Endzeiterwartung

Im christlichen Gedankengut, das von einer biblisch-heilsgeschichtlichen Auffassung der Zeit geprägt ist, verläuft die Zeit grundsätzlich linear von einem Anfangspunkt, gesetzt im Schöpfungsakt, zu einem Ziel, nämlich der Vollendung des Heilshandelns Gottes in einem ewigen Reich. Ein zyklisches oder kreisförmiges Grundkonzept der Zeit, wie es etwa in den philosophischen Systemen des fernen Ostens üblich ist, wäre nach biblischer Auffassung nicht denkbar. So hat schon die Kirche des ersten Jahrhunderts die Aussagen Jesu über seine Wiederkunft aufgegriffen und sie als das Ereignis gedeutet, welches dieses Ziel der Geschichte einläuten würde. Schon die erste Generation von Christen hoffte, dass dieses Ereignis nahe bevorstehe, was teils zu begeisterten, teils unverantwortlichen Naherwartungen führte. Erst im Laufe der Generationen lernte die Christenheit, dass Gottes Pläne sich offenbar nicht an Zeitspannen orientieren, die nach menschlichem Ermessen geeignet erscheinen würden.
Die so genannte “Eschatologie”, die Lehre von der Vollendung christlicher (auch jüdischer) Hoffnung und von den Ereignissen der Endzeit, blieb jedoch ein integraler Bestandteil des Glaubensbekenntnisses und seiner Entfaltung in theologischen Lehrsystemen. Im Laufe der Jahrhunderte waren es vor allem Zeiten der Krise, in welchen Endzeiterwartungen aufblühten, Zeiten, in denen das Weltgeschehen offenbar aus den Fugen geriet, bedrohlich und gar nicht mehr übersichtlich oder kontrollierbar schien. Das 16. Jahrhundert war eine solche Zeit, als kulturelle und religiöse Umbrüche Europa erschütterten. Die Zeit der Aufklärung löste eine Krise aus, dadurch dass Technik und Vernunft (statt Glaube und Tradition) jetzt das Leben bestimmten, während politisch gesehen uralte Strukturen brüchig wurden, langsam dahinsiechten und durch neue, noch undurchsichtige demokratische Strukturen ersetzt werden sollten. Das 19. Jahrhundert wurde daher zu einer Zeit, in der manche apokalyptischen Bewegungen in der Kirche aufblühten. In England war es zu Beginn des Jahrhunderts John N. Darby, der mit einem neuen heilsgeschichtlichen Schema, das als “Dispensationalismus” bekannt wurde, eine Naherwartung in vielen Gemeinden förderte. Sein Schema, welches vor allem durch die so genannte Scofield Bibel popularisiert wurde, teilte das Handeln Gottes in verschiedene Zeitabschnitte (Dispensationen) ein. Dabei wurde festgestellt, dass seine Generation im Zeichen der Vollendung der letzten Dinge stehe, dass eine Entrückung, der Antichrist usw. also unmittelbar nahe seien.
Da dieses Schema in einer verlockend einfachen Art und Weise Sinn und Ordnung in die so verworrene Geschichte Europas brachte, wurde es populär. Bibelauslegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts passten sich oft dieser Vorgabe an. Zeitereignisse wurden auf das so geschaffene Modell hin gedeutet. Manche Missionswerke oder Bibelschulen (besonders die Schule “Wiedenest”) in Europa spezialisierten sich auf die Verbreitung entsprechender Literatur, und so zog das Gedankengut ziemlich breite Kreise. Unter Russlandmennoniten wurde der Begriff “Auslegung des Heilsplanes” populär. Anhand schematischer Darstellungen und Bilder wurde der Verlauf der Weltgeschichte erklärt und mit der biblischen Prophetie in Verbindung gebracht um festzustellen, wo man sich momentan befinde, wie weit die Weltenuhr Gottes vermeintlich vorgerückt sei. In Fernheim wurden diese “Auslegungen des Heilsplanes” zu einer Art Evangelisationsmethode. Feurige Predigten über die unmittelbare Wiederkunft Jesu wurden ein Ansporn für viele Menschen, sich zu bekehren oder neu aufzumachen. Dass es, psychologisch gesehen, bei den dabei angewendeten Methoden nicht gerade zimperlich zuging, belegen manche Zeugnisse aus der Zeit. >Heilsplan, Auslegung; >Wall, Jakob; >Legiehn, Hans.

Gundolf Niebuhr