Jahrbuch 2005

Inhaltsverzeichnes

Begleitwort zu dieser Nummer

Dass Männer Geschichte machen war früher ein geflügeltes Wort. Heute wissen wir, dass Männer allein keine Geschichte machen. Sie brauchen zahlreiche Mitwirkende, Männer und Frauen, und sie brauchen eine Zeit und ein Umfeld, das es ihnen ermöglicht, sich in der Gesellschaft hervortun zu können. Die politische Konstellation sowie die sozio-ökonomischen Bedingungen tragen dazu bei, dass Männer und Frauen aus der Masse hervortreten, um ihren Mitmenschen zu helfen oder aber um sie zu schikanieren. Ob sie sich für die eine oder andere Option entscheiden, hängt von vielen Dingen ab. Zu nennen sind da beispielsweise Anlage und Erziehung, Erfahrung und Werteordnung, aber auch Umstände und Gelegenheiten.

 

Im Folgenden veröffentlichen wir hier die Biografien von fünf mennonitischen Männern und einer Frau. Es handelt sich dabei um Personen, die inmitten widriger Umstände sich selbstlos für ihre Mitmenschen eingesetzt haben, die sich in existenzieller, materieller oder geistiger Not befanden. Sie waren bereit, Führungsaufgaben zu übernehmen, die ihnen von ihren Mitmenschen übertragen wurden oder für die sie sich von Gott berufen wussten. Dass bei den behandelten Personen die Männer überwiegen, versteht sich bei den älteren Mennoniten fast wie von selbst. Meistens standen nur Männer auf verantwortlichen Posten in der Öffentlichkeit. Wir wissen jedoch, dass auch Frauen in der Öffentlichkeit Aufgaben übernahmen, sobald die Männer nicht mehr da waren. Hinzu kommt, dass viele ihrer Arbeiten in der Öffentlichkeit nicht beachtet und schon gar nicht in Publikationen verbreitet wurden. Wir sind daher froh, dass wir hier stellvertretend für die vielen weiblichen Helfer unter den Mennoniten eine Frau präsentieren können, die vielen Menschen eine praktische und seelische Hilfe gewesen ist.

 

Benjamin Heinrich Unruh, der selber in Russland geboren war, hat als Lehrer, Forscher und Staatsmann viel für seine Brüder und Schwestern in Russland, Brasilien und Paraguay getan. Er hat Tausenden von Flüchtlingen geholfen, die verfolgt und heimatlos waren. Er trug dazu bei, dass sie eine neue Heimat fanden, erntete dabei aber nicht nur Lob. Gelegentlich zeigte er sich daher ihnen gegenüber als ein strenger Vater, der sie ermahnte und belehrte. Diese Tätigkeit nahm ihn so in Anspruch, dass er als Lehrer und Forscher immer kürzer treten musste. Und doch, seine Wissbegier und sein Forscherdrang haben ihn Zeit seines Lebens immer wieder motiviert, zu forschen, zu publizieren und zu lehren.

 

Jakob Kröker, den viele Mennoniten in Russland und Paraguay aus seiner Missionstätigkeit „Licht im Osten“ in Wernigerode kennen, ist aber auch als Evangelist, Schriftsteller und Theologe über die mennonitischen Kreise hinaus bekannt geworden. Seine biblischen Kommentare fanden weite Verbreitung und waren eine praktische Hilfe für die Mitarbeiter in Gemeinde und Kirche.

 

Martin W. Friesen, der Geschichtsschreiber von Menno, gehört inzwischen selber der Geschichte an. Seine Verdienste als Lehrer, Sekretär des Kolonieamtes und als Historiker sind durch seine eigenen Publikationen weit über die eigene Kolonie hinaus bekannt geworden. Er war ein Pionier im wahrsten Sinne des Wortes, der unter primitiven Bedingungen auf dem Gebiet des Schulwesens, des Druckgewerbes und der Geschichtsschreibung Hervorragendes geleistet hat.

 

Wer die ersten 25 Jahrgänge des „Mennoblatts“ in Händen hält, kommt nicht umhin, immer wieder auf den Namen Nikolai Siemens zu stoßen. Er ist nicht nur der Schriftleiter und Drucker dieser ersten deutschsprachigen Zeitung im paraguayischen Chaco, sondern zugleich auch ihr bester Reporter. Seine Wissbegierde, seine Toleranz und seine christliche Überzeugung motivierten ihn für seinen Dienst an der Gemeinschaft und ließen ihn zugleich bei Bedarf deren enge Grenzen überschreiten.

 

Peter Derksen, der langjährige Oberschulze in Neuland, der das Elektrohandwerk in der Sowjetunion erlernt hatte, kam auf wundersame Weise nach Neuland im paraguayischen Chaco, wo er 25 Jahre lang auf Wunsch seiner Mitbürger die Geschicke der Kolonie in führender Position mitbestimmte. Er wusste sich für diese Aufgabe von Gott berufen, was ihm auch die jahrelange positive Zusammenarbeit mit den Mennoniten in Nordamerika bestätigte. Für diejenigen, die nicht nach Kanada oder Deutschland auswandern konnten oder wollten, war er ein überzeugendes Beispiel dafür, dass man auch im Chaco die Hoffnung nicht aufgeben darf und an die Zukunft glauben kann, auch wenn große Schwierigkeiten den Weg zu verstellen drohen.

 

Wer in den dreißiger und vierziger Jahren in Fernheim oder Menno krank wurde, wusste wo Hilfe zu holen war, nämlich bei Katharina Ratzlaff Epp in Dorf Nr. 16. Sie hatte in der Sowjetunion eine Ausbildung als „Trachtmoakasche“, als Hebamme und Krankenschwester erhalten und wurde nun, als es in diesen Siedlungen keinen fest angestellten Arzt gab, zu „Doktor Eppsche“. Vielen Kranken konnte und musste sie bei Tag und Nacht helfen, wenn sie ihrer Berufung treu bleiben wollte. Dass die Familie dabei oft zu kurz kam, hat sie besonderes in den späteren Jahren tief bereut. Doch ihre Kräfte reichten nicht für alles, und da, wo die Not am größten war, da packte sie zu und schaffte Heilung mit ihren helfenden und segnenden Händen.

 

Biografien ganz anderer Art sind die Lebensgeschichten dreier Lenguaindianer die uns Ernesto Unruh und Hannes Kalisch dankenswerter weise zur Verfügung gestellt haben. Auf diese Weise erhalten wir aufschlussreiche Einblicke in die Lebenserfahrung und Denkweise unserer Mitbewohner im Chaco, die hier bereits zu Hause waren, als die Mennoniten herkamen. Die Berichte, die hier in deutscher Übersetzung vorliegen, sind für uns besonders wertvoll, da sie in ihrer Muttersprache an ihre Stammesgenossen erstattet wurden. Dass dabei die Vergangenheit gelegentlich in einem verklärten Licht erscheint, ist uns nur zu bekannt. Das kennen wir aus den Erzählungen unsere Eltern und Großeltern, wenn sie vom früheren Leben in dem ehemaligen Heimatland Russland berichteten. Wir tun gut daran, die hier veröffentlichten Berichte ernst zu nehmen, denn Vorstellung und Erinnerung spielen bei der Bewältigung der Gegenwart eine wichtige Rolle. Das gilt vor allem dann, wenn es um die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft geht.

 

Felizia Wolf und Eugen Friesen bringen ihre Erkenntnisse über das Leben der Menschen in dieser Welt in Gedichtsform zum Ausdruck. In wenigen Worten versuchen sie menschliche Erfahrungen und Einsichten einzufangen und ihren Mitmenschen bewusst zu machen. Dass einer von ihnen das sogar in spanischer Sprache zu tun vermag, zeigt, dass unsere jüngere Generation allmählich beginnt, sich auch in kultureller Hinsicht in unserem neuen Heimatland zu integrieren.

 

Wie Blitzlichtaufnahmen aus dem Alltag wirken die Kurzgeschichten von Beate Penner, die als Lehrerin sich sehr gut in die Denk- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen versetzen kann. Zum vertieften Nachdenken über Sitte und Moral in unseren Kolonien und Gemeinden regt die längere Erzählung von dem bewährten Schriftsteller Peter P. Klassen an. In „Eine doppelte Beichte“ hält der Autor uns einen Spiegel vor Augen, indem erkennbar wird, wie herzlos und umbarmherzig Gemeinden mit ihren Gliedern umgehen, wenn bei „Fehltritten“ Prinzipien und nicht Menschen im Mittelpunkt des angestrebten Reinigungsprozesses stehen.

 

Wir danken den Mitarbeitern dieses Jahrbuchs für ihre Beiträge und hoffen, dass der Leser in diesem reichhaltigen Angebot etwas findet, was sein Wissen bereichert, seine Erkenntnis vertieft, seinen Lebensmut stärkt und seinen Tatendrang beflügelt.

 

Jakob Warkentin
 

Vorträge

Kulturelle Beiträge

„Biografie einer gewöhnlichen Frau

Mein Name ist Marlene
ich könnte genauso Helga, Käthe oder Marta sein
Hab heute zwei Söhne und drei Töchter
Das vierte Mädchen starb
Von Anfang an bin ich dabei gewesen
Im Chaco, hier, wo heute Filadelfia liegt

Erst Chortitza in Russland
Ein langer Weg von dort nach hier
Mein Leben war wie viele andere auch
Keine besonderen Verdienste
Habe Helmut mit neunzehn geehelicht
Sechs Kinder haben wir bekommen
Geliebt, gefüttert und erzogen
Eine Familie von vielen
Es gibt nichts Großes zu erwähnen

Der Chaco war nur schrecklich
Und trotzdem haben wir´s geschafft
Weltweit hat der Krieg gemordet
Wir hatten unsern eigenen Krieg
Opfer gab es hier wie drüben
Hunger, Not, ob Kälte oder Hitze und Staub

Die Kinder weinten… ich konnte nur trösten
Habe nie Besonderes getan
Bohnen gekocht, Hosen genäht
Und Liebe gegeben
Genau wie die vielen anderen auch

Man wird nie von mir sprechen
Was ich getan, war immer meine Pflicht
Und doch bin ich dankbar
Habe geschafft mich glücklich zu nennen
Mein Leben ist vorbei
Der Grabstein verwittert vielleicht bald
Doch, Leute seht, wir reichen uns einander
in Liebe auch heute noch die Hand
Und nur darauf kommt es an.

 

Prosadichtung von Felizia Wolf
 

El desgaste del tiempo

Las olas chocan contra las rocas,
las perfilan, las desgastan, las destruyen.
Rocas orgullosas que en tiempos
antaños se erguían ante
el impetuoso mar
fueron reducidas a figuras
macabras y humilladas.
Olas suaves
pero insistentes han logrado
transformarlas y han obligado
a que se arrodillasen ante su poder.
El tiempo es la ola
de mi vida y me perfila,
me desgasta, me destruye.

Eugen Friesen
 

La Utopía

El hombre vive sobre la tierra,
la domina, la explota, la destruye.
El hombre necesita
dominar, explotar y destruir.
Hombre es sinónimo de vicio,
de anhelo, de poder, de maldad.
Mas el hombre tiene el íntimo
deseo de mejorar el mundo,
construir la paz
la justicia,
la libertad.
燈 no?

Lo que el hombre desea,
lo inventa, lo crea
aunque sea mentalmente
a través de su fantasía.
Nadie se lo puede impedir,
ni siquiera el Big Brother es capaz
de controlar la mente humana,
sus pensamientos y emociones.
燈 sí?

Utopía, palabra misteriosa
y peligrosa,
cuya intención es buena
pero sus consecuencias
pueden ser terribles.
El razonamiento,
producto lógico
de la reflexión humana
debe ser utilizado para
mejorar el mundo.
Sólo la buena voluntad
será capaz de mejorar
el mundo.
Quizá.

Eugen Friesen
 

Momentos de felicidad

Pájaros que vuelan,
presentes por un ínfimo
instante y luego
desaparecen para siempre,
pero no sin dejar rastros en mi memoria.
Amores que marcaron
hitos en mi vida,
que fueron ráfagas
en mi alma ardiente y agitada.
Amores que aliviaron
mi existencia un momento
para después dejarla aun más
desierta y destrozada.
Bandada pasajera
y fugaz, felicidad
efímera e inconstante
que dejó sabores
agrios casi imperceptibles
sobre la lengua
y que no pudieron desaparecer.
Búsqueda constante
del sentido de la vida,
fracasos incontables que
me hicieron acordar
de qué débil e impotente
soy.

Eugen Friesen

Vida de doble cara

Tú eres el anverso y el reverso de la moneda,
eres al mismo tiempo luz y oscuridad,
bendición y maldición, cuna y tumba.
Eres un hipócrita, Tartufo perdido.

Afirmas ser una buena persona,
y por fuera, realmente luces bien;
mas por dentro, y te es imposible ocultarlo,
eres una masa podrida y maloliente.

Eres un recipiente brillante y dorado,
benévolo, hermoso y perfumado;
pero hedionda, asquerosa,
indiferente y perversa es la substancia.

Dices estar preocupado
por la pobreza de los demás,
rezas por ellos, suplicas a Dios
que Él les dé de comer.

Pero tú no estás dispuesto
a dar, ni siquiera una sonrisa.
ignoras la pobreza a tu alrededor,
te burlas de los menos pudientes.

Jamás el hambre fue saciada
por oraciones o por deseos.
Lo que necesita el hambriento es más,
mucho más, es material, es masticable.

Llegarás a experimentar un momento
de tu existencia, en el que aquellos,
que ahora son ignorados por ti,
se reirán y se burlarán de ti.

La hipocresía, al igual que la mentira,
tiene existencia limitada, y el envoltorio
hermoso que exhibes, algún día será carcomido
por la podredumbre de tu corrompido ser.

 

Eugen Friesen

Samuel

„Halt, halt!“ Samuels Gewissen warnt ihn. Schon öfters hat er kleine Notlügen benutzt, um sich aus einer Sache herauszuziehen. Aber diesmal ist es wohl keine Notlüge mehr. Zu sagen, man kenne seinen bisher besten Freund nicht, ist schon sehr gemein.

 

Clark und er haben sich immer so gut verstanden. Seit den ersten Kinderjahren haben sie zusammen gespielt und haben bis zu den wildesten Teenagerjahren zusammen gehalten. Aber in den letzten Wochen hat sich alles geändert.

 

Die Sache fing damit an, dass José in die Klasse kam. José ist einfach ein cooler Typ. Er hat die tollsten Klamotten, die neuesten CD’s und Eltern, die ihm alles erlauben. Josés Freund zu sein ist wirklich eine Ehre. Samuel hatte sich sofort gut mit ihm verstanden. Clark war von Anfang an skeptisch gewesen und hatte Samuel gewarnt: „Vorsicht, Samuel! José mag zwar alles haben, aber er kennt Gott nicht.“ „Ach, was soll’s“, hatte Samuel entgegnet. „Darf man denn immer nur fromme Freunde haben?“ Clark hatte damals nichts erwidert. Samuel und José hatten sich angefreundet und immer mehr zusammen unternommen. Anfangs hatte Samuel nicht überall mitmachen wollen. Aber mit der Zeit hatte er sich in Josés Kreise integriert und fühlte sich dort auch immer wohler.

 

Heute, vor einigen Minuten, hatte er seine Freundschaft zu Clark verleugnet. Sie hatten es sich als Freundesgruppe gerade an einer Straßenbar gemütlich gemacht, als Clark vorbeigegangen war. Die Gruppe Jungen hatte sich über ihn lustig gemacht. Sein Aussehen und sein ganzes Verhalten waren einfach total anders als bei diesen Jungs. Samuel hatte mitgelacht, wenn auch mit gemischten Gefühlen, und gesagt, diesen Kerl kenne er nicht. Tief in sich drinnen verachtete Samuel sich selbst dafür.

 

Je mehr Zeit vergeht, desto mehr entfremden sich Clark und Samuel. Einmal, nach längerer Zeit, treffen sie sich und es entsteht eine lebhafte Diskussion. Clark wirft Samuel nicht vor, dass er sich andere Freunde gewählt hat, sondern sagt, dass er sich Sorgen um ihn mache. „Sorgen? Um mich?“, fragt Samuel verwundert. „Ja“, sagt Clark. „Schau mal, Samuel. Du weißt, dass wir dahin erzogen wurden, ehrlich und verantwortlich zu sein und ein Leben zu führen, wie Gott es gefällt. Dass ich aber bei dir sehe, dass du dich diesen Werten, die uns unsere Eltern stets lehrten, immer mehr entziehst, stimmt mich traurig.“ Samuel versucht zu seiner Verteidigung einige Argumente vorzubringen. Doch die Diskussion endet so, dass die beiden Freunde sich nicht näher kommen und weiter ihr Leben leben.

 

Es vergehen viele Jahre. José gehört längst nicht mehr zu Samuels Bekanntenkreis. Aber er hat einen tiefen Einfluss auf Samuels Leben ausgeübt. Des Öfteren wünscht sich Samuel, er hätte José nicht kennen gelernt. Aber er weiß nur zu gut, dass es viele ‚Josés’ auf dieser Welt gibt und dass er vielleicht auch schon manchmal einer gewesen ist.

 

Heutzutage hat er immer noch manchmal Probleme, bei der Wahrheit zu bleiben. Aber er arbeitet damit und kämpft dafür, dass Werte wie Verantwortung und Ehrlichkeit wieder festen Fuß in seinem Leben fassen. Seine Kinder straft er, wenn sie nicht ehrlich sind. Vor so vielem will Samuel seine eigenen Kinder bewahren. Aber er ist Realist genug um zu wissen, dass jeder sein Leben lebt und seine Taten verantworten muss. Er musste es und muss es immer noch! Wieso sollte es bei seinen Kindern anders sein!?

 

Beate Penner
 

Die besondere Freundschaft

„Mist!“ Jessi warf den Stift weg. Diese Hausaufgabe war nun wirklich sehr schwer. Was die Frau Loewen auch immer für Ideen hatte! In der heutigen Deutschstunde hatten sie über Freundschaften gesprochen. Ihre Hausaufgabe war es nun, über eine ganz besondere Freundschaft einen Aufsatz zu schreiben. Aufsätze waren sowieso nicht ihre besondere Stärke und jetzt auch noch so ein schwieriges Thema. Frau Loewen hatte noch hinzugefügt, es müsse nicht notwendigerweise ein Erlebnis von ihnen sein. Aber wen sollte sie fragen? Ihr Papa war nicht da und ihre Mama hatte so viel zu tun, dass sie nicht wagte, sie um Hilfe zu bitten.

Während sie noch überlegte, was sie schreiben könne, hörte sie den alten Peugeot ihres Großvaters die Auffahrt entlang kommen. Der wöchentliche Besuch des Opas war immer etwas Besonderes. Warum musste sie gerade heute diesen Aufsatz schreiben?

Sie blieb vor ihrem Heft sitzen und hörte nach kurzer Zeit, dass ihr Opa an die Tür ihres Zimmers klopfte. „Herein“, sagte Jessi. Der Opa steckte den Kopf zur Tür rein und begrüßte sie freundlich, wie er immer war. „Hallo Jessi! Musst wohl viel zu tun haben, wenn du nicht einmal Zeit hast, deinen alten Opa begrüßen zu kommen.“ „Tut mir leid, Opa! Aber so ist es auch. Ich sitz nun schon fast eine Stunde über meinen Hausaufgaben und komme nicht weiter. Weißt du, wir sollen nämlich für morgen eine Geschichte, die von einer besonderen Freundschaft erzählt, schreiben. Und mir fällt absolut nichts ein.“ Im Stillen freute Jessi sich, dass der Opa gekommen war, denn Opa war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Vielleicht, so hoffte sie, könnte er ihr weiterhelfen. Opa zögerte auch nicht lange, zog sich einen Stuhl näher an den Schreibtisch, faltete seine Hände und drehte Däumchen. Jessi wusste, jetzt kommt bald eine Geschichte. Diese Geste kannte sie vom Opa schon. Sie lehnte sich gemütlich zurück. Da begann Opa auch schon zu erzählen: „Weißt du Jessi, vor langer Zeit, ich war damals etwa so alt wie du, hatte ich einen ganz besonderen Freund. Ich erzähl dir mal von ihm. Er hieß Juan. Juan war Soldat während des Chacokrieges. Du hast doch bestimmt schon vom Chacokrieg gehört, oder?“ Jessi nickte, gerade in der letzten Woche hatte Frau Loewen ihnen davon erzählt. „Es war an einem sehr heißen Sommertag. Wir saßen in der Schule und hatten gerade angefangen, aus der Fibel eine Geschichte zu lesen. Plötzlich bemerkten wir, dass sich draußen auf dem Schulhof etwas zu regen begann. Mein Lehrer gebot uns, auf unseren Plätzen sitzen zu bleiben und uns ruhig zu verhalten. Er selber ging raus und schaute nach, was los war. Natürlich blieben wir nicht auf unseren Plätzen sitzen. Alle sausten wir zum Fenster um mitzuverfolgen, was passieren würde. Was wir sahen, schockierte uns. Der ganze Schulhof war mit Männern besetzt, die eine grüne Uniform trugen. Dass es Soldaten waren, wussten wir damals noch nicht. Wir hatten noch nie welche gesehen. Es dauerte nicht lange und unser Lehrer war wieder im Klassenraum. Er befahl uns, unsere Sachen zu packen. Der Unterricht sei für heute gelaufen. Er wisse nicht, wann wir wieder in diesem Klassenraum Unterricht haben würden. Die Soldaten (sie waren vom paraguayischen Heer) würden ab jetzt unsere Schule besetzen. Wir verstanden zwar nichts, packten aber unsere Sachen und liefen mit der Neuigkeit nach Hause. Zwei Tage später schickte mich meine Mutter mit einem Korb Zwieback und etwas frischer Räucherwurst zur Schule. Ich solle sie den Soldaten geben, so sagte sie. Anfangs wollte ich überhaupt nicht; ich hatte Angst. Aber wie ich meine Mutter kannte, gab es sowieso keine Alternative für mich. Also machte ich mich auf den Weg. Schon von Weitem sah ich, dass an der Einfahrt zur Schule ein Soldat hockte, ganz allein. Meine Schritte verlangsamten sich immer mehr, und mein Herz klopfte mit jedem Schritt schneller. ‚Hola’, so begrüßte der Soldat mich. ‚Hola’ sagte auch ich. Ich konnte zwar kein Spanisch, hatte aber schon öfters von den großen Jungen gehört, dass man sich in Spanisch so begrüßt. Ich lugte um die Ecke und hielt nach dem Rest der Soldatenschar Ausschau. Aber nirgendwo war jemand zu sehen. Sie waren wohl alle ausgeritten. Ich gab dem Soldaten den Korb mit den Zwieback und der Wurst und wollte mich schleunigst aus dem Staub machen. Doch der Soldat zeigte mit einer Handbewegung, dass ich mich zu ihm setzen solle. Er zeigte auf sich und sagte: ‚Juan’. Ich nahm an, es war sein Name und machte es ihm nach: ‚Heinrich’, sagte ich und zeigte auf mich. Sonst haben wir nichts miteinander erzählt. Ich musste auch bald wieder los. Aber seit diesem Tag drängte ich mich förmlich danach, den Soldaten Essen oder Wasser zu bringen. Jedes Mal, wenn ich zur Schule kam, saß ich eine Weile neben ihm. Wir konnten nicht miteinander sprechen, weil er nicht Deutsch und ich nicht Spanisch sprach. Aber wir verstanden uns. Juan hatte ein tolles Taschenmesser. Das durfte ich manchmal halten und einmal verschnitt ich damit sogar eine Wassermelone. Juan wurde mein Freund, obwohl wir uns nur mit Zeigen und Lächeln verständigten. Als die Soldaten nach drei Wochen wieder aus dem Dorf zogen, kam Juan noch einmal extra zu uns auf den Hof um sich zu verabschieden. Zum Abschied schenkte er mir sein Taschenmesser. Wir haben uns seitdem nie mehr gesehen. Aber Juan war und bleibt für mich ein ganz besonderer Freund.“

Jessi war ganz hingerissen von der Geschichte. Sie lächelte ihren Opa an, nahm ihren Stift zur Hand und begann zu schreiben…

Beate Penner
 
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