Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein Begriff, der in der Mennonitengeschichte nicht hoch im Kurs stand. Gerechtigkeit wurde oft im Widerspruch zu Liebe und Gnade gesehen. Die Mennoniten hatten in der Tat viel soziale Ungerechtigkeit erfahren und verbanden diese mit der politischen Macht, deren sie sich zu enthalten hatten. Gerechtigkeit und Macht stehen aber nicht im Widerspruch zur Liebe und zur Lehre der Bibel, wohl aber ihr Missbrauch. Durch das Kreuz strahlte Jesus erlösende und Leben spendende Macht aus, und das Reich Gottes, welches Jesus in dieser Welt errichtet, ist ein “Reich der Gerechtigkeit” (vgl. Wiens 1998, S. 165-169). Im Verständnis der Juden sollte der Messias immer beides, gerecht und machtvoll, sein. Gerechtigkeit und Liebe lassen sich durchaus mit der Ausübung von >Macht verbinden. Treue Eltern üben Macht über ihre Kinder aus, indem sie sie mit Liebe und Gerechtigkeit behandeln. Dann gibt es aber auch Väter, die ihre Kinder misshandeln oder, wie Pauls sagt, sie zum Zorn reizen (Epheser 6,4). In jedem Fall wird Macht ausgeübt. Macht hat die Tendenz zur >Korruption – sogar in der christlichen Gemeinde. Deshalb ist es dringend notwendig, dass die Mennoniten sich bewusst werden, wie sie Gerechtigkeit und Macht in der Gemeinde und Gesellschaft handhaben. Gerhard Lohrenz, Kanada, schreibt in seinen Erinnerungen über seine Erfahrungen in Russland zu dem Thema der Gerechtigkeit unter den Mennoniten: Wenn ich zurückdenke, so wundert es mich, dass ich nie eine Ansprache gehört habe, in der die Hörer aufgefordert wurden, gerecht und nett zu den Fremdlingen [dem russischen Dienstpersonal] in unserer Mitte zu sein. Man eiferte gegen das Rauchen und gegen das Trinken von Alkohol. Nur ein geringer Teil unserer Leute taten dies, sowieso, es war dies aber ein beliebtes Thema. Über soziale Gerechtigkeit [kursiv hinzugefügt] sprach man aber nicht (Der Bote, 31. Oktober 1984, S. 12).
Die Gerechtigkeit ist eines der am häufigsten im Alten Testament, ja in der Bibel überhaupt angesprochenen Themen. Alleine im Alten Testament wird das Thema der Gerechtigkeit 422 mal angesprochen – öfter als das der Liebe. Gerechtigkeit und Liebe bilden die grundlegenden Komponenten der biblischen Ethik. In der Gerechtigkeit Gottes werden “durcheinander gebrachte Situationen wieder hergestellt”. Arnoldo Wiens sagt unter Berufung auf den hervorragenden Theologen des Alten Testaments Gerhard von Rad, dass die Gerechtigkeit der grundlegendste Begriff im Alten Testament überhaupt ist (Wiens 1998, S. 165). Gott ist ein Gott der Liebe, aber auch ein Gott, der Gerechtigkeit liebt (Psalm 37, 28). … ich bin der Herr, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt … (Jeremia 9, 23). Ich bin der Herr, der das Rechte liebt; und hasse räuberische Brandopfer… (Jesaja 61, 8). Gerechtigkeit und Liebe dürfen nicht voneinander getrennt, noch viel weniger gegeneinander ausgespielt werden. Hier trifft der Ausspruch zu: Liebe ohne Gerechtigkeit ist stets ein süßes Gift; Gerechtigkeit ohne Liebe Arznei, die tödlich trifft. Im Gegensatz zur Gerechtigkeit wird im Alten Testament die Ungerechtigkeit (sprich Korruption) als eines der größten Verbrechen der Führer des Volkes hingestellt, größer noch als das der Unmoral (vgl. Wiens 1998). Die Propheten, besonders Amos und Jeremia, geben dafür viele Beispiele. Die Könige werden aufgefordert, das Volk “mit Gerechtigkeit” zu richten und das Recht des Elenden herzustellen (Psalm 72, 1-2). Gerechtigkeit geht weiter als die Bestrafung der Verbrecher nach dem Gesetz. Gerechtigkeit im biblischen Sinne heißt immer auch “Wiederherstellung”, “Gutmachung”, “Heilung” und “Herstellung des Friedens (Shalom)”. Es geht um die Wiederherstellung des Täters wie auch seines Opfers. In diesem Sinne ist es Aufgabe christlicher Machthaber, dafür zu sorgen, dass durch entsprechende Gesetzgebung Gerechtigkeit für alle geschaffen wird, ganz besonders aber für die Benachteiligten, Rechtlosen und Armen. “Gerechtigkeit übt, wer dem Hilflosen beisteht.”
Friede ohne Gerechtigkeit ist weder Friede noch Gerechtigkeit. Dieser Ausspruch, der von Politikern oft zitiert, aber selten entsprechend praktiziert wird, hat biblischen Grund. Wenn in einem Land materieller Wohlstand herrscht, bedeutet das noch nicht, dass Friede und Gerechtigkeit herrschen. Wohlstand wurde oft auf der Grundlage der Ausnutzung erworben bzw. dadurch, dass man den eigenen Angestellten nicht das gibt, was eine christliche Ethik und Gerechtigkeit fordert.
Im Neuen Testament ist das Merkmal des Reiches Gottes Gerechtigkeit: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, … (Matthäus 6, 33). Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist (Römer 14, 17). Jesus preist die selig, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, und die, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden (Matthäus 5, 6 und 10). Die Bibel spricht von der Gerechtigkeit, die Gott den Menschen durch die Vergebung schenkt, und darüber hinaus von der Gerechtigkeit, die der Mensch üben soll. Die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit -, … (Epheser 5,9). Seinen jungen Mitarbeiter Timotheus fordert Paulus auf: Jage aber nach – der Gerechtigkeit, … (1. Timotheus 6, 11).
Das Neue Testament spricht das Thema der Gerechtigkeit wohl meistens im Rahmen der Gemeinde an. Doch Christen, die inmitten dieser Welt leben, werden sich keineswegs damit begnügen, Gerechtigkeit auf die Gemeinde zu beschränken. Das ist nicht der Sinn der Bibel. Christen werden nicht nur aufgefordert zu lieben, sondern mehr noch aufgerufen, Gerechtigkeit zu üben – an allen Menschen und unter allen Umständen. (>Macht, >Politik.).
Gerhard Ratzlaff
Arnoldo Wiens: Los Cristianos y la corrupción: Desafíos de la corrupción a la fe cristiana en América Latina. Barcelona: Editorial CLIE, 1998; Benjamin W. Redekop und Calvin Redekop: Power, Authority and the Anabaptist Tradition. Baltimore and London: The John Hopkins University Press, 2001.