Traditionelle Mennoniten in Paraguay

Als traditionelle Mennoniten werden in Paraguay diejenigen bezeichnet, die an ihrer überlieferten Lebensweise festhalten und keine Neuerungen in ihrer Gemeinde einführen möchten. An den alten Ordnungen festzuhalten, ist der ausdrückliche Wunsch der >Ältesten und Lehrer. Sie lesen vor allem die Schriften von >Menno Simons, Gerhard Wiebes “Auswanderung der Mennoniten von Russland nach Kanada”, Isaak M. Dycks “Auswanderung der Mennoniten von Kanada nach Mexiko” und vielleicht einige andere ähnliche Schriften. Auf dieser Literatur gründet ihr Geschichtsverständnis.
Zu den traditionellen Mennoniten gehören in chronologischer Reihenfolge die Gemeinden in den >Kolonien >Sommerfeld, >Bergthal, >Reinfeld, >Rio Verde, >Santa Clara, >Durango und >Manitoba. Sie werden auch als >Altkolonier bezeichnet, weil sie alle ihre Geschichte auf Chortitza, die alte Kolonie in Russland, zurückführen. Offiziell tragen die meisten von ihnen jedoch nicht diesen Namen. In Kanada gab es eine Reihe von Spaltungen und verwirrende Namensverschiebungen unter ihnen, die nur für wenige Experten überschaubar sind. Auf ihren Wanderwegen von Russland über Kanada oder über Kanada/Mexiko nach Paraguay haben sich auch unter ihnen verschiedene Formen in der Lebensweise entwickelt. Für die einen ist eine bestimmte Kleidertracht verpflichtend, für die anderen nicht; die einen fahren Autos, den anderen ist es verboten. Doch in der Gemeindestruktur und -praxis und im Schulwesen unterscheiden sie sich kaum voneinander.
Die Gemeinde und ihre Autorität in der Person des Ältesten und des >Lehrdienstes steht im Mittelpunkt der Siedlungsgemeinschaft. Die Gemeinde ist das bestimmende Organ auch für Schule und Verwaltung der Kolonie. Alle erwachsenen Bürger sind Glieder der Gemeinde und niemand wird in die Kolonie aufgenommen, der nicht zuerst Glied der Gemeinde wird. Der Heirat muss in jedem Fall die Taufe vorangehen. Das heißt, spätestens kurz vor der Heirat erfolgt die Taufe. Die meisten lassen sich im Alter von 18 bis 20 Jahren taufen. Der Taufe geht der Katechismusunterricht voraus, den jeder vor der Taufe kennen muss. Der Wortlaut des Katechismus stammt aus dem Jahre 1783 aus Elbing in Preußen und ist von Generation zu Generation neu aufgelegt und weitergegeben worden. Die Taufe wird einmal im Jahr vollzogen und zwar am Pfingsttage. Die Taufe ist ein sehr grundlegender und verbindlicher Akt für alle Beteiligten, sowohl für die Taufkandidaten als auch für die Gemeinde. Einen Sonntag vor der Taufe legt der Täufling vor der ganzen Gemeinde ein Gelübde ab, in dem er verspricht, der Gemeinde treu zu bleiben, sich ihr zu unterordnen und den überlieferten Traditionen treu zu bleiben. Am Pfingsttage nehmen die Täuflinge, in Schwarz gekleidet, auf der vordersten Bank der Kirche Platz. Nach Gesang, Gebet und Predigt folgt die Taufe, die immer vom Ältesten vollzogen wird. Nach Beantwortung einiger Fragen knien die Taufkandidaten nieder, und die Taufe wird vollzogen durch dreimaliges Begießen und das Sprechen der Taufformel: Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Daraufhin reicht der Älteste jedem Getauften die Hand und richtet ihn auf mit den Worten: Bruder/Schwester, sei willkommen in der Gemeinde des Herrn.
Gottesdienste finden ohne Ausnahme nur an den Sonntagen statt. Daran beteiligen sich in der Regel alle Gemeindeglieder und nicht getaufte Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr, nicht jedoch die jüngeren Kinder. Der Gottesdienst beginnt in aller Frühe schon bald nach Sonnenaufgang. In der Kirche sitzen Männer und Frauen getrennt. Die Stimmung ist feierlich und ernst. Feierlich und mit ernster Miene treten auch die Vorsänger und die Ohms (Prediger) in den Versammlungsraum und nehmen vorne neben der Kanzel ihren Platz ein. Alles verläuft nach einer festen, vorgeschriebenen Form und Ordnung. Jedes Gemeindeglied hat in der Regel ein Gesangbuch zur Kirche mitgebracht. Einer der vorne sitzenden Vorsänger sagt die Nummer eines Liedes an. Der Vorsänger singt die erste Zeile des Liedes und die ganze Gemeinde folgt ihm einstimmig mit durchdringenden Tönen. So haben sie es von ihren Vorfahren übernommen, so geben sie die Form an ihre Nachkommen weiter. Mehrstimmiger Gesang, Chor und Begleitung des Gesanges mit Musikinstrumenten sind undenkbar und Zeichen der Verweltlichung.
Nach dem Gesang steigt der Prediger bzw. der Älteste auf die Kanzel. Nach dem Segensspruch kniet die Gemeinde zum Gebet nieder. Dann folgt die Predigt. Aus einem Heft wird die Predigt in gebrochenem Hochdeutsch, doch gut verständlich, vorgelesen. Sie kann fast eine Stunde dauern. In der Predigt verweist der Redner auf den Ernst und die Gefahren der Zeit, die die Gläubigen bedrohen.
Nach der Predigt knien sich noch einmal alle zum stillen, feierlichen Gebet nieder und anschließend spricht der >Prediger den Segensspruch nach einer festen, altüberlieferten Formel: Angehend unseren Gottesdienst habe ich der treuen Versammlung nichts mehr vorzutragen, als mich noch für die geneigte Liebe zum Worte Gottes zu bedanken und sage noch zum Beschluss mit dem Manne Gottes, Moses, der Herr segne und behüte uns, er lasse sein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Ja, der Herr bewahre unseren Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Amen (vgl. Klassen 1988, S. 312-315).
Die Prediger und >Ältesten sind sich der Schwere ihres Dienstes voll bewusst. Er ist für sie eine Last und ein Dienst, den sie in großer Schwachheit, Demut und Unvollkommenheit verrichten, wie sie immer wieder hervorheben. Nach ihrem Verständnis stehen sie damit in der biblischen und mennonitischen Tradition. >Menno Simons braucht in seinen Schriften – und diese werden eingehend gelesen – recht häufig die gleichen Wortwendungen.
Die christliche Unterweisung geschieht im Wesentlichen durch das Heim, die Schule und die sonntäglichen Gottesdienste, alles nach althergebrachter Ordnung. Die Schulen, ganz dem >Lehrdienst unterstellt, sind nicht dazu da, “Gelehrsamkeit” (Wissen) zu übermitteln. Sie beabsichtigen, die Kinder zu gehorsamen und traditionstreuen Mennoniten zu erziehen. Fibel, Bibel und das Gesangbuch sind die maßgeblichen Textbücher. Für die Jungen ist sieben Jahre Schulpflicht und für Mädchen nur sechs. Neben Lesen, Schreiben und Auswendiglernen von Liedern, Sprüchen und Gebeten wird eine elementare Einführung in die verschiedenen Rechenarten gegeben. Der Lehrer selber hat keine professionelle Vorbereitung für seine Arbeit. Einen weiterführenden Unterricht gibt es weder für Kinder noch für Jugendliche. Eine organisierte Jugendarbeit mit Singen, Musizieren und Sport ist nicht vorgesehen, sondern wird vielmehr als ein Zeichen des Eindringens der Welt gewertet.
Der Lehrdienst (der Älteste, die Prediger und Diakone) versammelt sich jeden Donnerstag, um alle anfallenden Fragen in der Gemeinde zu besprechen. Sehr oft sind es Disziplinfragen. Die Gemeindezucht wird streng gehandhabt. Dabei stützen sie sich auf Menno Simons. Bei der Taufe und damit beim Eintritt in die Gemeinde verspricht der Bruder/die Schwester, sich der Ordnung der Gemeinde zu unterordnen und im Falle einer Zuwiderhandlung sich der Gemeindedisziplin zu unterwerfen. Lebt nun ein Gemeindeglied nicht nach den Verordnungen der Gemeinde, wird es durch eine dazu beauftragte Person (”Kroaga”) auf sein Fehlverhalten aufmerksam gemacht nach Matthäus 18. Verfehlt die Ermahnung ihre Wirksamkeit, wird das Gemeindeglied vor den Lehrdienst geladen (am Donnerstagvormittag oder am Sonntag nach dem Gottesdienst) und weitere Ermahnungen folgen. Fruchtet alles nichts, so muss der Bann über das betroffene Gemeindeglied verhängt werden.
Dieser Ausschluss kommt einer Ächtung gleich, und in den meisten Fällen sind die Betroffenen zu einer “Versöhnung” bereit, bevor es so weit kommt. Der Gebannte wird gemieden, oft sogar von den nächsten Verwandten; keine Tischgemeinschaft darf stattfinden. Auch aus der bürgerlichen Gemeinschaft ist der Gebannte ausgeschlossen. Nach Möglichkeit ist man bestrebt, alle wirtschaftlichen Beziehungen abzubrechen, das heißt, weder seine Produkte zu kaufen noch ihm etwas zu verkaufen. Doch diese Maßnahmen lassen sich heute kaum noch so einhalten. Auch die Kirche zu betreten ist dem Gebannten untersagt.
Durch solche Maßnahmen soll der Ausgeschlossene bewogen werden, seine “Fehler” einzugestehen und reumütig zur Gemeinde zurückzukehren. Die Neuaufnahme geschieht auf folgende Weise: Der Gebannte meldet dem Ältesten, dass er seine Angelegenheit mit der Gemeinde regeln möchte. Der Betroffene wird eingeladen, im Anschluss an einen Sonntagsgottesdienst bei der Kirche zu erscheinen. Er wird vor den Lehrdienst geladen und bekennt seine Sünde und bittet um die Wiederaufnahme in die Gemeinde. Darauf muss er die Kirche verlassen und der Lehrdienst in der Kirche berät über den Antrag. Dann wird der Gebannte wieder in die Kirche gerufen. Der Gemeindeälteste steht auf der Kanzel. Bußfertig kniet der Betroffene in der Kirche vor dem Ältesten, der von der Kanzel her einen Bibeltext liest und ein Gebet spricht. Daraufhin steigt er von der Kanzel, reicht dem Knienden die Hand und heißt ihn wieder willkommen in der Gemeinde des Herrn.
>Bruderschaften sind Versammlungen, an denen nur Gemeindebrüder teilnehmen. Sie sind die höchste Instanz in der Gemeinde, deren Entscheidungen auch für die Ältesten und den Lehrdienst bindend sind. Bei amtlichen Handlungen wie Predigt, Taufe und Abendmahl ist der Älteste in vielen Gemeinden immer noch verpflichtet, mit hohen, schwarzen Schaftstiefeln (nach Epheser 6, 15) und mit schwarzem Rock zu erscheinen. Das war schon Brauch bei den Mennoniten in Preußen. Als sie nach Russland auswanderten, nahmen sie diese Tradition dorthin mit, und festigten sie noch. So konnte es geschehen, dass in den Pionierjahren in Russland ein Prediger, der nicht die Mittel hatte, sich Schaftstiefel zu kaufen, seine amtlichen Handlungen nicht vollziehen konnte, bis ein bemittelter Bruder aus der Gemeinde ihm diese kaufte (H. Penner 1995, S. 122).
Es folgt in chronologischer Reihenfolge eine Auflistung der traditionellen Mennonitengemeinden in Paraguay: Die Sommerfelder Mennonitengemeinde in der Kolonie >Sommerfeld, die Bergthaler Mennonitengemeinde in der Kolonie >Bergthal, Sommerfelder Mennonitengemeinde in der Kolonie >Reinfeld, Altkolonier Reinländer Mennonitengemeinde in der Kolonie >Rio Verde, Altkolonier Reinländer Mennonitengemeinde in der Kolonie >Nueva Durango, Altkolonier Mennonitengemeinde in der Kolonie >Manitoba, Sommerfelder Mennonitengemeinde in Santa Clara.
Die traditionellen Mennoniten zeichnen sich durch eine auffallend einheitliche Gemeindeform und Praxis aus – trotz Verschiedenheiten in der Lebensweise. Dabei ist jede Gemeinde unabhängig von der andern. Keine Gemeinde mischt sich in die Angelegenheiten der andern ein. Es gibt keinen Predigeraustausch, keinen übergemeindlichen Verband, keine gemeinsamen Konferenzen, keine Zusammenarbeit auf Gemeindeebene. Kontakte zwischen den Gemeinden bzw. Kolonien bestehen nur auf dem wirtschaftlichen Sektor und auf Grund von Freundschaft und Verwandtschaft. Volk und Gemeinde überschneiden sich in diesen Gemeinden und können nicht voneinander getrennt werden. Alle mündigen Bürger sind auch zugleich Glieder der Gemeinde, wie in Russland vor 150 Jahren. Alle Probleme in der Kolonie sind somit immer auch Gemeindeprobleme. Das erschwert den Dienst der Ältesten und des Lehrdienstes.
Bildungsfeindlichkeit ist ein weiteres Merkmal aller traditionellen Gemeinden. Das Schulsystem steht für jeden Außenseiter auf einem erschreckend niedrigen Niveau. Der Lehrer selbst hat keine pädagogische Ausbildung erhalten. Daher ist der Unterricht inhaltlich sehr dürftig und reicht nur aus, um knapp lesen und schreiben zu können.
Die Weltfeindlichkeit ist ein weiteres Merkmal, das allgemein auffällt. Innerhalb der Kolonien lebt die Gemeinde räumlich von der Welt getrennt. Alles, was außerhalb der Kolonie liegt, ist zu meiden bzw. mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Kinder, Jugendliche, ja sogar Erwachsene sollten nur in Sonderfällen (Krankheit, Vermarktung der Produkte) die Kolonie verlassen. Besucher von außen, die in die Kolonie kommen, werden zunächst mit großer Skepsis und Zurückhaltung empfangen. Werden sie jedoch als vertrauenswürdig eingeschätzt, dann ist man ihnen gegenüber sehr gastfreundlich und sogar bereit, die eigenen Sorgen mitzuteilen.
Die Lebensweise der traditionellen Mennoniten wirkt oft rätselhaft und abweisend auf die paraguayische Bevölkerung. Das soziale, kulturelle und geistliche Leben in der Kolonie ist arm und verkümmert. Die Jugendlichen sind sich ganz und gar selbst überlassen. Die Gemeinde organisiert für sie keine gesellschaftlichen oder sportlichen Veranstaltungen. Mit vielen ungelösten Fragen gehen die Jugendlichen in die Ehe und ins Familienleben. Eine sachliche Aufklärung gibt es nicht.
Doch bei alledem sind die leitenden Personen in der Gemeinde fest überzeugt, in der rechten biblischen und mennonitischen Tradition zu stehen. Dafür sind sie bereit, große Opfer zu bringen. Daher auch ihre Wanderung von einem Land ins andere. Es ist für die Ältesten eine heilige Pflicht, die alten Ordnungen so weiterzugeben, wie sie ihnen überliefert wurden. Sie können es keineswegs verstehen, wenn von anderen mennonitischen Gemeinden (etwa den fortschrittlich gesinnten) Druck auf sie ausgeübt wird, ihr Gemeindeleben zu ändern.
In der Regel gehören in einer Kolonie alle Bürger nur zu einer Gemeinde. Wo immer es zu einer neuen Gemeinde kommt, gibt es harten Widerstand und scharfe Auseinandersetzungen.
Gerhard Ratzlaff
Joseph W. Fretz: Pilgrims in Paraguay. The Story of Mennonite Colonization in South America. Scottdale, Pennsylvania: Herald Press, 1953; Peter P. Klassen: Die Mennoniten in Paraguay. Reich Gottes und Reich dieser Welt. Bolanden-Weierhof: Mennonitischer Geschichtsverein e.V., 1988; Gerhard Ratzlaff: Ein Leib – viele Glieder. Die mennonitischen Gemeinden in Paraguay. Hg. Gemeindekomitee. Asunción: Makrografic, 2001, S. 161-178; Gerhard Ratzlaff: Die mennonitischen Siedlungen in Ostparaguay. [Masch. Schrift] [1977].