Vorträge | Jahrbuch 2004
Podiums- und Plenumsdiskussion
Zusammengefaßt von Beate Penner
„Beteiligung der in Paraguay lebenden Mennoniten an der Politik“.
Unter diesem Thema fand am Freitag, den 21. Mai, abends eine Podiums- und Plenumsdiskussion statt. Geleitet wurde die Diskussion von Hans Theodor Regier. An dem Gespräch beteiligten sich Michael Rudolph, David Sawatzky, Jacob Harder, Heinz Ratzlaff, Gundolf Niebuhr und Hermann Ratzlaff.
Zuallererst wurde definiert, was Politik überhaupt ist. Mit einer Definition aus Meyers Handlexikon wurde diese Frage eingeleitet: „Politik ist berechnendes auf Durchsetzung bestehender Ziele gerichtetes Verhalten, u.a. durch Führung und Vertretung eines Gemeinwesens auch eines Interessenverbandes oder einer Partei.“ Dazu kamen dann einige Kurzdefinitionen der Podiumsteilnehmer:
„Politik ist die Sorge um das Gemeinwohl, in anderen Worten, jeder der mithilft, dass sich in der Gesellschaft etwas verändert, ist politisch“ und „Politik ist die Gestaltung einer öffentlichen Ordnung“. Eine weitere Bestimmung aus Meyers Handlexikon lautet: „Aus der Interessenbestimmtheit ergibt sich der Kampfcharakter der Politik, es geht um Machterwerb und Machterhalt und nicht notwendigerweise nur um das Gemeinwohl.“ Was soviel heißt, dass es in der Politik nicht nur um christliche Nächstenliebe und Sorge um den Mitmenschen und das allgemeine Wohl geht, sondern dass meistens sehr starke individuelle und parteipolitische Interessen vertreten werden. Dabei ist es unumgänglich, Macht auszuüben. Und dies geschieht nicht immer in positiver Hinsicht. Oft wird die Macht missbraucht. Es wurde festgestellt, dass Politik zunächst einmal wertfrei ist. Ob sie nun gut oder schlecht ist, hängt davon ab, wer die Politiker sind und wie sie mit der ihnen anvertrauten Macht umgehen. In der mennonitischen Gesellschaft wurde Politik bisher als etwas Negatives angesehen. Schon in Russland und Kanada und auch bis vor einigen Jahren noch in Paraguay zog man sich so gut wie möglich aus der Politik zurück. Man war der Meinung, Politik sei nichts für Mennoniten. Heute gilt es, das Konzept von Politik zu revidieren.
Daraufhin ging man über zu der Frage, was eigentlich der Unterschied zwischen Staats- und Koloniepolitik sei. Auf diese Frage ging man nur sehr kurz ein. Der einzige Unterschied, der genannt wurde, war der, dass die Staatspolitik in Parteien organisiert und dementsprechend Politik ausgeübt werde, während in der Koloniepolitik ohne offiziell organisierte Parteien gearbeitet wird. Inoffiziell unterscheiden sich die politischen Strategien aber oft nicht.
Dann nahm man Stellung zu folgender Frage: Warum dürfen oder sollten sich Mennoniten an der Politik beteiligen? Was bei diesem Punkt klar gesagt wurde, war dass im Prinzip jeder politisch sei. Politisch sein bedeutet nicht nur ein politisches Amt zu bekleiden. In einer demokratischen Republik sei es unmöglich, dass ein Bürger nicht politisch sei; egal was er tue. Wenn man beispielsweise wählen geht, ist man politisch. Geht man nicht wählen, ist man auch politisch. Dass die Mennoniten sich also politisch beteiligen ist unumgänglich. Das haben sie auch schon seit 1927, seit sie in Paraguay leben, getan. Bisher zwar unbeabsichtigt und auch nicht öffentlich. Einige Beispiele, die diesbezüglich erwähnt wurden:
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Die Mennoniten im Chaco wurden im Chacokrieg 1932-1935 von der nationalen Regierung als politisches Werkzeug eingesetzt.
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Die Mennoniten beschleunigten den Bau der Ruta Trans Chaco und die Elektrifizierung im Chaco.
Aufgrund dieser Tatsachen sollte man die Fragestellung anders formulieren. Anstatt zu fragen, ob sich die Mennoniten an der Politik beteiligen dürfen bzw. sollen, müsste man lieber fragen: Wie sollen sie sich beteiligen? Wir als mennonitische Gemeinschaft haben dem Landesvolk auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene viel zu bieten. Unser Kooperativswesen und unsere Nachbarschaftshilfe wurden und werden im Land immer noch als vorbildlich angesehen. Gewarnt wurde jedoch vor einem Gefühl der Erhabenheit und Überlegenheit. Eine Aussage, die mehrere Male fiel, war ähnlich: Wenn wir in die öffentliche Politik einsteigen, sollten wir dies nicht als Mennoniten tun, sondern als gebürtige Paraguayer, die öffentlich die Gelegenheit nutzen, mennonitische Werte und Prinzipien vorzuleben und zu vermitteln.
Die Beteiligung an der Politik hat zur Folge, dass man ab jetzt nicht mehr von den „Stillen im Lande“ sprechen wird. Es wird einen sozialen Wandel geben, die eigene Identität und unser Image nach außen werden sich verändern. Es liegt an uns, ob zum Positiven oder zum Negativen.
In diesem Zusammenhang ergab sich auch die Frage, wieso wir als Mennoniten uns überhaupt an der öffentlichen Politik beteiligen wollen. Welches sind unsere Motive und unsere Absichten? Handeln wir nur aus christlicher Nächstenliebe? Geht es uns darum, unserem armen Landesvolk weiterzuhelfen oder verfolgen wir eigene Interessen?
Anschließend nahm man Stellung dazu, ob die Mennoniten für ihren schnellen Einstieg in die öffentliche Politik überhaupt entsprechend vorbereitet seien. Tatsache ist, dass die Mennoniten in Paraguay bis vor 15 Jahren politisch gesehen vermeintlich abstinent lebten. D.h. es gab keine öffentliche Beteiligung von Seiten der Mennoniten. In den letzten 10 Jahren sind sie aber so rapide ins politische Rampenlicht geraten, dass man sich fragt, ob sie für solche Aufgaben und Ämter entsprechend vorbereitet wurden; ob sie wissen, wie sie mit der ihnen anvertrauten Macht umgehen sollen.
Ein Teilnehmer war der Ansicht, dass die Mennoniten einerseits gut vorbereitet sind. Unsere Gesellschaft ist vergleichbar mit einer demokratischen Schule. Die ganze Gemeinschaftsarbeit ist eingeteilt in Komitees. Über die Hälfte der Gesellschaft arbeitet in einem Komitee. Das bedeutet, dass man lernt sich einzubringen, mitzuplanen, mitzudenken und mitzugestalten. In dieser Hinsicht sind sie seiner Meinung nach gut vorbereitet. Wo sich noch ein Mangel bemerkbar macht, ist im Gesellschaftsdruck. Es ist bisher noch so, dass viele Leute nicht den Mut haben, ihre eigene Meinung zu äußern und diese dann auch zu vertreten. Andersdenkende haben es oft noch sehr schwer in unseren Gemeinschaften.
Ein Teilnehmer antwortete nicht darauf, ob wir gut genug vorbereitet sind, sondern gab folgenden Ratschlag: Es ist nicht wichtig und auch unmöglich, dass wir uns alle öffentlich beteiligen. Wichtig wäre, dass wir die besten Leute vorbereiten, ausbilden und fördern und sie nach dem öffentlichen Eintreten nicht alleine stehen lassen, sondern sie weiterbegleiten.
Als letzter Punkt wurde ein ganz aktuelles Thema angesprochen: Welche Vor- und Nachteile hat die Tatsache, dass die Ehefrau des Staatspräsidenten Gloria Duarte Frutos Glied der mennonitischen Gemeinde ‘Raíces’ ist? Man ging weniger auf die Vor- und Nachteile ein, sondern sprach von Gefahren, die diese Tatsache mit sich bringt. Es ist gefährlich, Glaube und Politik zu nah zusammen zu bringen. Der Glaube kann leicht missbraucht werden, indem man die Bibel als Vorwand für sein Handeln gebraucht. Außerdem wurde davor gewarnt, in eine unkritische Euphorie zu verfallen. Vergessen wir nicht, bis vor kurzer Zeit sprach man wenig von den Mennoniten. Jetzt stehen sie häufig in den Schlagzeilen.
An der darauf folgenden Plenumsdiskussion beteiligten sich außer diesen sechs Podiumsteilnehmern noch weitere Teilnehmer in den Bänken. Man ging auf Themen ein, die im Podium schon angesprochen wurden, es wurden aber auch neue Themen bzw. Fragen aufgeworfen.
Zusammenfassend wurden hauptsächlich folgende Punkte diskutiert:
- Kann man denn wirklich ein politisches Amt bekleiden ohne einer politischen Partei anzugehören? Wie will man ein Projekt durchführen oder etwas durchsetzen, wenn man keine Partei im Rücken hat, die einem die dafür notwendige Macht vermittelt? Daraufhin sprach Herr Heinz Ratzlaff über seine eigenen Erfahrungen in der öffentlichen Politik. Er habe in seiner fünfjährigen Amtsperiode als Abgeordneter keiner politischen Partei angehört, was aber nicht heiße, dass er bei Projekten oder sonstigen Tätigkeiten nicht von einer Partei unterstützt worden sei und deren Vertrauen genossen habe. In diesem Zusammenhang wurde von einem Teilnehmer bemerkt, dass man bei den Wahlen sowohl in der Parteipolitik als auch in der Koloniepolitik zu sehr personenorientiert wähle. Man sollte vielmehr Programme ausarbeiten und präsentieren und daraufhin Personen zur Wahl stellen, denen man das Vertrauen schenkt, dass sie diese Sachprogramme ertragreich durchführen könnten.
- Angesprochen wurde auch hier noch einmal die Frage, die schon im Podium diskutiert wurde: Sind wir genügend vorbereitet für unseren relativ schnellen Einstieg in die öffentliche Politik? Von mehreren Wortmeldungen gab es keine, die diese Frage mit einem klaren Ja beantwortete. Die Meinung allgemein war, dass wir mit einer zu optimistischen Einstellung eingestiegen sind. Wir sollten weniger glauben, die (wie es ein Teilnehmer ausdrückte) „Alleinseligmachenden“ zu sein, sondern mehr an die positiven Seiten und Eigenschaften unserer Mitbürger glauben und sie und ihre Glaubenseinstellung akzeptieren. Erst dann werden wir positiv zusammenarbeiten können.
- Während des Abends fiel immer wieder der Ausdruck, dass wir in der Politik die Gelegenheit nützen sollten, als Paraguayer mennonitische Werte zu vermitteln. Ein Teilnehmer machte darauf aufmerksam, dass zu pauschal von Werten gesprochen werde. Welche Werte wollen wir als Mennoniten denn überhaupt vermitteln? Und um diese vermitteln zu können, müssten sie erst einmal konkret definiert werden. Da wäre z.B. die Wehrlosigkeit. Was verstehen wir überhaupt unter Wehrlosigkeit. Bedeutet es nur, ohne Waffe zu gehen oder Konflikte ohne sie zu lösen? Ist ja gut, wenn man das so macht. Aber was ist dann mit den Mennoniten, die tausende Hektar Land besitzen und ihren Besitz und ihr Vermögen immer mehr erweitern, ohne darauf zu achten, dass ärmere Leute dabei unter die Räder kommen. Ist das gerecht? Verstehen wir so die Wehrlosigkeit?
- Zum Schluss der Diskussion wurde noch einmal das aktuelle Thema der Gemeinde Raíces in Asunción angesprochen. Ein Teilnehmer machte dazu einen Vergleich aus der Geschichte. Er verglich die Situation und Sachlage der genannten Gemeinde mit der Kirche zur Zeit Konstantins. Damals war es so, dass die Kirche plötzlich maßgebend für alle wurde und so entstand die mittelalterliche Staatskirche. In Paraguay scheint es jetzt so, dass die Mennonitengemeinden, besonders die Gemeinde Raíces, ins Rampenlicht geraten sind und von allen scharf im Auge behalten werden. Wo dies hinführt können wir noch nicht sagen. Klar ist, dass die Gefahr da ist, den Fehler aus der Geschichte zu wiederholen, und zwar den, dass die Kirche als Mittel zum Zeck gebraucht wird. Davor sollten wir uns in Acht nehmen.
Wertende Stellungnahme
Interessant und von vielen Teilnehmern als positiv angesehen war, dass an diesem Abend nicht nur grundlegende Einstellungen und Konzepte über Politik diskutiert wurden, sondern dass man auch ganz aktuelle Themen ansprach.
Es war immer wieder herauszuhören, dass sich die mennonitische Gesellschaft in Paraguay sehr geändert hat. Es wäre beispielsweise vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen, eine Diskussion in solch einem Rahmen überhaupt durchzuführen. Heute, so ein Teilnehmer, sollten wir es als Stärke ansehen, dass wir fähig sind, über neue Sachen nachzudenken und anders denken zu lernen, und infolgedessen neue Erkenntnisse gewinnen. Von dieser Änderung in der Gesellschaft, d.h. von diesem Mut anders denken zu lernen, zeugte auch die breite Spanne zwischen den einzelnen Meinungen. Die Meinungen gingen von einem Extrem ins andere. Einige Teilnehmer behaupteten beispielsweise, wenn unsere Politiker, die offiziell keiner Partei angehören, fallen, fallen sie in ein bodenloses Loch. Es wäre keine Partei da, die sie auffangen und ihnen wieder auf die Beine helfen würde. Andere Meinungen dagegen waren, dass man nie tiefer falle als in Jesu Arme. Diese Verschiedenheit der Meinungen beobachtete man auch besonders noch, als es um das Thema Mission ging. Einige waren der Meinung, man müsse durch die Beteiligung an der Politik noch mehr die Gelegenheit wahrnehmen unter der Landesbevölkerung zu missionieren. Eine andere Meinung dagegen war, dass die Mennoniten sich und ihren Glauben zu sehr als die ‘Alleinseligmachenden’ ansehen und dadurch zum Ziel haben, das Landesvolk ‘mennonitisieren’ zu wollen. Dieser Teilnehmer appellierte an die Versammlung, mehr an die positiven Seiten unserer Mitbürger zu glauben und weniger darauf zu drücken, dass nur die Mennoniten etwas Gutes leisten können.
Interessant und zu bemerken wäre abrundend noch ein Aspekt, der an diesem Abend nicht so direkt angesprochen wurde. Zu der Zeit, als die ersten Politiker aus unserer Mitte öffentlich in ein Amt einstiegen, gab es in den Gemeinden lange und heftige Diskussionen. Im Allgemeinen war man ganz gegen die öffentliche Beteiligung an der Politik. Heute, knapp ein Jahrzehnt später, wird es gerade von einigen Gemeinden befürwortet, in der Politik mitzuarbeiten und sie so positiv wie möglich zu beeinflussen. Es hat in kurzer Zeit ein großer Wandel stattgefunden. Jeder von uns sollte sich die Frage stellen, ob wir auch zu den Konsequenzen bereit sind oder ob wir aufgrund des schnellen Fortschreitens bald den Boden unter den Füßen verlieren werden.
Herr Jakob Warkentin, Leiter des Geschichtsvereins, schloss diesen Abend mit folgender Anregung: Es sei immer wieder wichtig, dass man begrifflich richtig und sauber argumentiere. Man könne einen Ausdruck verwenden und damit aber etwas ganz anderes meinen, als er in Wirklichkeit bedeute. So sei beispielsweise in unserer Gesellschaft der Begriff ‘Macht’ eigentlich verpönt. Stattdessen spreche man lieber von „Dienst“, übe aber in Wirklichkeit handfeste Macht aus.