Kolonie

Kolonien nennen die eingewanderten >Mennoniten in >Paraguay die von ihnen gegründeten Siedlungen. Bezeichnung und Organisation folgen dem Muster der mennonitischen Kolonien in Russland. Danach besteht eine Kolonie aus einer Gemeinschaft von Mennoniten, die auf einem Territorium, auf das die Gemeinschaft einen Landtitel besitzt, wohnen und wirtschaften und dieses gemeinschaftlich und weitgehend autonom verwalten. Sie bilden damit eine politische, soziale, kulturelle und ökonomische Verwaltungseinheit. Eine Kolonie kann zwischen einem und über hundert Dörfern (wie die Kolonie >Menno) haben, die in der Regel als Straßendörfer angelegt sind. Die Einwohnerzahl reicht von wenig über 100 Einwohnern bis zu über 9000 in der Kolonie Menno. In der Regel besitzt jede Kolonie ein Zentrum, in dem sich Verwaltung, gemeinschaftliche Einrichtungen und Produktionsbetriebe angesiedelt haben. Sowohl das einzelne Dorf wie auch die gesamte Kolonie werden gemeinschaftlich verwaltet. Die Kolonie ist in der Rechtsform einer >Asociación Civil (eines bürgerlichen Vereins) organisiert. Diese Asociación, die von einem Verwaltungsrat mit einem >Oberschulzen an der Spitze geführt wird, organisiert innerhalb der Kolonie die gesamte öffentliche Verwaltung, d. h. sie unterhält das Sozialwesen mit Krankenhaus, Kranken- und Rentenversicherung, >Waisenamt, Alten- und sonstige >Wohnheime und Sozialdienste sowie gemeinsam mit den anderen Kolonien ein psychiatrisches Krankenhaus (>SMSM, >Sanatorio Eirene); das Schulwesen mit Schulverwaltung, Primar- und Sekundarschulen sowie in Zusammenarbeit mit anderen Kolonien eine >Berufsschule, eine >Hauswirtschaftsschule, ein >Institut für Lehrerbildung sowie Ausbildungsstätten für Krankenschwestern; eine Wegbauabteilung, die die gesamten Wege innerhalb der Kolonien (in Menno mehrere Tausend Kilometer) unterhält bzw. neue Wege baut; einen eigenen Ordnungsdienst (Ordnungsamt) mit den so genannten Ordnungsmännern, die intern für eine Art Polizeidienst sorgen; die Verwaltung der Ländereien, die den Kolonie”bürgern” durch Zessionsverträge zur Nutzung überlassen werden; eine zentrale Verwaltung, die alle diese Dienste organisiert. Finanziert werden diese Dienste durch ein eigenes Abgabensystem, das teilweise aus festen Auflagen, teils aus einem prozentualen Anteil auf Lohn, Produkte oder den Umsatz besteht. Da das Nutzungsrecht an den Grundstücken innerhalb der Kolonie nur an Mitglieder der Gemeinschaft weiterverkauft werden darf, bleiben die Kolonien weitgehend geschlossene Gesellschaften. Bis zum Beginn der Demokratisierung im Jahr 1989 stellten viele Kolonien, vor allem die im Chaco, de facto einen Staat im Staate dar. Durch die Einrichtung staatlicher Institutionen im Gebiet der Kolonien wie Gobernación, Municipalidad, gerichtliche Institutionen und nationale Polizei müssen sich nun Kolonieverwaltung und ihre Abteilungen sowie die staatlichen Institutionen viele ihrer Funktionen teilen. Dieser Prozess ist im Gange, läuft nicht immer reibungslos ab, wird aber in zunehmendem Maß durch Absprache und Verträge geregelt. Einen solch hohen Organisationsgrad zeigen vor allem die weltoffeneren Kolonien wie >Menno, >Fernheim, >Neuland, >Friesland und >Volendam. Typisch für diese Kolonien ist auch, dass sich die Bürger einer Kolonie in einer >Genossenschaft (Kooperative) organisiert haben, die wichtige Funktionen in Handel und Verarbeitung der Produkte übernimmt. Diese Genossenschaften werden in Personalunion von denselben Gremien geleitet, die auch die Asociación Civil führen. Kolonie und Kooperative haben sich zu wirtschaftlich stabilen Institutionen entwickelt, die den meisten Mitgliedern einen relativ hohen Lebensstandard sichern, die ihrerseits vielen Mitgliedern Arbeitsplätze in den verschiedenen Einrichtungen anbieten. Als wirtschaftlich dynamische Regionen regen sie andererseits auch die Gründung von Privatunternehmen in Handel und Handwerk an und werden zu Anziehungspunkten für die Bevölkerung im weiteren Umland. Besondere Herausforderungen sind die großen Unterschiede in Einkommen und Besitz, die Verständigung und das friedliche Zusammenwachsen der deutsch-mennonitischen Bevölkerung mit den anderen Bevölkerungsgruppen vor allem in den Zentren der Kolonien unter gleichzeitiger Bewahrung der eigenen Identität.
Michael Rudolph
Peter P. Klassen: Die Mennoniten in Paraguay. Reich Gottes und Reich dieser Welt. Bolanden-Weierhof: Mennonitischer Geschichtsverein e.V., 1988. Jakob Warkentin: Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur- und Entwicklungspolitik. Münster u. a.: Waxmann Verlag, 1998, S. 9f.