Macht

Macht wird bei Mennoniten vielfach in enge, fast ausschließliche, Verbindung mit >Politik gebracht. Es stimmt, die Politiker wollen durch ihre politische Stellung Macht ausüben. Nun sollte man nicht meinen, dass nur Politiker auf nationaler Ebene Macht ausüben. Auch in den kleinsten Kreisen der menschlichen Gesellschaft, der Familie, kommt es zur Machtausübung. Sogar die Gemeinde ist davon keineswegs ausgeschlossen und oft kommt es auch da zu bedauerlichen Machtkämpfen. Die Geschichte, auch die der Mennoniten von ihren ersten Anfängen an, liefert dafür überraschend viele Beispiele. Die zwei Ältesten Leonard Bouwens und Dirk Philipps gebrauchten ihre Führerposition, um Menno Simons unter Druck zu setzen und ihn für ihre Haltung zu Fragen der Disziplin gefügig zu machen. Sie waren bedauerlicherweise erfolgreich in dieser Machtausübung. Viele Gemeindespaltungen in der Geschichte lassen sich auf Machtkämpfe der geistlichen Führerschaft in der Gemeinde zurückführen.
Doch die Ausübung der Macht darf keineswegs nur negativ gesehen werden, auch in der Gemeinde nicht. Mit der Macht ist es wie mit dem Geld. Sie ist an sich weder gut noch schlecht. Es hängt davon ab, wie man sie erwirbt und wie man sie einsetzt.
Oft wurde Großes von führenden Personen geleistet, die ihre Machtposition dazu gebrauchten, um das allgemeine Wohl, Frieden und >Gerechtigkeit zu fördern. Jesus gebrauchte seine Macht, um in Aufopferung, Wahrheit und Liebe dem Nächsten zu dienen. Niemals drängte er sich auf. Die Ausübung der Macht in der Gemeinde sollte immer von aufopfernder Hingabe begleitet sein. Es hängt von dem Menschen ab, wie er seine ihm zur Verfügung stehende Macht ausübt.
Was sagt die Bibel zum Begriff der Macht und ihrer Ausübung? Welches war die Stellung der Täufer in diesem Fragenkomplex? Mit der Thematik “Macht und Autorität und die anabaptistische Tradition” haben sich mennonitische Theologen, Soziologen und Historiker aus den USA und Kanada eingehend auseinander gesetzt und vermitteln neue Einsichten (vgl. Redekop/Redekop 2001): Macht ist ein universales Phänomen, das nicht auf Politik beschränkt ist. Macht ist wie Liebe schwer zu definieren. Nichtsdestoweniger durchdringt sie das ganze gesellschaftliche Leben. Die Auswirkungen der Macht können, wie die des Windes und der Elektrizität, wohltuend und aufbauend oder auch zerstörend wirken. Man spricht ja auch von der Macht des Gebets, von der Macht der Liebe und der Macht des positiven Denkens. Bücher sind darüber geschrieben worden. Hinter Geld und Religion steht ebenfalls Macht und kann entscheidenden Einfluss auf Politiker und Einzelpersonen ausüben. Macht steht nie alleine für sich da. Sie wirkt immer in Verbindung mit Personen. Nur in zwischenmenschlichen Beziehungen wird sie wirksam. Sie bestimmt das Familienleben. Eltern üben Macht auf ihre Kinder aus, die größeren Geschwister auf die jüngeren. Der Lehrer in der Schule beeinflusst und erzieht die Schüler durch die Macht, die ihm sein Amt verleiht. Der Direktor in der Firma muss eine Autorität sein und Macht über die Angestellten ausüben können, damit das Geschäft läuft. Die Machtposition der >Prediger und Gemeindeleiter ist dazu da, um zu dienen, die Gemeinde zu unterweisen, sie zu führen und ihre Interessen zu vertreten. Macht ist vielseitig und sollte als Gabe Gottes, die den Menschen als Pfand anvertraut worden ist, verstanden und ausgeübt werden.
Macht ist ein biblisches Thema und hat ihre Begründung bereits im Schöpfungsbericht der Bibel. Gottes Macht schuf Himmel und Erde und alles, was darin ist. Die Bibel spricht häufig von der Macht und Kraft Gottes. Der Psalmist singt: Du bist der Gott, der Wunder tut; du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern. Du hast Dein Volk erlöst mit Macht,… (Psalm 77, 15 – 16). Die Macht über die Schöpfung hat Gott dem Menschen übertragen. Du hast ihn [den Menschen] wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt. Du hast ihn [den Menschen] zum Herrn gemacht über Deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan: … (Psalm 8, 6 – 7). Der göttliche Auftrag an den Menschen besteht also darin, dass er die Schöpfung regieren, also Macht über sie ausüben soll. Die Bibel spricht auch recht oft von der Macht, die Herrschern gegeben bzw. auch genommen wurde. Leider missbrauchen “die Herrscher dieser Welt” diese Macht immer wieder auf die grausamste Weise. Als Pilatus Jesus höhnisch zu Rede und Antwort herausfordert: Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und Macht habe, dich loszulassen?, antwortet Jesus ihm: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben herab gegeben… (Johannes 19, 10 – 11).
Macht wird auf sehr verschiedene Art und Weise ausgeübt – zu egoistischen Privatinteressen oder auch zum Wohle anderer unter Aufopferung eigener Interessen. Für Letzteres ist Paulus ein nachahmenswertes Beispiel. Er fragt: Haben wir nicht Macht zu essen und zu trinken? Haben wir nicht auch Macht, eine Schwester zum Weibe umherzuführen wie die anderen Apostel…? (1. Korinther 9, 4 – 5). Er selber gibt dann die Antwort: Aber wir haben solche Macht nicht gebraucht, sondern wir ertragen allerlei, dass wir nicht dem Evangelium ein Hindernis machen (1. Korinther 9, 12 b). Das hier gebrauchte Wort “Macht” wird auch mit “Vollmacht” oder “Recht” übersetzt. Paulus ist darin ein “Vorbild”, dass er sein Recht (seine Macht) nicht gebraucht, um persönliche Vorteile zu gewinnen. So verzichtet er auf sein Recht, seine Macht zu gebrauchen, um von den Thessalonichern Kleidung und Nahrung (Predigerlohn) zu verlangen. Nicht darum, dass wir nicht Macht haben, sondern dass wir uns selbst zum Vorbilde euch gäben, uns nachzufolgen (2. Thessalonicher 2, 3).
Reflexion über Macht ist von den Mennoniten theologisch vernachlässigt und an den Rand gedrängt worden, meint Burkholder (Redekop/Redekop 2001, S. 4 – 6). Der Begriff Macht entsprach nicht ihrem theologischen Konzept von Demut, Sanftmut und >Wehrlosigkeit. >Täufer und Macht wurden als Gegensätze empfunden. Macht wurde auf die weltlichen Herrscher, von denen die Täufer so maßlos verfolgt wurden, angewandt und auf sie begrenzt. Die Ausübung der Macht in ihren eigenen Reihen übersahen sie. Mit der Seligpreisung Jesu Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen (Matthäus 5, 5) wusste man in der mennonitischen Theologie wenig anzufangen, da sich “Sanftmut” und “Erdreich besitzen” ihrem Verständnis nach widersprechen. So deutete man diese Seligpreisung auf die zukünftige Welt bzw. auf das Tausendjährige Reich. Doch die Seligpreisungen von den “Friedfertigen”, die Gottes Kinder heißen sollen, und denen, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer sei das Himmelreich, wandten die Mennoniten auf sich an. In der Ablehnung der Macht beriefen sich die Mennoniten auch immer wieder auf verschiedene Bibeltexte, so etwa die Worte des Apostels Paulus: Sehet an, liebe Brüder, eure Berufung: nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht viele Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da nichts ist, dass er zunichte mache, was etwas ist, auf dass sich kein Fleisch vor ihm rühme (1. Korinther 1, 26 – 29).
Doch in den letzten Jahrzehnten haben sich die Mennoniten durch die Erforschung ihrer Geschichte auch mit dem Begriff der Macht auseinander gesetzt. Kritisch hat man die Ausübung der Macht innerhalb der eigenen Geschichte analysiert und ist dabei zu überraschenden Ergebnissen gekommen. Dafür ist das bereits genannte Buch (Redekop /Redekop 2001) ein überzeugendes Beispiel. Als die “Wehrlosen” und “Stillen im Lande”, die von der Welt abgesondert lebten, meinten die Mennoniten, die Macht aus ihrer Mitte verbannt zu haben. Weit gefehlt! Niemand kann sich der Ausübung der Macht entziehen. Das gilt nun auch für die Mennoniten. Schon die ersten Täuferführer übten eine starke Macht auf die Gemeinden aus: Menno Simons, Dirk Philipps, Leonard Bouwens u. a. m. Leider nicht immer zum Wohl der Gemeinde. Durch diese Machtkämpfe entstanden die unheilvollen Spaltungen in Friesen und Flamen, die von Holland nach Preußen und von dort nach Russland getragen wurden und erst nach dreihundert Jahren ihre Bedeutung verloren, als die Gemeindeglieder schon lange nicht mehr wussten, woher die Spaltungen, in denen sie lebten, kamen und wo sie ihren Grund hatten. Verantwortlich für die Fortführung der Spaltungen waren immer wieder Personen in Machtposition, >Älteste und >Prediger der Gemeinde. Oft kontrollierten sie die Gemeinde, anstatt sie zu führen und ihr geistliche Anregung zu geben. Macht kommt recht oft unter dem “verführerischen Mantel” der Tradition und der Religion zum Ausdruck (Redekop/Redekop 2001, S. 115-135, “Power under the Cover of Tradition”).
Jakob A. >Loewen (Missionar und Bibelübersetzer) und Wesley Prieb (mennonitischer Pastor) haben eine lange Liste über den Missbrauch der Macht unter den Mennoniten in  Russland aufgestellt (Loewen/Prieb 1996, S. 17 – 44 und Redekop/ Redekop 2001, S. 95 – 114). L. Burkholder meint, dass die Errichtung von Institutionen und Betrieben bei den Mennoniten ein positives Bewusstsein der Macht gefördert haben. Keine Institution (Schule, Hospital etc.) und kein Unternehmen, kein Betrieb kann ohne die Ausübung von Macht bestehen (Redekop/Redekop 2001, S. 6 – 7). Von daher ist es notwendig, dass die Mennoniten sich mit Macht und ihrer Ausübung kritisch auseinander setzen. Eine Bewusstmachung ist notwendig. Die positive Wirkung der Macht muss entdeckt, gefördert und in rechte Bahnen geleitet werden.
Durch den Einstieg einer Anzahl paraguayischer Mennoniten in die nationale >Politik hat man auch hier begonnen, den Begriff der Macht in einem weiteren Rahmen und in ihren positiven und negativen Folgen zu sehen. (>Gerechtigkeit.)
Gerhard Ratzlaff
Jakob A. Loewen u. Wesley J. Prieb: “The Abuse of Power Among the Mennonites in South Russia, 1878-1919”. Journal of Mennonite Studies, 14. Jg., 1996, S. 17-44; Benjamin W. Redekop u. Calvin Redekop: Power, Authority and the Anabaptist Tradition. Baltimore und London: The John Hopkins University Press, 2001; Ronald J. Sider: Jesus und die Gewalt. Maxdorf: Agape Verlag, 1982.