiträume überhaupt stehen. Dabei lagerte sich das
feinste Material, das von den Anden mitgeschleppt
wurde, schichtenweise ab. So entstanden hier schwere, gelbliche Lehmböden
oder auch dunkle bis zu schwarzen Tonböden.
Da diese Landstriche mit schweren Böden etwas tiefer liegen als die
Sandkämpe, floss hier auch in späteren Zeitperioden
das Wasser eines regenreichen Sommers langsam nach Osten ab. So ist es bis
heute geblieben. Eine merkwürdige Erscheinung
dabei sind immer wieder Bodensenken, in denen das Wasser zurückbleibt. Der
Boden ist hier so undurchlässig, dass diese
Wasserstellen, später auch Lagunen genannt, das Wasser oft bis in den
späten trockenen Winter hinein behalten.
Die Vegetation in dem nun mehr oder weniger fertigen Chaco folgte der
Periode der alluvialen Ablagerungen, und sie passte
sich einmal den klimatischen Verhältnissen an, dann aber auch den
Gegebenheiten der Bodenbeschaffenheit. Während sich auf
den sandigen Kämpen eine richtige Parklandschaft entwickelte, mit Fluren
von Bittergras, einzelnen Sträuchern und großen
Bäumen, bedeckten sich die fruchtbareren Lehm- und Lössböden dazwischen
mit dichtem niedrigen Busch, verschiedenen
Kakteenarten und einzelnen höheren Bäumen.
Die Senken, in denen das Wasser bis in den Winter stehen blieb,
entwickelten ein besonderes Biotop. Das Wasser
verhinderte den Wuchs von Bäumen und Sträuchern in der Senke, ließ aber am
Rand einen Kranz üppiger Vegetation zu. Beim Rückgang
des Wassers in der trockenen Jahreszeit bedeckte sich die Fläche mit
Gräsern.
Man hat diese kleinen grünen Auen mitten im dichten Chacobusch später auch
Wasserkämpe genannt. Sie haben dann, als
die Geschichte der Menschen in diesem Raum begann, eine ganz besondere
Bedeutung bekommen. Das Wasser dieser
Lagunen sicherte den Indianern über viele Monate im Jahr die Existenz in
ihren Jagdgründen, und sie bauten hier am Ufer der Lagunen
ihre Grashütten. Später, als die Paraguayer und Bolivianer den Streit um
das unerschlossene Gebiet des Chaco, in dem es noch
keine festgelegten Grenzen gab, begannen, suchten auch sie gerade diese
Wasserstellen, um hier ihre militärischen
Stützpunkte anzulegen. Auch die eingewanderten Mennoniten erkannten bald
den Wert dieser tonigen Senken. Wenn sie tief
ausgebaggert wurden, konnte man hier Wasserreserven für das Vieh für ein
ganzes Jahr anlegen.
Einige dieser Lagunen haben in der neueren Zeit politische Bedeutung
erlangt. Ungefähr auf der Mitte der Strecke zwischen
den oben beschriebenen Höhenrücken lag so eine grüne Aue, die, nach einem
Indianerhäuptling benannt, Kazike Carayá hieß.
Etwa fünfzig Kilometer weiter nach Osten in der gleichen Bodensenke liegt
eine weitere Aue, die den Namen Kazike Ramón und
später Isla Po'i erhielt. Über den Landrücken hinweg, etwa fünfzig
Kilometer nach Süden hin, erhielt eine dritte Aue Bedeutung. Sie
ist unter dem Namen Boquerón bekannt geworden. Diese Namen wurden während
der kriegerischen Auseinandersetzungen
mit Menschenblut geschrieben, und sie waren nur die ersten einer langen
Reihe blutiger Namen in dieser über lange Zeiträume
so friedlich entstandenen Ebene.
Doch Leben gab es hier schon lange, ehe der Mensch seinen Fuß auf die
abgelagerten Schichten des Chaco setzte. Die
Saurier, die über lange Zeitperioden das Leben auf unserem Planeten
bestimmten, hatten auch dieses Tiefland erreicht, und sie
scheinen sich hier wohlgefühlt zu haben.
Ein häufig auftretendes Tier war das Glyptodon, ein Riesengürteltier. In
mehreren Arten von unterschiedlicher Größe
und verschiedenem Aussehen bevölkerte es die weite Chacoebene von der
südlichen Pampa bis an die Gebirgszüge von
Chiquitos im Norden. Sie waren bis zu zwei Meter lang und einen Meter
hoch, bewehrt mit einem starken Panzer. Bei manchen endete
der Schwanz in einer kugelartigen, stachelbewehrten Keule. Als eines von
ihnen in der Senke zwischen den genannten
Höhenrücken in der Nähe des späteren Carayá Nahrung suchend stapfte, wurde
es von Wassermassen, die immer noch periodisch
von den Anden strömten, überrascht. Es ertrank, und die Lehm- und
Lössmassen schwemmten es ein und deckten es zu. Schicht
auf Schicht, drei Meter hoch, lagerte sich dann im Lauf der Jahrtausende
darüber.
Neben den Gürteltieren trat hier auch eine Elefantenart auf, das Mastodon.
Seine Stoßzähne steckten im Unterkiefer und
waren nach unten gerichtet. Auch diese schwer bewaffneten Riesen wurden
manchmal von Fluten überrascht, eingeschwemmt
und luftdicht abgeschlossen, so dass ihre Knochen versteinerten. Eines von
ihnen ereilte solch ein Schicksal in der Nähe
des heutigen Bahía Negra. Auch riesige Raubtiere soll es hier in jener
Zeit gegeben haben. Wissenschaftliche Werke zeigen
Bilder vom Säbelzahntiger, dem Smilodon, der mit seinen riesigen
Reißzähnen wohl auch einen Riesenelefanten anfallen konnte.
Die Riesen starben aus, und nur wenige Reste von ihnen sind
übriggeblieben. Kleinere Verwandte folgten ihnen in
späteren Perioden, Gürteltiere und Ameisenbären in mehreren Variationen
und in großer Zahl die Pekaris, die Spießhirsche und
anderes Wild. Sie wurden die Nahrungsgrundlage sowohl für die Raubtiere
wie Jaguar und Puma als auch für die später
eingewanderten Menschen.
Eines von den Pekaris, das Taguá, gab den Wissenschaftlern Fragen auf.
Einige der Forscher, die es mit versteinerten
Funden verglichen, meinten, in ihm eines der ausgestorben geglaubten
Urtiere, das Catagonus wagneri, entdeckt zu haben.
Andere widersprachen diesem Forschungsergebnis. Die Indianer, die dann
Jagd auf diese Pekariart machten, kümmerte der
wissenschaftliche Streit wenig. Für sie war das Taguá eine beliebte und
lohnende Beute.
Ein Rudel Pekaris wühlte wohlig im Uferschlamm der Lagune, die die
Lenguas, ein Indianerstamm, dem dieses
Jagdgebiet gehörte, Popyit Amyip nannten, was Kamp der Spießhirsche
bedeutet. Der Keiler von enormer Größe, denn es waren
Taguás, verschwand fast in der aufgewühlten Brühe, während sich die
Frischlinge um einige Bachen drängten.
In dem Moment, als sich der Keiler bis zur halben Höhe aus dem Schlamm hob
und heftig schnaufte, warf er sich plötzlich
fast kerzengerade in die Höhe und sank rückwärts in den Schlamm zurück. In
seiner Seite steckte ein Pfeil, der sein Herz
durchbohrt haben musste. Schon schwirrte ein zweiter Pfeil, und eine der
Bachen stieß ein fauchendes Bellen aus. Der Pfeil hatte etwas
zu weit nach vorn getroffen, auf das harte Blatt, wo er stecken blieb. Das
ganze Rudel war im Nu fauchend und quiekend im
nahen Busch verschwunden.
Aus dem Dickicht am gegenüberliegenden Ufer wand sich eine braune Gestalt.
Sie erhob sich, atmete tief durch, und
die Morgensonne ließ den Schweiß auf dem muskulösen Körper glänzen. Es war
Hakuk, der Häuptling eines Clans der Lenguas,
die unweit auf dem großen Bittergraskamp ihre Grashütten gebaut hatten.
Eigentlich hieß er Hakuk Kinik-Piyim. Das heißt,
der Waisenknabe, dessen Vater von den Ayoreos erschlagen wurde. Doch alle
nannten ihn einfach Hakuk.
Hakuk führte seit Kurzem einen Doppelnamen. Paraguayische Soldaten, die
Volay, die seit einiger Zeit in dieser Gegend
auf Patrouille ritten, hatten ihn Kazike Carayá genannt, vielleicht seiner
etwas gedrungenen Gestalt und seiner Wendigkeit
wegen. Außerdem war er zu Späßen aufgelegt, wenn man sich mit ihm einließ.
Carayá ist der Guaraniname für den Brüllaffen der
dichten Laubwälder Ostparaguays. In den Trockenwäldern des Chaco kommt er
selten vor, und Hakuk kannte die Bedeutung
seines neuen Namens sicher nicht.
Der Häuptling ging gemessenen Schrittes zu seiner Beute. Der Keiler rührte
sich nicht mehr, und Hakuk zog ihn mit
einiger Anstrengung aus dem Schlamm in das saubere Wasser. Eigentlich
hätte er ihm gleich die Stinkdrüse aus dem Rücken
schneiden müssen, denn das war jedesmal die erste Handlung des Jägers. Ein
erlegtes Pekari verbreitet sonst einen penetranten
Geruch, der sich auch auf das Fleisch überträgt.
Doch Hakuk horchte gespannt in den Busch, ob die getroffene Bache einen
Laut von sich gab. Dann folgte er der Fährte
einige Meter weit in das Dickicht, bis die stacheligen Caraguatá ihm den
Weg versperrten. Wahrscheinlich hat der zweite Schuss
nur leicht getroffen, überlegte er, und das Rudel ist längst im tiefen
Dickicht verschwunden. Hakuk trauerte weniger um die
verlorene Beute als um seinen Pfeil, der sicher stecken geblieben war und
nun unauffindbar irgendwo im dichten Busch liegen
bleiben würde.
So ein Pfeil war schwer zu ersetzen. Es war ein ganz modernes Gerät, viel
besser als jene Pfeilspitzen aus Hartholz,
deren Herstellung allerdings ebenfalls viel Mühe kosteten. Doch die beiden
Pfeile, mit denen er auf Pekarijagd gegangen war, hatte
er aus den Klingen von Stahlmessern gemacht. Messer aus Stahl konnte man
im Tauschhandel erwerben. Indianer anderer
Stämme, die näher am großen Fluss wohnten, kamen gelegentlich bis hierher
und boten diese schönen Klingen gegen Felle
des Ozelot oder auch für ein gutes Bündel Straußenfedern an. In neuerer
Zeit, seit die berittenen Soldaten vorbeikamen, boten
auch sie feine Messer an, doch sie wollten keine Felle oder Federn dafür
haben, sondern eins der Mädchen. Wenn die Volay
nicht gewalttätig waren, gingen die Lenguas auch auf solch einen Handel
ein.
Wunderschöne Sachen fanden so ihren Weg zu dem Clan an der
Spießhirschlagune, Äxte aus Eisen zum Beispiel, mit denen
sich so viel besser die Honigwaben aus dem harten, hohlen Stamm des
Quebracho hacken ließen. Das war längst nicht so
mühsam wie mit dem Steinbeil, das Hakuks Vater ständig in seiner
Jagdtasche getragen hatte. Auch das Steinbeil war ein
kostbarer Tauschartikel gewesen. Indianer, die weit aus dem Westen
gekommen waren, vom Rand des großen Gebirges, brachten
diese feingeschliffenen Geräte mit. Dort musste es Steine im Überfluss
geben, Steine, die man in der weiten Ebene des Gran
Chaco nicht fand. Manches Schöne und Brauchbare war so ins Grashüttendorf
der Lenguas gekommen, auch wunderschöne
Glasperlen oder ein Stück feines Tuch oder ein Filzhut. Am Lagerfeuer auf
dem Platz im Rund der Hütten drehte sich das Gespräch an
den Abenden oft um all diese Kostbarkeiten, und die Jagd auf Ozelote,
Pekaris oder Strauße hatte nun auch Handelswert bekommen.
An dem Pfeil, dem Hakuk nun nachtrauerte, hatte er viele Tage mühsam
gearbeitet. Er hatte die Klinge aus dem Griff des
Messers gelöst und ihr dann eine andere Form gegeben. In mühsamer
Schleifarbeit auf einem Stück Sandstein, das schon sein Vater
im Tauschhandel erworben und ihm geschenkt hatte, bekam die Klinge
allmählich die Form einer Pfeilspitze, etwa zwanzig
Zentimeter lang. Die nun lanzettförmige Klinge wurde sorgfältig in ein
Bambusrohr eingefasst. Mit Wachs und Garn wurde die
Befiederung angebracht, und dann war so ein Pfeil eine Waffe, mit der man
nicht nur einen Keiler wie diesen hier erlegen konnte,
sondern auch einen Jaguar. Das war am besten möglich, wenn die Hunde das
Raubtier auf einen Baum gehetzt hatten. Dann legte
sich Hakuk auf den Rücken, stemmte beide Füße gegen den langen Bogen,
fasste den Pfeil mit beiden Händen, und der Druck
der starken Sehne genügte, um einen Jaguar zu durchbohren.
Der kostbare Pfeil war verloren. Hakuk wandte sich seiner Beute zu. Er
wusch ihr den Dreck von der Schwarte und schnitt
mit seinem scharfen kleinen Messer, das immer hinter dem Gürtel aus
Tapirhaut steckte, die Stinkdrüse aus dem Rücken.
Dann weidete er das Tier aus, band ihm die Beine mit einer festen Schnur
aus Caraguatáfasern zusammen, und hängte es sich über
die rechte Schulter. Hakuk war stark genug, um so eine schwere Jagdbeute
die fünf Kilometer durch den Busch bis zu den
Grashütten zu tragen.
Die Frauen und Kinder im Dorf stimmten ein Jubelgeschrei an, als sie Hakuk
in der Ferne am Rand des Busches
auftauchen sahen. Die halbwüchsigen Jungen liefen ihm entgegen und nahmen
ihm den Keiler von der Schulter. Sie hängten ihn über
einen starken Stecken, und zwei von ihnen trugen die Last bis zu den
Hütten.
Dort herrschte frohe Stimmung, weil die Versorgung des Clans wieder für
zwei Tage gesichert war. Womöglich brachten
die Männer, die sich in den weiten Graskamp auf die Jagd begeben hatten,
einen Spießhirsch mit oder doch Gürteltiere
oder Leguane, die noch schmackhafter waren als das zähe Fleisch eines
alten Keilers.
Die Versorgungslage im Sommer war gut. Der kleine Acker auf dem lockeren
Sandboden in der Nähe der Hütten lieferte
Süßkartoffeln und Kürbisse, und die Frauen brachten vom Ufer der Lagune
reichlich Wasser und die nahrhaften Schoten des
Algarrobo, einer Akazienart, die den Wasserkamp wie ein grüner Kranz
umgab. Auch die Früchte der verschiedenen Kakteen
füllten ihre Taschen. Alles trugen sie auf oder mit dem Kopf, die Tonkrüge
mit Wasser und die schweren Tragetaschen an einem
breiten Band. Wenn die Frauen dann reich beladen zu den Hütten kamen,
herrschte nicht geringere Freude als bei der
erfolgreichen Heimkehr der Männer von der Jagd.
Im Winter allerdings, wenn die Lagune allmählich austrocknete, die Pekari
Rudel sich weiter nach Osten verzogen und der
Boden nichts mehr lieferte, konnte es hart werden. Dann musste sich der
Clan auf Wanderschaft begeben, auf die Suche nach
den letzten Wasserstellen, die oft noch versteckt im dichten Busch zu
finden waren. Dann waren nur noch Kleintiere zu
erlegen, Schlangen und Eidechsen, und die Bromeliendickichte bargen in
ihren harten Kelchen, die ins Feuer geworfen wurden,
einige Vitamine. Es ging dann ums Überleben, und die Lenguas hatten in den
weiten Graskämpen und Buschstrecken ihrer Jagd-
und Sammelgebiete die entsprechende Strategie entwickelt.
Für die Alten und Kranken konnten diese Wanderungen der Winterzeit dann
allerdings zum Verhängnis werden. Sie
mussten, wenn sie zu schwach waren, einfach zurückgelassen werden oder,
und das war das gnädigere Verfahren, man tötete sie mit
einem Schlag auf den Schädel. Auch die Familienplanung war ein hartes,
aber unverzichtbares Mittel der Überlebensstrategie.
Nur zwei Kinder konnte eine Mutter mit auf die Wanderung nehmen, eines in
der Tragetasche und eines an der Hand. Der Mann
mit den Waffen musste für den Schutz der Wandernden und für die Jagd frei
bleiben. Die unerwünscht Geborenen mussten
deshalb gleich nach der Geburt getötet werden.
Hakuk saß vor seiner Hütte und war des Lebens zufrieden. Er blickte auf
seinen etwa siebenjährigen Sohn, der sich mit
einem kleinen Bogen, den er für ihn gemacht hatte, im Zielschießen übte.
Die Jahre wurden bei den Lenguas nicht gezählt, und
auch einen Namen hatte der Junge noch nicht. Beides war vorerst unwichtig.
Die Jahre kamen und gingen, wie die Sommer mit
dem reichlichen Wasser und den Algarroboschoten, und einen Namen bekam der
Mensch erst dann, wenn ein besonderer
Umstand dazu Anlass gab. Sie nannten ihn einfach Sepe, das heißt Junge.
Manchmal, wenn man ihn genauer bezeichnen wollte, hieß
er auch Apviski Apkitka, das heißt Sohn des Häuptlings. Später, als er
schon erwachsen war, hieß er Kintem, weil er sich einmal
ein Bein gebrochen hatte. Er war auf einen Baum gestiegen, um Honig aus
dem hohlen Stamm zu hacken. Dabei war er abgestürzt.
Das Fleisch des Keilers war am Spieß gebraten worden, lange und langsam,
bis es schön weich wurde. Nach der Jagd gab
es keine Hast. Die Süßkartoffeln wurden währenddessen in der heißen Asche
gebacken, ebenso lange und langsam, und nun
zog der Duft der reichlichen Mahlzeit durch die Grashütten. Er lud alle
ein, und keiner blieb je hungrig, wenn die Jagdbeute ins
Lager gebracht worden war.
Plötzlich schlugen die Hunde an. Die wachsame Meute scharte sich zusammen
und stürmte aus dem Lager nach Westen hin.
Die Männer erhoben sich und blickten in die Richtung, in die die Hunde
immer wütender kläfften. Ganz fern auf dem offenen
Kamp konnte man Reiter ausmachen, die sich langsam näherten. Ein Warnruf
des Häuptlings, und alle Frauen und Mädchen
verschwanden in den Hütten.
Als die Reiter sich näherten, beschwichtigten die Männer ihre Hunde, und
Hakuk trat vor. Es waren keine Volay, das sah er
auf den ersten Blick. So große Maultiere hatten die Grünuniformierten
nicht. Die graugelbe Kleidung und die Schirmmützen
wiesen andere Soldaten aus. Doch eines war gleich, jene wie diese hier
trugen Gewehre, Patronengurte und noch andere Waffen.
Es waren vier Reiter, und Hakuk sah, dass fern am Buschrand noch mehr
stehen geblieben waren. Der Erste, wohl der
Häuptling, wie Hakuk mutmaßte, stieg ab, kam auf ihn zu und reichte ihm
die Hand. „Kazike Carayá", sagte er freundlich und klopfte ihm
auf die nackte Schulter. Diese Männer kannten ihn, und das war Freude und
Schrecken zugleich. Kazike Carayá, so hatten ihn
die Volay genannt, und nun war sein Name also auch im Westen, bei den
andern, bekannt. Doch dann überwog der Schrecken
den eben aufgestiegenen Stolz. Was wollten diese fremden und
schwerbewaffneten Männer von ihm?
Die Verständigung war nur durch Zeichen möglich, doch Hakuk verstand bald,
dass es um ihre Lagune ging, und was
noch schlimmer war, dass diese Männer hier bleiben wollten. Ihm blieb
nichts anderes übrig, als hilflos zu nicken, wenn der
fremde Häuptling eine Frage stellte. Der sprach dann wieder mit seinen
Leuten, und alle nickten und lachten und zeigten in Richtung
des Wasserkamps, der bis dahin und in all den erdenklichen Zeiten Popyit
Amyip geheißen und ihnen, den Lenguas, gehört
hatte. Lachend und grüßend bestiegen der Offizier und seine Männer ihre
Maultiere. Alle wendeten, und dann galoppierten sie auf
den Buschrand zu, wo eine Kompanie bolivianischer Soldaten wartete,
bewaffnet mit Karabinern und Maschinengewehren.
Alle verschwanden dann in langer Reihe auf dem engen Pfad im Busch, der
hinunter zur Lagune führte.
Langsam kamen die Frauen und Kinder wieder aus den Hütten und schauten
verstört in die Richtung, aus der der
unerwartete Einbruch gekommen war. Die Hunde hörten nicht auf zu kläffen,
und die Männern hatten den Appetit verloren. Die Sonne
neigte sich langsam in die Richtung, aus der die Soldaten in den
Khakiuniformen gekommen waren.
Das war im November 1928.
Der fremde Häuptling, der Hakuk in Verlegenheit gebracht und in Schrecken
versetzt hatte, war Hauptmann Abel Florentín
aus La Paz. Er hatte nichts weiter getan, als den Befehl ausgeführt, der
vom Oberkommando im Fortín Muñoz erteilt worden war.
Er sollte einen Vorposten 40 Kilometer nördlich von Boquerón und 50
Kilometer westlich von Isla Po'i, zwei
paraguayische Befestigungen, anlegen. Die schöne Lagune hatte eine
Patrouille ausgemacht. Der schon legendäre Hauptmann Victor
Ustarez, ein verwegener Buschläufer im Chaco seit Jahren, hatte insgeheim
alles bis in die Einzelheiten untersucht, und er hatte
auch erfahren, dass die Paraguayer den Häuptling Hakuk Kazike Carayá
nannten. Alles war wichtig bei dem langsamen, aber
gezielten Vordringen nach Osten. Mit der Besetzung dieser Lagune hatte die
bolivianische Heeresleitung eine Faust in die
gegnerische Verteidigungslinie geschoben.
Das bolivianische Oberkommando in Muñoz, in der Nähe des Rio Pilcomayo,
war dabei, seine militärischen Stützpunkte
möglichst unauffällig aber stetig nach Osten in Richtung des
Paraguayflusses vorzuschieben, in ein Territorium, auf den es
vom historischen Standpunkt aus meinte Anspruch erheben zu können. Der
eigentliche Grund waren aber geopolitische Ziele.
Der eroberte Chaco sollte den Zugang zum Rio Paraguay und damit zum
Atlantischen Ozean sichern.
Die Regierung von Paraguay hatte das gleiche strategische Ziel, nur in
entgegengesetzter Richtung. Sie hielt den ganzen
Chaco Boreal, wie man den nördlichen Teil der großen Ebene nannte, bis an
den Rio Parapití für ihr historisches Erbe. Die
entdeckten Erdölvorkommen am Andenrand spielten dabei auf beiden Seiten
eine bedeutende Rolle. Nun verzahnten sich die
strategischen Maßnahmen bereits, und die militärischen Stützpunkte,
Fortines genannt, rückten einander stellenweise gefährlich nahe.
Hauptmann Florentín, Absolvent der Militärschule in La Paz, hatte einen
langen Weg hinter sich, als er auf die Grashütten
des Kazike Carayá, dessen Name bereits in die Strategie eingeplant worden
war, traf. Sein Regiment hatte den Auftrag, die
Positionen im Chaco zu verstärken. Vom Fuß der Anden in Villa Montes, wo
das Regiment seinen Standort hatte, war Hauptmann
Florentín mit seiner Kompanie von Stützpunkt zu Stützpunkt dem Lauf des
Rio Pilcomayo gefolgt, überzeugt davon, seinem Vaterland
und einer guten Sache zu dienen. Er sah, wie seine Soldaten, meist
Hochlandindianer, unter dem herben Klimawechsel litten.
Sie kamen aus der dünnen, kühlen Luft des Altiplano unvermittelt in die
heiße, dornige Chacoebene. Doch Hauptmann
Florentín war ein guter Vorgesetzter. Er verstand es, seine Untergebenen
zu ermutigen und sie davon zu überzeugen, dass der
Chaco bolivianisches, von Paraguay bedrohtes Territorium sei.
Die Tieflandindianer, die in diesem Raum lebten, hatten für die
strategische Planung auf beiden sich nun feindlich
gegenüber stehenden Seiten keine Bedeutung. Sie waren nicht viel wichtiger
als das Wild dieser Gegend. Sie konnten allerdings
gelegentlich für die Kundschaft eingespannt werden, denn sie waren die
besten Kenner ihrer weiträumigen Jagdgebiete. Die
Indianer wussten, wo die dauerhaften Wasserstellen waren, und sie durften
sich nicht weigern, die Patrouillen zu führen. So war auch
die Begegnung mit Kazike Carayá, so freundschaftlich Hauptmann Florentín
es auch meinte, eine bloße zweckbedingte Formalität.
Hakuk und einige seiner Männer schlichen in der Dämmerung des nächsten
Morgens an ihre Lagune Popyit Amyip. Sie
blieben im Gebüsch versteckt stehen. Am gegenüberliegenden Ufer stellten
sie emsiges Treiben fest. Einige Soldaten hatten als
erstes einen schlanken Paloblanco gefällt, ein dreifarbiges Tuch, rot,
gelb und grün, daran gebunden und den Mast
aufgerichtet. Hakuk erkannte, dass es die gleichen Farben waren, die er an
der Schirmmütze des fremden Häuptlings gesehen hatte.
Zelte waren am Ufer der Lagune aufgestellt worden. Der Busch hallte wider
von Axtschlägen. Dort wurden Bäume gefällt, und
am Buschrand wurde ein Graben ausgehoben.
Hier würden keine Pekaris mehr an die Lagune kommen, und keine der Frauen
würde sich hierher wagen, um die Tonkrüge
mit Wasser zu füllen. Das war die realistische Schlussfolgerung des
Häuptlings Hakuk. Schweigend zog er sich mit seinen
Männern zurück. Als sie wieder bei den Grashütten waren, fiel eine
schnelle Entscheidung.
„Wir müssen hier weg", sagte Hakuk zu seinen Leuten. Zum Aufbruch
brauchten Sie nicht mehr als eine halbe Stunde. Im
Nu hatten die Frauen ihre Habseligkeiten in den großen Tragetaschen
verstaut, die Felle, die als Bodenmatten dienten,
eingerollt und die Kinder an sich genommen. Die Männer nahmen ihre Waffen,
und die Wanderung konnte beginnen, nach Osten hin,
weg aus der Richtung, aus der diese Reiter gekommen waren.
Sie wanderten, wie sie immer gewandert waren, wenn die Not sie trieb, wenn
die Lagune leer war, wenn die Jagd nicht
mehr lohnte, wenn die Umgebung der Grashütten verschmutzt war oder wenn
eine Gefahr drohte. Sie wanderten in langer Reihe
auf den engen Pfaden, die sie gut kannten, durch Busch und Kamp, vornan
Hakuk und einige Männer, dann die Frauen,
vornüber gebeugt, das Trageband der schweren Taschen mit aller Habe über
dem Kopf, obenauf das kleinste Kind, und hinten in der
Reihe wieder bewaffnete Männer.
Sepe, Hakuks ältester Sohn, den sie später Kintem nannten, lief vorne
neben seinem Vater her. Er war stolz auf seinen Vater,
den starken Mann, der den Clan führte, und ehrfurchtsvoll schaute er auf
die scharf geschliffenen Pfeile im Gürtel und den
langen starken Bogen. Sein Vater hatte ihm eine Bogenschleuder gemacht,
einen Bogen mit einer Doppelsehne, in die seine Mutter
eine Schlaufe eingeknüpft hatte. Mit Kugeln, aus Ton gedreht, konnte er so
auf Täubchen und Eidechsen schießen und damit
einen Beitrag für die Ernährung leisten.
Drei Tage dauerte der Marsch, dann erreichten sie wieder eine Lagune, die
in derselben Bodensenke lag wie Popyit
Amyip, ziemlich weit im Osten, in der Nähe jener großen und wasserreichen
Lagune, die die Volay, die Reiter in den grünen
Kleidern, Kazike Ramón genannt hatten, nach dem Lenguahäuptling dieser
Gegend. Dass sie inzwischen den Namen Isla Po'i
bekommen hatte und ein befestigtes Heerlager geworden war, erfuhren Hakuk
und seine Männer erst einige Tage später auf einem
Streifzug, auf dem sie den Wildbestand der Gegend untersuchen wollten.
Kazike Carayá wurde in Isla Po'i freundlich begrüßt und
mit Fragen überschüttet. Hakuk begriff ungefähr, was die Volay von ihm
wissen wollten, und er gab Auskunft, so gut er konnte.
So erfuhr das paraguayische Oberkommando, dass die Bolivianer die Lagune
Kazike Carayá, wie sie inzwischen in die
Kartenskizzen von diesem Gebiet eingetragen worden war, besetzt hatten und
auch, wie stark die Einheit war.
Die Lagune, an der Hakuks Clan wieder seine Grashütten gebaut hatte, war
wunderschön. Sie war groß und rund, und in
der Mitte lag eine kleine Insel. Die Paraguayer waren bereits da gewesen,
und sie hatten ihr den Guaraninamen Curucao
gegeben. Doch Hakuk fühlte sich hier vorerst unbehelligt. Noch am Tag der
Ankunft hatten die Frauen die Hütten fertiggestellt.
Sie lehnten große Äste aneinander und warfen dann Büschel von Bittergras
darüber, so lange, bis ein dichtes Dach entstand.
Den Boden bedeckten sie ebenfalls mit Gras, und darauf legten sie die
gegerbten Felle vom Spießhirsch. Es war wieder wie bei
der Lagune Popyit Amyip, und abends brannte bereits das Lagerfeuer im Rund
der Hütten.
Noch war dem Häuptling Hakuk nicht bewusst, dass er vom Regen in die
Traufe gezogen war. Noch glaubte er, in dem
neuen Revier, das er in Besitz genommen hatte, Herr zu sein. Hier würde
die ganze Sippe genug Jagdbeute und Früchte der Natur
finden. Die Volay waren immerhin fast eine Tageswanderung weit weg, und
die Frauen konnten ungehindert Wasser an der
Lagune schöpfen, ohne befürchten zu müssen, von Soldaten belästigt zu
werden.
Hakuk wusste nichts von der Strategie der beiden Staaten, die Anspruch auf
die Jagdgebiete der Chacoindianer erhoben,
und er hatte keine Ahnung davon, dass er in einem strategischen
Niemandsland lagerte. Er wusste auch nicht, dass sein
Name bereits eine wichtige Rolle im Ablauf der Ereignisse zu spielen
begonnen hatte.
Er sollte bald noch mehr erfahren. Um diese Zeit waren nämlich, vom großen
Fluss im Osten her kommend, in langen
Karawanen Einwanderer in diese Gegend gelangt. Auf einem Streifzug nach
Norden hin blieben Hakuk und seine Männer plötzlich
wie angewurzelt am Buschrand eines großen Kampes stehen. In knapp hundert
Metern Entfernung sahen sie Wohnungen, wie
sie weder die Indianer noch die Volay bauten, Wohnungen mit schwarzen
Fenstern und Türen und manche mit glänzenden
Dächern. Drumherum sahen sie Männer, Frauen und viele Kinder in
merkwürdiger Kleidung und mit großen Hüten auf dem Kopf.
Sie konnten die weiße Hautfarbe erkennen, und sie hörten unverständliche
Laute und fröhliches Lachen. Sie waren auf das
Dorf gestoßen, das die mennonitischen Einwanderer Ebenfeld genannt hatten.
Keiner der Männer sagte ein Wort. Sie blieben eine Weile betroffen stehen.
Ihr Weltbild war zu begrenzt, um zu erfassen, was
nun um sie herum vor sich ging. Sie hatten keine Ahnung von dem fernen
Land Bolivien, nicht einmal von Asunción, der
Hauptstadt des Landes, zu dem sie politisch gehören sollten. Man hätte
ihnen schwer klarmachen können, dass diese Menschen hier
auf dem schönen Kamp, auf dem sie gerade Spießhirsche jagen wollten, aus
Kanada gekommen waren, schon vor einem Jahr,
und dass sie in schwierigen Etappen vom Hafen Casado am Paraguayfluss her
in den Chaco vorgedrungen waren, um hier ihre
Dörfer anzulegen und den Boden zu pflügen.
Hakuk gab seinen Männern ein Zeichen, und alle zogen sich lautlos in den
dichten Busch zurück. So viel hatten sie
begriffen, dass im Westen, im Osten und nun auch im Norden andere Menschen
da waren, die sich wenig darum zu kümmern schienen,
wo die Lenguas ihr Wasser holen und ihre Pekaris und Spießhirsche jagen
sollten.
Hauptmann Florentín war enttäuscht und betroffen, als seine Männer die
Grashütten des Kazike Carayá verlassen vorfanden.
Es war unschwer festzustellen, dass der Clan nach Osten abgezogen war, in
Richtung Isla Po'i, wo sich der Feind festgesetzt
hatte. Die Paraguayer würden über diesen neuen Stützpunkt, der sich tief
in das gedachte Niemandsland vorgeschoben hatte,
schneller Bescheid wissen als erwartet, und Kazike Carayá war der
Verräter, darüber gab es keinen Zweifel.
Jetzt war Eile geboten. Es mussten doch wenigstens einige Hütten gebaut
und Schützengräben ausgehoben werden,
damit diese Lagune als besetztes Territorium gelten konnte, und sie musste
einen authentischen Namen haben. Hauptmann
Florentín nannte die Lagune Huijhay. Das war ein Ketschuaname aus dem
Altiplano, und damit sollte die Besitznahme durch
Bolivien symbolisiert und legitimiert werden. Stafetten meldeten die
Einnahme der Lagune und den neuen Namen im Fortín Arce
und dann bei der nächsten Dienststelle in Saavedra. So wurde das neue Fort
nun auch in die Karte des bolivianischen
Oberkommandos in Muñoz eingetragen.
Hauptmann Florentín war auf alles gefasst, denn die Feindseligkeiten
zwischen den beiden Ländern hatten sich
inzwischen solcher Spannung gesteigert, dass scharf geschossen wurde, wenn
man sich begegnete. In den Fortines Sorpresa im Süden
und Vanguardia im Norden war bereits Blut geflossen.
Die gleiche nervöse Spannung, die sich in dem neuen Fortín Huijhay gleich
nach seiner Gründung breit machte, zeigte sich
auch im paraguayischen Oberkommando in Isla Po'i, und beides hatte der
Kazike Carayá verursacht, ohne es zu wollen.
Paraguays Heeresführung durfte es unmöglich dulden, dass der Gegner seinen
Fuß so weit nach Osten hin setzte. Der
Hauptmann Valentín Morínigo, erst vor einigen Wochen mit seiner Kompanie
aus Asunción eingetroffen, erhielt den Befehl, mit
einer Einheit von sechzig Mann auf jenen Stützpunkt Boliviens vorzustoßen
und ihn in Besitz zu nehmen, koste es, was es wolle.
In einer langen Reihe, denn es gab nur Indianerpfade, machte sich Morínigo
mit seinen Reitern auf den Weg nach Westen.
Bei der Lagune Curucao machten sie Halt. Morínigo wusste bereits um das
Lager der Lenguas hier, und Kazike Carayá war
im paraguayischen Oberkommando dem Namen nach gut bekannt. Wieder
flüchteten die Frauen in die Hütten, als die vielen
Reiter auftauchten. Die Soldaten umringten das Lager, lachten und machten
wilde Scherze, doch die Lenguas konnten ihr Guaraní
nicht verstehen. Morínigo gebot Ordnung, und die Reiter mussten sich in
respektvollen Abstand zurückziehen. Dann überreichte
er dem Häuptling ein großes Bündel Tabak, ein Messer mit einem
buntverzierten Griff und einen Poncho. Hakuk war
überwältigt von den Herrlichkeiten.
Dann stellte Morínigo gezielte Fragen, und die beiden konnten sich durch
Zeichen und Worte verständigen. Hakuk begriff,
dass es um seine Lagune Popyit Amyip ging, und dass der Offizier alles
über die Besatzer dort wissen wollte, ihre Zahl, ob sie
beritten seien und was für Waffen sie hätten. Hakuk gab gern Auskunft.
Warum auch nicht? Auch diese Männer nannten ihn
Kazike Carayá, und er war bereits stolz auf diesen neuen Namen. Sie hatten
ihn beschenkt, und der Hauptmann deutete an, dass
die anderen Reiter vertrieben werden würden und dass die Lenguas wieder
zurück zu ihrer Lagune kommen könnten.
Hauptmann Morínigo hatte jedenfalls feststellen können, dass seine Einheit
zahlenmäßig in der Übermacht war. Doch
wahrscheinlich musste er beim Gegner mit Maschinengewehren rechnen, und
das könnte gefährlich werden. Der Verteidiger
im Schützengraben mit einem Maschinengewehr war immer im Vorteil. Doch
Eile war geboten; denn je mehr Zeit er dem Gegner
ließ, desto besser konnte der seine Verteidigungsstellung ausbauen. Der
Vorstoß musste beginnen.
Es war ein mühsamer Ritt. Die engen Indianerpfade führten durch dichtesten
Busch, und oft mussten die Reiter ihre Pferde
am Zügel führen. Die dornigen Sträucher, die den Pfad versperrten,
zerrissen die Uniformen und die Bromelien und Kakteen
am Boden das Schuhzeug. Erst am Vormittag des dritten Tages näherten sie
sich ihrem Ziel. Sie trafen auf den ersten Vorposten,
der völlig überrascht war und beim Anblick der Übermacht keinen Versuch
zur Verteidigung machte. Die drei bolivianischen
Soldaten waren schnell entwaffnet, und sie gaben ohne Widerstand Auskunft
über die Truppenstärke und Bewaffnung. Die
Paraguayer erfuhren auch, dass das neue Fortín von den Bolivianern Huijhay
genannt wurde.
Hauptmann Morínigo war ein Mann kühler Überlegungen. Er kannte seine
Männer nun schon, und ihr Geschick lag ihm
am Herzen. Die meisten waren achtzehnjährige Burschen, die gerade im Zug
der steigenden politischen Spannungen
eingezogen worden waren, ohne ausreichende Ausbildung, doch verwegen und
unvorsichtig. Sie brannten auf einen Angriff. Am
Lagerfeuer, an dme immer auch eine Gitarre erklang, hatten sie die alten
Lieder aus dem großen Dreibundkrieg vor nun fünfzig
Jahren gesungen, in denen der Heldentod des Marschalls López gepriesen
wurde. „Sieg oder Tod", das war ihnen von der Schule
her in Fleisch und Blut übergegangen, und so stand es nun auch auf dem
Koppelschloss ihrer olivgrünen Uniform.
Morínigo versammelte seine Leutnants um sich. „Wir werden dem Gegner
freien Abzug anbieten. Vielleicht können wir
unnötiges Blutvergießen vermeiden," sagte er, und er rief den Leutnant
Dionisio Bareiro nach vorn. „Sie nehmen zehn Mann
ihres Zuges. Diese bolivianischen Soldaten werden sie zum Fortín führen.
Dort fordern Sie, mit Hauptmann Abel Florentín
sprechen zu wollen. Sie bieten freien Abzug an und geben sechs Stunden
Zeit. Nach Ablauf der Frist werden wir angreifen."
„Zu Befehl", sagte Leutnant Bareiro und salutierte. Er war stolz auf
diesen ersten Auftrag an der bisher nur gedachten
Frontlinie, und er wusste, dass seine Mission nicht ungefährlich war.
Der Stoßtrupp brach auf. Es waren noch fünf Kilometer bis zur Lagune. Sie
ritten im Schritt; denn bis an das Fortín führten
nur enge Pfade. Etwa fünfzig Meter vor den Hütten, die inzwischen
errichtet worden waren, blieben sie stehen, und der Leutnant
gab Zeichen, dass er eine Unterredung wünsche. Zehn bewaffnete Männer
kamen heraus und führten Leutnant Bareiro ins
Lager. Zwei selbstbewusste Männer standen sich hier zum ersten Mal
gegenüber, Leutnant Dionisio Bareiro aus Asunción
und Hauptmann Abel Florentín aus La Paz, Männer aus zwei Welten hier an
der Lagune im Chacobusch. Sie wussten nicht, dass
sich ihre Wege noch zweimal kreuzen würden, unter ganz anderen Umständen.
Die Information Bareiros war knapp. Die drei bolivianischen Soldaten
bestätigten die Truppenstärke des Gegners. Der
Hauptmann akzeptierte die Bedenkzeit von sechs Stunden. Beide salutierten,
und Leutnant Bareiro trat mit seinem Zug den
Rückweg an. Er spürte die Blicke der überraschten Gegner in seinem Rücken,
und er wusste, dass diese Situation nicht ungefährlich
war. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Leutnant Rojas Silva ein
ähnliches Unternehmen beim Fortín Sorpresa mit seinem
Leben bezahlt. Eine Kugel im Rücken hatte ihn getötet.
Doch Leutnant Dionisio Bareiro wusste damals noch nicht um die ritterliche
Gesinnung des Hauptmanns Abel Florentín.
Auch er, ebenso wie Hauptmann Valentín Morínigo, verabscheute sinnloses
Blutvergießen. Dazu wäre es bei einem Gefecht
aber unweigerlich gekommen, und damals hoffte man noch darauf, dass der
Grenzkonflikt zwischen Paraguay und Bolivien
am Konferenztisch der Neutralen gelöst werden könnte.
Als Hauptmann Morínigo sich mit seinem Stoßtrupp am späten Nachmittag
vorsichtig der Lagune näherte, fanden sie
den Stützpunkt verlassen vor. An den umgelegten Fahnenmast befestigten
seine Soldaten die rotweißblaue Fahne und richteten
ihn auf. Der Hauptmann ließ seine Truppe antreten, lobte sie für ihre
Unerschrockenheit und Besonnenheit und erklärte die
Lagune für rechtmäßigen paraguayischen Besitz.
„Sie heißt nun nicht mehr Huijhay", verkündete er feierlich, „sondern
Kazike Carayá, zu Ehren jenes Häuptlings, der
uns rechtzeitig gewarnt und so gut informiert hat. Kazike Carayá soll mit
seiner Sippe wieder hierher ziehen, und wir wollen ihn,
seine Sippe und sein Jagdgebiet respektieren."
Der Hauptmann ließ den Leutnant Bareiro am nächsten Morgen mit dreißig
Mann in dem Fortín, das nun kurz Carayá
genannt wurde, und er kehrte nach Isla Po'i zurück. Bei der Lagune Curucao
machte er Halt und versuchte Hakuk verständlich zu
machen, dass er mit seinem Clan wieder an seine Lagune zurückkehren
könnte. Er sagte ihm auch, dass die Lagune nun Kazike
Carayá heiße, und er klopfte dem Häuptling dabei wieder respektvoll auf
die Schulter. Hakuk fühlte sich geehrt, und er war glücklich.
Die ganze Sippe zog nun wieder zu ihrer Lagune zurück. War es der Zug in
die vertraute Umgebung, die ihn das
Wagnis unternehmen ließ? Die einzelnen Sippen hatten ihre gegenseitig
respektierten Jagd- und Sammelgebiete, und Hakuk gehörte
in die Gegend von Popyit Amyip. Oder war es die Unsicherheit, die sich nun
um ihn herum immer stärker abzuzeichnen schien,
im Westen, im Osten und im Norden? Nach einer Woche jedenfalls näherte
sich die Sippe wieder ihrer Lagune Popyit
Amyip. Allerdings war Hakuk misstrauisch, trotz der Anerkennung und der
Zusicherung durch den paraguayischen Hauptmann,
und sie zogen nicht mehr in die verlassenen Grashütten, sondern bauten
sich neue in weiterer Entfernung.
Das Nebeneinander von Soldaten und Indianern war um diese Zeit noch nicht
so spannungsgeladen, wie zwei Jahre
später. Dennoch, hier standen sich zwei Kulturen, zwei Lebensweisen, zwei
Denkweisen gegenüber.
Hier die Indianer, sozusagen unberührt in ihrem Urzustand, von der Jagd
und vom Sammeln lebend, in einer Weise, wie sie
es tausend oder mehr Jahre gepflegt hatten. Die Frauen und Mädchen kamen,
nur mit einem Lendenschurz bekleidet, ungeniert
mit nacktem Oberkörper an das gegenüber liegende Ufer der Wasserstelle,
als Hakuk ihnen versichert hatte, dass ihnen keine
Gewalt angetan werden würde. So hatte es ihm der Hauptmann Morínigo
zugesichert.
Dort die jungen Soldaten voller Lebens- und Abenteuerlust, die schon
monatelang ein normales gesellschaftliches
Leben entbehrt hatten, und die sich in der Eintönigkeit der Tage hier im
fernen dichten Busch langweilten. Doch Leutnant Bareiro
hielt