Vorträge | Jahrbuch 2003
Errungenschaften und Herausforderungen im multikulturellen Zusammenleben
(1)
Gundolf Niebuhr
(2)
Resümee
Bei ihrer Einwanderung in den paraguayischen Chaco sahen die
Russlandmennoniten sich sowohl einer
feindlichen Natur als auch einer ganz unbekannten Kultur
gegenübergestellt. Die indianische Bevölkerung bestand
aus nomadisierenden Gruppen von Jägern und Sammlern. Die feste religiöse
und missionarische Überzeugung
der Einwanderer zusammen mit ihrem Pioniergeist leitete eine lange und
kontinuierliche Erfahrung des
Miteinanders ein. Heute kann man, rückschauend auf gut sieben
Jahrzehnte, einige Merkmale dieses Miteinanders
hervorheben, die von allgemeinem Interesse sein könnten. In einem neuen
Kontext der Globalisierung einerseits und der
Neubelebung von kulturellen Minoritäten andrerseits ist es gewiss
wichtig, über Kriterien für ein harmonisches
Miteinander nachzudenken.
I. Der Chaco, unerforschtes Gebiet
Es ist ein kurioser Tatbestand der Geschichte, dass der Chaco, sowohl der
argentinische als auch der paraguayische, erst spät
ins Blickfeld der Geschichte rückt, praktisch erst in der zweiten Hälfte
des 19. Jh. In den achtziger Jahren fand man in Filadelfia und
in Dorf Blumental drei Münzen aus der Zeit des Kaisers Maximilian, gegen
Ende des 15. Jh. Sie lagen etwa 40 cm tief in der Erde.
Die Funde waren natürlich eine Sensation. Die beste Hypothese, die man
aufstellen konnte, war die, dass diese Münzen mit den
ersten spanischen Expeditionen mitkamen, die den Chaco ab 1535, auf der
Suche nach dem legendären Inkareich durchquerten. Die eine
oder andere Gruppe dieser Abenteurer mag genau durch die Zone gezogen
sein, in der später die Kolonien angelegt wurden.
Die nachfolgende Geschichte bestätigt jedoch, dass der Chaco für jene
ersten Eroberer weiter nichts war als ein großes
Hindernis, welches zwischen dem Fluss und dem begehrten Gold des
Inkareiches lag. Jedenfalls geriet der Chaco weitgehend in
Vergessenheit, nachdem die Schätze in Peru geplündert waren. Die
kolonialen Regierungen zeigten für diesen Landstrich kein Interesse. Es
war Territorium der „wilden Indianer". Außer sporadischen
Strafexpeditionen gegen die kriegerischen Payaguas bestand kein
Grund, westlich des Flusses den Fuß an Land zu setzen.
Erst um 1870, nach Ende des Dreibundkrieges sollte sich diese Sachlage
langsam ändern. Die verarmte Nation musste sehen,
Gelder in die Staatskasse zu bekommen. Große Landstriche wurden dazu
verkauft, sowohl an die argentinische Firma Carlos Casado als
auch an die in New York angesiedelte Corporación Paraguaya. Missionarisch
gesehen, dehnte die anglikanische Kirche ihre Arbeit
im argentinischen Chaco aus, um auch die Toba und Südlengua im
paraguayischen Chaco zu erreichen. 1889 wurde die erste
permanente Station „Maklhavay" nahe beim heutigen Pozo Colorado gegründet.
Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. machte
der bekannte Missionar W. B. Grubb seine ausgedehnten Reisen durch den
südlichen Chaco. Sein ethnographisches Werk „An
unknown people in an unknown Land" wurde ein Klassiker der frühen
Völkerkunde. Um ihre hundertjährige Präsenz im Chaco zu feiern,
haben die Anglikaner 1989 dieses Werk in Spanisch herausgebracht. Kurz, zu
Beginn des 20. Jh. hatte der Kolonisationsprozess
kaum begonnen. Die wenigen Holzfäller, Estancieros und Missionare sahen
sich mit einem „unbekannten Land" konfrontiert, dessen
Bevölkerung noch erst sehr spärlich bekannt war.
II. Mennonitische Kolonisation
Obwohl noch weitgehend unbekanntes Land, wurde der Chaco zu Beginn des 20.
Jh. wichtig, eben weil es genug
Land gab. 1920 sandten kanadische Mennoniten eine Expedition aus
zur Suche nach geeignetem Land für die Kolonisation. Die
unterschiedlichen religiösen und kulturellen Beweggründe dazu sind
anderswo
festgehalten.
(3)Diese
Expedition kam zu dem Entschluss dass der
zentrale Chaco für die Landwirtschaft geeignete Böden aufwies und somit
potenzielles Siedlungsland sei. Ein sehr optimistischer Bericht
der Expedition an die Auftraggeber in Kanada war dann maßgeblich bei der
Entscheidung eines Teiles der dortigen Mennoniten,
ihre Bauernhöfe drüben zu verkaufen und nach Paraguay überzusiedeln. Im
Jahr 1927 kam so die Kolonie Menno zustande.
Drei Jahre später kam eine weitere Gruppe, die durch den Stalinterror in
der Sowjetunion vertrieben worden war. Sie legten
ihre Kolonie, Fernheim, westlich der Kolonie Menno an. Die
Lebensbedingungen waren noch sehr prekär, die Möglichkeit einer
Kolonisation auf Dauer noch gar nicht bewiesen. Das MCC in den USA sah
sich jedoch gezwungen, dieses Siedlungsexperiment zu wagen,
weil es im Moment keine andere Alternative gab. Die ursprüngliche
Ausdehnung von Menno und Fernheim umfasste etwa 1200
qkm zwischen 59°20'- 60°10' westlicher Länge und
22°10'- 22°30' südlicher Breite. Hier siedelten ca. 3.700 Personen. Diese
Zone war
zu etwa 85% mit dem typischen Dornbusch des Chaco bedeckt, 15% der Fläche
machten die offenen Graskämpe mit ihrem
sandigen Boden aus. Auf diesen wurden die Dörfer angelegt. Die
Landwirtschaft der ersten Jahrzehnte beschränkte sich auch auf diese
Fläche.
III. Indianische Völker im Chaco
Bei der Ankunft der Siedler war die erwähnte geographische Zone Teil der
großen Jagdgründe der Nord-Lengua (Enlhet), die,
wie andere Gruppen, zur Sprachfamilie der Maskoy zählten. Niemand hat in
den ersten Jahren eine Zählung unternommen.
Verschiedenen Schätzungen zufolge könnten es zwischen 600-800 Personen
gewesen sein, die sich, aufgeteilt in kleinen Clangruppen, auf
diesem Gebiet bewegten, wie es für Jäger und Sammler üblich war. Der
Chacokrieg zwischen 1932 und 35 reduzierte diese Zahl
beachtlich, vor allem durch eingeschleppte Grippe- und Pockenepidemien.
Nach Kriegsende begann erneut ein langsames
demographisches Wachstum.
Derselbe Krieg war auch der Anlass für die Verschiebung vieler
Guaraníindianer aus der subandinen Zone Boliviens in den Chaco.
Da sie Guaraní sprachen, wurden sie pro-paraguayischer Neigungen
verdächtigt und von den Bolivianern angefeindet. So
wanderten verschiedene Gruppen denn langsam in den zentralen Chaco und
wurden in den und um die Mennonitenkolonien sesshaft.
Die Nachricht von den weißen Siedlern erreichte auch Nivaclé-Gruppen
entlang des Pilcomayo. Sie lebten teils vom Fischfang,
der aber nur zu einer gewissen Jahreszeit ergiebig war. Viele von ihnen
fassten den Entschluss, in der an Nahrungsmitteln knappen
Jahreszeit die Kolonien aufzusuchen, um als Saisonarbeiter etwas zu
verdienen. Rechtzeitig für den Fischlauf waren sie dann wieder
zurück am Fluss. Nach etwa 15 Jahren solch periodischer Wanderungen,
entschlossen sich viele dazu, definitiv im Gebiet der Kolonien
zu bleiben, denn der Arbeitsmarkt schien eine bessere Existenz zu
garantieren.
(4)
Der ganze nördliche Chaco war das Gebiet der Ayoreos und Chamacocos, Teil
der Zamuco-Sprachfamilie. Die Kontakte mit
diesen Gruppen kamen erst später zustande und waren anfänglich sehr
gespannt. Von sich aus suchten sie nicht den Kontakt, aber es gab
seit 1945 ein rücksichtsloses Eindringen von seiten amerikanischer
Ölfirmen ins Kernstück ihrer Jagdgründe. Durch die Präsenz
schwerer Maschinen sowie von Bohrtürmen, fühlten sie sich bedroht. 1946
gab es den ersten Angriff gegen einen Lkw der Bohrfirma und
im Jahr darauf den ersten Angriff auf mennonitische Siedler. Im folgenden
Jahrzehnt wiederholten sich solche Angriffe sporadisch.
Sie richteten sich auch gegen Gruppen der Lenguaindianer, die am Nordrand
der Kolonie Fernheim lebten.
In den sechziger Jahren verlor die Tanninindustrie am Paraguayfluss
zunehmend an Bedeutung. Der Transchacoweg machte
den Flussverkehr für die Kolonien überflüssig, und so verloren viele dort
angesiedelte Indianer ihre Arbeit. Gruppen der Toba,
Sanapaná und Angaité, die am Beginn des Jahrhunderts aus dem östlichen
Chaco an den Fluss gezogen waren, begannen wieder einen
Marsch landeinwärts. Obwohl sie eigenes Siedlungsland suchten, mussten
viele von ihnen als Peones (Hilfsarbeiter) auf den Estancias
ihren Lebensunterhalt verdienen.
Die Asphaltierung des Transchacoweges brachte eine wirtschaftliche
Konsolidierung der drei Chacokolonien mit sich. Der Weg
erleichterte nun auch die Erschließung großer Teile des Chaco für die
Viehzucht. Somit haben wir während der letzten zwei
Jahrzehnte ein interessantes demographisches Wachstum. Menschen aus
Ostparaguay, aus Brasilien, Ausländer aus Deutschland, Schweiz
oder Frankreich sind im Chaco ansässig geworden. Filadelfia, das Zentrum
der Kolonie Fernheim, hat zur Zeit ca. 2.700
deutschsprachige Einwohner, 2.500 Indianer und 1.300 Lateinparaguayer und
Brasilianer.
Zusammenfassend, haben wir eine ziemlich kontinuierliche Zuwanderung in
den zentralen Chaco zu verzeichnen, die über
Jahrzehnte die Zusammensetzung veränderte und die Anzahl der Bevölkerung
wachsen ließ. Die kulturelle Vielfalt ist erstaunlich. Harald
Prince, Anthropologe der Universität Kansas bemerkte bei einem Besuch vor
einigen Jahren, dass man unser Bevölkerungsbild nur als
bizarr bezeichnen könnte.
IV. Das Klima des Zusammenlebens
Dass es bei einer solchen kulturellen Mischung offene Fragen, gelegentlich
auch Spannungen gibt, ist nicht zu vermeiden. Die
vielen Touristen, welche die Kolonien besuchen, machen ihre Beobachtungen
und kommentieren manchmal kritisch, manchmal lobend.
Fast alle bemerken das Potenzial für Konflikte, welches, vor allem in
Situationen der Wirtschaftskrise, steigen kann.
Die ganze Situation zu analysieren ist hier
unmöglich.
(5)Im
Folgenden möchte ich auf das Zusammenleben von Mennoniten
und Indianern eingehen, um einige Kriterien für das Miteinander
hervorzuheben.
Die mennonitischen Einwanderer brachten eine feste missionarische
Überzeugung mit in den Chaco. Sie brachten diese von
Russland mit. Im Kontext der religiösen Neubelebung im späten 19. Jh. war
das missionarische Bewusstsein gewachsen. Die
katastrophalen Ereignisse nach der Revolution, die fast einem Ethnozid
glichen und zu Flucht und Auflösung ihrer Kolonien in Russland
führten, wurden von manchen Personen als eine Strafe Gottes angesehen,
weil man in Russland selbstzufrieden gelebt hatte, ohne zu
missionieren. Deshalb habe Gott sie mit so gewaltsamen Mitteln in den
fernen Chaco kommen lassen, damit sie hier ihrem Auftrag
nachkommen könnten. Die Indianer andererseits, ihre neuen Nachbarn, waren
noch nie mit dem Evangelium erreicht worden. Das
Missionswerk hätte schon 1932 begonnen, wurde aber wegen des Krieges bis
1935 verschoben.
Der ganze Missionsprozess hatte natürlich eine komplizierte Dynamik. Hier
sollen nur zwei Etappen beschrieben werden, die sich
im Rückblick ausmachen lassen, und eine dritte, die sich gegenwärtig
anbahnt und möglicherweise die Herausforderung der
nächsten Jahre bilden wird. Selbstverständlich gibt es keine klaren
Grenzen zwischen den Etappen - es sind Generalisierungen der
historischen Betrachtungsweise.
Die ersten 30 Jahre waren geprägt von einer paternalistischen
Missionierung, die zu der Zeit allgemein üblich war. Man
gründete Missionsstationen und versuchte, die Indianer sesshaft zu machen,
indem man gewisse Dienste anbot wie Gesundheit,
Alphabetisierung und Beratung im Gartenbau und in der Landwirtschaft.
Meist wurden die Indianer auf der Mission beschäftigt. Sie arbeiteten
im Angestelltenverhältnis, selbst wenn die Arbeit auf ihrem eigenen Land
durchgeführt wurde. Ein Laden mit Lebensmitteln versorgte
die Mitglieder der Station, so dass die Jagdzüge überflüssig wurden. Der
Missionar auf einer solchen Station war nicht nur Prediger
des Evangeliums, sondern auch Betriebsleiter, Erzieher, oft sogar
Krankenpfleger.
Nach 15 Jahren der Missionsarbeit bildete sich die erste indianische
Gemeinde, deren Wachstum dann schnell weiterging.
Anthropologen haben diese Phase im Rückblick als Akkulturation bezeichnet,
wo die Jäger und Sammler ihren „Frieden" mit der neuen
Lebenssituation schlossen. Sie akzptierten die Tatsache, dass die Weißen
mit ihrer Religion offenbar dominant sein
würden.
(6)
Die so bekehrten Indianer nahmen die ihnen gepredigte Botschaft in mancher
Hinsicht sehr buchstäblich. „Bekehrung -
Umkehr" verstanden sie als totale Verwandlung des Lebens. Logischerweise
wollten sie ab jetzt so leben wie die Mennoniten, die ihnen das
neue Leben gepredigt hatten. Dazu brauchten sie zuerst einmal eigenes
Land, landwirtschaftliches Gerät, Beratung, Schulen und
manches mehr. Diese Bedürfnisse entsprachen in Wirklichkeit ganz gut den
Erwartungen der Mennoniten, denn man war ausdrücklich
bestrebt, die Indianer mit Hilfe eines Entwicklungsprozesses in die
nationale Gesellschaft zu integrieren. So sah es das ursprüngliche
Missionsstatut vor, so hielt man es für wünschenswert und möglich. Die
Arbeit des gesamten Missionswerkes wurde daraufhin
umstrukturiert, um ganzheitliche Hilfe für die Entwicklung anzubieten. Die
für diesen Prozess zuständige Behörde nannte sich zuerst ISB
(Indianer-Siedlungs-Behörde) dann IBB (Indianer Beratungs Behörde) und
heute ASCIM (Asociación de Cooperación Indígena
Mennonita). Zusätzlich wirken heute eine Reihe von Regierungs- und
Nicht-Regierungsorganisationen an diesem Prozess mit. Informelle
Hilfen, welche viele Arbeitgeber ihren Angestellten zukommen lassen,
machen einen beachtlichen Teil dieser Entwicklungshilfe aus.
Dieses massive Unternehmen hat heute zu einer beeindruckenden
Infrastruktur geführt. Es hat ohne Zweifel viel dazu beigetragen,
das Zusammenleben friedlich zu strukturieren. Und trotzdem gibt es heute
auf beiden Seiten Enttäuschungen und Ressentiments.
Die Strategie der Entwicklung war vom anthropolgischen Standpunkt aus
gesehen, nicht immer optimal. Das friedliche
Zusammenleben hat nicht zu einer Beseitigung des Ethnozentrismus geführt.
Mehr noch, das numerische Wachstum hat es neuerdings
unmöglich gemacht, alle indianischen Gemeinschaften in den genannten
Entwicklungsprozess einzubinden. Manche warten auch heute noch
auf eigenes Land, um eine Existenzbasis aufzubauen. Offene Fragen in Bezug
auf die jetzige Form der Zusammenarbeit gibt es sowohl
bei Indianern als auch bei Mennoniten. Unter den Indianern, nicht nur in
Paraguay, ist ein erwachendes Interesse an ihrem Kulturerbe
zu verzeichnen. Viele Gruppen fragen heute kritisch, welche Auswirkungen
die ihnen angebotenen Entwicklungsprogramme auf
ihre Kultur haben. Sie verlangen mehr Beteiligung an der Konzeption und
Durchführung solcher Programme. Sie möchten autonomer
über die Richtung ihres kulturellen und wirtschaftlichen Wandels
entscheiden. Das heutige politische Klima weltweit begünstigt die
Konsolidierung von kulturellen Identitäten, obwohl bislang viele
Entwicklungsansätze immer noch davon ausgehen, dass kulturelle
Minderheiten in die nationale Gesellschaft integriert werden müssen. Allzu
oft ist eine solche Integration für die Indianervölker aber
eine Absorption gewesen, bei der sie ihre Eigenständigkeit aufgeben
mussten. Alte Sitten erfahren heute jedoch wieder mehr Beachtung.
Es sind z.B. auch im Chaco gezielte Anstrengungen da, die Muttersprache zu
stärken. Mit einer bewusst gesprochenen und
geschriebenen Muttersprache werden eine Vielzahl kultureller Werte
ihrerseits gestärkt, die schon in Vergessenheit zu geraten schienen. Diese
Tendenz, an sich recht begrüßenswert, schafft eine ganz neue und
herausfordernde Situation für die Chacobewohner, denn sie
manifestiert auch die Unzulänglichkeit aller Entwicklungsprojekte, die zum
„melting pot" hin tendierten, d. h. zur Einschmelzung
kultureller Eigenart zugunsten einer mehr europäischen Gesellschaft. Da
sozio-kulturelle Prozesse oft unterschwellig laufen, sind sie nicht
so leicht identifizierbar. Vielen Bewohnern im Chaco mag es daher noch
nicht voll bewusst sein, dass sich eine neue soziale
Konstellation bildet, die höhere Ansprüche an unser kulturelles
Selbstbewusstsein sowie an die Toleranz gegenüber anderen Ethnien
einfordert.
Kurz gesagt, die Situation des multikulturellen Lebens lässt sich mit den
herkömmlichen Entwicklungsstrategien weder ignorieren
noch ausbügeln. Zu oft wird eine solche Feststellung von Seiten der
dominanten Gesellschaft als ideologische Beeinflussung von außen
her abgetan. Die gibt es sicher auch, aber mir scheint, dass wir es hier
mit einer kulturellen Dynamik zu tun haben, die zutiefst in
der menschlichen Natur wurzelt. Diese Einsicht möchte uns davor warnen,
bei unseren Entwicklungsprojekten allzu naiv auf
Wandel, Integration und Fortschritt zu drängen.
V. Dynamik kultureller Prozesse
In der Kulturanthropologie sind verschiedene Theorien entstanden, um die
sozio-psychologische Struktur einer Kultur zu
verstehen und die Veränderungen in diesem komplizierten Gebilde zu
analysieren. Besonders der Prozess der Akkulturation ist oft
analysiert worden, weil gerade im amerikanischen Raum die indianischen
Kulturen durch die Invasion der Europäer das Feld räumen mussten,
da sie als technisch minderwertig oder unentwickelt galten. Die
anthropologische Literatur zu diesem Thema ist sehr umfangreich, so
dass man den „Wald vor lauter Bäumen" kaum sieht.
Die missionarische und soziale Arbeit der Mennoniten unter den Indianern
wurde 1965 von dem Anthropologen Jacob Löwen
bewertet. Er verbrachte sechs Monate auf dem Feld, studierte die Kulturen
der Nivaclé und Enlhet und bot für die weitere
Arbeitsweise technische Beratung an. Es gab eine prinzipielle
Bereitschaft, sich differenziertere Kenntnisse anzueignen. Ab 1973 hat die
ASCIM einen Anthropologen auf vollzeitiger Basis angestellt, Wilmar Stahl,
dessen Tätigkeit das gesamte Entwicklungsprogramm
sensibler gemacht hat für Formen der Kommunikation, die im
transkulturellen Rahmen beachtet werden wollen. Diese und ähnliche
Bemühungen lassen vermuten, dass Ansätze zu einem kritischen kulturellen
Selbstbewußtsein da sind, sowohl unter Mennoniten als auch
bei den Indianern. Die Fähigkeit zur Kommunikation hat zweifellos auch
zugenommen.
Man muss jedoch fragen, wie die größeren Kenntnisse die Struktur der
Entwicklungsprojekte beeinflusst haben. Oft ist es so,
dass solche Kenntnisse lediglich umgesetzt werden, um herkömmliche, auf
„Integration" gerichtete Projekte „effektiver" zu machen.
In manchen Fällen muss man beobachten, dass kulturelle Minderheiten
dadurch noch stärker den Interessen anderer
Menschengruppen ausgesetzt sind, die sie verändern wollen. Das ist sicher
nicht in allen Fällen so, aber der springende Punkt, auf welchen hier
verwiesen werden soll, ist der, dass die Ausrichtung bei den europäischen
Einwanderern welche die Entwicklung bringen wollten, nicht
die tiefgehenden Veränderungen erlebte die man hätte erwarten dürfen. Die
Erwartung der mennonitischen Kolonisten (dasselbe gilt
für die nationale Gesellschaft) bleibt ausdrücklich oder implizit die,
dass die Indianerkulturen ein vorübergehendes Phänomen
darstellen - etwas das verschwinden wird und verschwinden muss, selbst da
wo man zugibt dass sich auch positive Elemente darin finden.
Man geht normalerweise davon aus, dass die Indianerkulturen ungeeignet
sind, um sich in die nationale Gesellschaft sowie in die
Marktwirtschaft und in die christliche Kirche zu integrieren. Oft sind sie
ausdrücklich als Hindernis gesehen worden, das man hierzu
überwinden muss.
Eine berechtigte Kritik zu dieser Auffassung kommt aus dem offenbar zu
beobachtenden Prozess des Kulturwandels selbst.
Falls solche tiefgreifenden kulturellen Veränderungen eine natürliche
Notwendigkeit wären um sich neuen Bedingungen anzupassen,
wären sie möglicherweise schon vollzogen. Stattdessen beobachten wir eine
ziemliche Stabilität der indianischen Kulturen und
heutzutage sogar eine Neubelebung. Das dürfte es der weißen Gesellschaft
nahelegen, dass Indianer
mit ihrer Kultur sehr wohl neuen
Umständen begegnen können, welche das Zusammenleben heute mit sich bringt.

Die folgenden Grafiken
(7)
sind gelegentlich benutzt worden um zu zeigen, wie verschiedene kulturelle
Elemente in einer
Gesellschaft oder einer Einzelperson verwurzelt sind.
Die Weltanschauung, die Werte, die religiösen Empfindungen bilden die
tiefsten Schichten der menschlichen Psyche. Natürlich
kann man von Wandel und Anpassung in jeder Kultur sprechen. Auch die
Mennoniten haben sich im Laufe der 75 Jahre in
Paraguay verändert und angepasst. Sprachlich gesehen, gibt es inzwischen
viele spanische oder auch Guaraníwörter in unserem
Vokabular. Manche Sitten und Werte sind aus der paraguayischen Kultur
übernommen worden. Entscheidend für den Fortbestand einer Kultur
ist, dass dieser Wandel entsprechend den eigenen Wertvorstellungen sowie
aus eigenem Antrieb und eigener Entscheidung erfolgt.
Dasselbe Recht steht den Indianerethnien zu. Sie haben in den letzten 100
Jahren hier im Chaco große Flexibilität bewiesen in ihrer
Anpassung an neue geographische, demographische und wirtschaftliche
Gegebenheiten. Aber sie taten dies im Einklang mit ihrer
Weltanschauung.
(8) Es
gibt genügend Hinweise, die vermuten lassen, dass die verborgenen
Dimensionen ihrer Kultur - Werte,
Weltanschauung, religiöse Vorstellungen - weitgehend unverändert geblieben
sind. Und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sich dies
in nächster Zukunft ändern wird. Außerdem wächst heute weltweit die
Einsicht, dass kulturelle Vielfalt womöglich ebenso wie
biologische Vielfalt wünschenswert ist, abgesehen davon, dass es zu den
menschlichen Grundrechten gehört, das eigene kulturelle Erbe
zu pflegen.
Projekte zur Entwicklung und zum Zusammenleben sind heute nicht nur
daraufhin zu befragen, ob ihre Vorgehensweise
kulturell aggressiv ist, sondern positiv gesehen, ob sie darauf zielen
kulturelle Minderheiten zu stützen und möglicherweise ihr
natürliches Wachstum zu fördern.
Wirtschaftlich gesprochen und auf dem Hintergrund von MERCOSUR (vielleicht
ALCA) und Globalisierung gesehen, sind wir
aufgefordert, die Legitimität von alternativen Wirtschaftsweisen zu
respektieren. Jeder Versuch, indianische Gemeinschaften in eine
Ökonomie der Produktion, Akkumulation und Spezialisierung zu
katapultieren, hat sich als kulturell aggressiv erwiesen. Auch
wirtschaftlich sind die Resultate meist nicht befriedigend.
Chacoindianer brauchen heute:
- Eigenes Land, das ihnen erlaubt, wenn auch in etwas reduzierter
Form, etwas von den herkömmlichen Aktivitäten wie
Gartenbau, Jagd oder Fischfang und Sammlung von Waldfrüchten zu
realisieren. Da das Land für die weißen Einwanderer heute als
Produktionspotenzial, Kapitalinvestition oder Spekulationsobjekt gilt,
ist es wichtig zu bedenken, dass es für Indianer in erster Linie als
Lebensraum gilt. Land zu verweigern bedeutet für sie, dem Mitmenschen
das Leben vorzuenthalten. Deshalb waren sie bei der
Einwanderung der Mennoniten auch zu einer großzügigen Koexistenz auf
demselben Land bereit. Die Regierung verpflichtet sich zwar in der
Verfassung, genügend Land sicherzustellen, aber in der Praxis sind es
meist NGOs, die sich mit Hilfe internationaler Gelder darum bemühen.
- Diverse ökonomische Optionen, die sehr wohl periodische Lohnarbeit
auf Estancias und Betrieben einschließen, aber auch Arbeit
auf eigener Scholle, wie oben bereits erwähnt.
- Der oben beschriebene Zentralisierungsprozess, sollte nach
Möglichkeit rückgängig gemacht werden, indem man dem
Ballungseffekt in und um die Mennonitenkolonien entgegenwirkt, d.h.
Siedlungsflächen gleichmäßiger im ganzen Chaco verteilen.
- Chacoindianer werden voraussichtlich auch weiter „kleine
Produzenten" bleiben - um die heutige Terminologie zu verwenden -
die aber deswegen ihre berechtigte Nische in den wachsenden Märkten
brauchen, um ihre Produkte (Handarbeiten, Honig, oder
evtl. biologische Erzeugnisse und Holzprodukte) absetzen zu können.
- Vor allem aber brauchen sie Anerkennung als legitime alternative
Kulturen in einer globalisierten Welt, die in jeder Hinsicht
das Überleben des „weniger Kompetenten" bedroht. Diversität gutheißen
und die Kommunikation fördern, scheint die große
Herausforderung im multikulturellen Zusammenleben zu
sein,(9) sowohl im
Chaco als auch in anderen ähnlichen Situationen.
Fussnoten:
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Die spanische Originalversion dieses Aufsatzes erschien im
Suplemento Antropológico, Diciembre. 2001, einer
Fachzeitschrift der
Universidad Católica, in Asunción.
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Theologe, gegenwärtig tätig im historischen Archiv und Museum der
Kolonie Fernheim.
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|
Jahrbuch des Vereins für Geschichte und Kultur der Mennoniten in
Paraguay, von 2002.
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Beachtliche sozio-psychologische Spannungen waren die
Begleiterscheinung dieser Übergangsphase. Während der Trockenheit
im Sept.
1962 gab es einen teils gewaltsamen Aufstand gegen die neuen
„Patrones", und ca. 500 Personen unter dem Cacique Manuel zogen
von
Filadelfia Richtung Westen, wo die Regierung ihnen Gerüchten
zufolge ein großes Landstück geben würde. Siehe die Berichte im
Mennoblatt vom Sept.
und Okt. 1962.
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|
In ihrer Magisterarbeit für die Humboldt Universität, Berlin,
„Cómo agua y aceite" haben Dörte Dittmer und Ulrike Fullriede die
Lage in
Filadelfia beschrieben.
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|
Regehr, Walter: Die lebensräumliche Situation der Indianer im
paraguayischen Chaco, Basel 1979, S. 259 ff.
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|
Hiebert, Paul: Anthropological Insights for Missionaries, Grand
Rapids 1985, SS. 31;46.
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Siehe Wilmar Stahl in einer nicht publizierten Studie von 1982,
über die Wirtschaftsformen verschiedener Gruppen der Lengua Sur im
Bajo Chaco.
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Wilmar Stahl, Vortrag auf einer Konferenz in Winnipeg, Kanada
1997, unterstreicht die Notwendigkeit von Beziehungsarbeit, die
zum Ziel
hat, die Toleranz und die Kommunikation zwischen den Ethnien zu
fördern.
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