Chacoindianer

1. Völker und Identitäten im Umbruch
Die Wanderer
Chacoindianer waren schon immer Völker in Bewegung. In prähistorischen Zeiten führten ihre Wanderungen sie in eine allgemeine Süd-, dann in die Südostrichtung, wobei sie stets neue Lebensbedingungen zu entdecken und zu meistern hatten. So durchquerten die historischen Maskoy den >Chaco, verzweigten sich in fünf Unterstämme (>Enlhet, Toba, Sanapaná, Angaité, Guaná) und machten den zentralen und östlichen Teil des Chaco zu ihren Wohngebieten. Als die ersten Weißen vor 150 Jahren die Flusszone besiedelten, erweiterten diese indigenen Ethnien ihren Wirtschaftsraum bis an den Río Paraguay, wo sie durch Gelegenheitsarbeiten in den Besitz von verschiedenen neuen Gebrauchsartikeln kamen.
Die auf die Besiedlung folgende Errichtung von Tanninfabriken, Viehbetrieben, Missionsstationen und Koloniesationsunternehmen bedeutete für die indianischen Ureinwohner einerseits erweiterte Wirtschaftsmöglichkeiten. Dies brachte sie aber auch in eine ständig wachsende Abhängigkeit von den weißen Einwanderern. Das Endergebnis dieses Prozesses war, dass die indianischen Ethnien ihre traditionellen Eigentumsrechte auf ihre Wohngebiete verloren, die nunmehr vom paraguayischen Staat den neuen Siedlern übertragen wurden.
Einen ähnlichen Prozess durchliefen auch die am Pilcomayo wohnenden Nivaclégruppen.   Diese, und auch größere Gruppen der Choroti, Tapieté und Chiriguanos, hatten die Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten in den argentinischen Zuckerrohrplantagen gesucht und dabei außer ökonomischen Vorteilen auch die Laster des weißen Mannes wie >Alkoholismus und Prostitution geerntet. Parallel dazu lief die Besetzung ihrer Stammesgebiete entlang des Pilcomayo durch das bolivianische Militär. Als es darauf zum offenen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien kam, waren die Indianer wieder die großen Verlierer, die praktisch ihrer Heimat beraubt wurden.
Der Verlust der Stammesidentität
Nichts hat den sozialen Umbruch der indianischen Ethnien im Chaco wohl mehr beeinflusst als der >Chacokrieg. Da wurden animistische Jäger und Sammler mit der Übermacht einer “Kriegsmaschinerie” konfrontiert, gegen die keine überlieferte “Energie” zur Verteidigung eingesetzt werden konnte. Hinzu kamen die verheerenden Pockenepidemien, die schätzungsweise die Hälfte der Ureinwohner dahinrafften, und der Schießbefehl gegen “Wilde”, die sich zwischen den Fronten aufhielten. Die damals von den Chacoindianern erlebte Ohnmacht muss in ihnen ein Trauma verursacht haben, das auch in den Jahren nach dem Krieg eine fortdauernde Identitätskrise nach sich zog.
Die “Übermacht” des weißen Mannes wurde von den indianischen Völkern ferner auch in dessen “magischer Wirtschaftsmaschine” wahrgenommen. Es wollte demzufolge so scheinen, dass die besten Optionen für die Gestaltung der Subsistenz im Bündnis mit nationalen Viehzüchtern und deutsch-mennonitischen Landwirtschaftsbetrieben zu finden seien. In den dreißig Jahren nach dem Chacokrieg folgten darum eine Reihe von Transmigrationen, bis über die Hälfte der Ureinwohner außerhalb ihrer Stammesgebiete wohnte.
Die Folge dieser demografischen Verschiebungen war eine fortdauernde Schwächung ihrer Stammesidentität. Nicht bloß die Wirtschaftsformen änderten sich als Folge der Wanderungen, sondern auch die sozialen Strukturen erfuhren einen Umbruch. Familienverbände, die sich bisher in kleineren Gruppen nach kultureigenen Mustern organisiert und verwaltet hatten, ließen sich nunmehr in den bis zu tausend Personen zählenden Arbeiterwohnvierteln nieder, wo sie in gedrängten Verhältnissen miteinander um einen knappen Arbeitsmarkt konkurrierten. In dieser Situation wurde es unmöglich, die Jugend nach eigenen Kulturmustern zu erziehen. Auch die Rolle der Frau wurde durch den neuen Lebensstil geschwächt, da ihr Beitrag zur Familienwirtschaft minimal geworden war. Die traditionelle wirtschaftliche Solidarität wurde wohl noch weiter praktiziert, doch die Personen, die für die Gemeinschaftsstrukturen politisch bedeutsam waren, wurden nun zunehmend außerhalb der eigenen Gemeinschaft gesucht, nämlich bei Arbeitgebern, Missionaren und Regierungsbeamten.
Neue Partner: Missionare, Anthropologen, Philanthropen
Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bemühen sich Missionsgesellschaften um eine Evangelisation der Chacoindianer. Wohl konnten sie anfänglich den Prozess der Entmachtung und Enteignung dieser Völker nicht aufhalten, doch wurden die Missionare mit der Zeit zu Vertrauten und Verbündeten der Indianer. Unter anderem setzten sie sich für deren Schutz vor Übergriffen des Militärs und der Großgrundbesitzer ein. Sie organisierten medizinische Dienste, sicherten Landstücke und machten wie kein anderer die Indianer mit dem Denken der neuen weißen Nachbarn bekannt. Sie predigten den Ureinwohnern von einer durch Christus erworbenen Würde, die keinen Unterschied zwischen Volkszugehörigkeiten macht und lehrten einen Lebensstil, der von den Indianern bald als das an die neue Situation angepasste “neue Leben” interpretiert wurde.
Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fingen auch Anthropologen an, sich mit dem Schicksal der Chacoindianer auseinanderzusetzen. Ihr Interesse galt zunächst dem Erhalt der indianischen Kulturen, sie konnten jedoch dem sozialen Umbruch dieser Völker nicht untätig zusehen. So setzten sie sich auf nationaler und internationaler Ebene für die Menschenrechte der Ureinwohner ein und bewirkten zunächst einmal eine gesetzliche Verankerung dieser Rechte durch ein spezielles Indianergesetz, das die verschiedenen ethnischen Gruppierungen de facto anerkannte und ihnen eine rechtskräftige Identität zuerkannte. Auf dieser Grundlage konnte darauf mit einem systematischen Prozess von Landsicherungen begonnen werden, der den Ureinwohnern wenigstens einen kleinen Teil des Chaco zurückerstattete.
Durch Werbung von Missionaren und Anthropologen wurde das Schicksal der Chacoindianer nun auch auf internationaler Ebene bekannt, und bald fanden die Indianergemeinschaften neue Gönner unter den verschiedenen philanthropischen Hilfswerken. Es entstanden Entwicklungsprogramme, die von den Indianern wohl nicht vollständig verstanden wurden, die ihnen aber als wertvolle Übungen in der Auseinandersetzung mit der Welt des weißen Mannes dienten und ihnen die Genugtuung brachten, neue Verbündete gefunden zu haben. In diesem Zusammenhang wurden in den indianischen Gemeinschaften eine Reihe von wirtschaftlichen Experimenten durchgeführt und Dienste wie Wasserversorgung, Schulbildung und Gesundheitsfürsorge eingerichtet.
Gestaltung einer neuen ethnischen Identität
Nach den vielen Krisen des Krieges, der Epidemien, der Transmigrationen und der Enteignung ihrer Stammesgebiete sind die meisten Chacoindianer in den letzten zwanzig Jahren in einen neuen Prozess der Konstruktion einer transformierten ethnischen Identität eingetreten. Wertvoll war dabei die gesetzliche Anerkennung ihrer Rechte, besonders ihres Rechtes auf eine kulturelle Selbstfindung im Rahmen einer anerkannten Kommunität. Dabei spielt der legale Besitz eines eigenen Landstücks eine wichtige Rolle, teilweise als wirtschaftliche Sicherheit, aber mehr noch als Rückzugsgebiet, wo sie in Ruhe und Frieden Herren ihrer Gemeinschaftsgestaltung sein können.
In diesem neuen Kontext der sozialpolitischen Sicherheit beginnen immer mehr Kommunitäten mit einer bewussten Konstruktion eines “Lebensprojektes”, das Vergangenheit und Gegenwart auf einen Nenner bringen soll. Geschichte, Sprache, naturkundliches Wissen, Kunst, Familienorganisation, kultureigene Werte und viele andere Elemente werden ins Bewusstsein gebracht und im Alltag gepflegt. Das neue wirtschaftliche Wissen und Können soll durch Bildungsprogramme befestigt werden. Neue Institutionen wie die christliche Gemeinde erhalten eine kultureigene Prägung, um dann einen zentralen Platz in der Werteorientierung der Kommunitäten einzunehmen.
Wie ein roter Faden zieht sich durch diesen Prozess der Identitätsfindung das Verlangen der Chacoindianer nach Anerkennung ihrer Würde und einer gleichwertigen Beteiligung am nationalen Leben. Die in der nationalen Verfassung von 1992 festgeschriebenen Rechte der Indianer auf eigenes Land, Subsistenz und Entscheidungsfreiheit in der Gestaltung ihres sozialen Lebens wurden von diesen als positives Zeichen für ein neues Kapitel des Zusammenlebens interpretiert.
Aber schon in den Jahrzehnten davor hatten die Ureinwohner des >Chaco sich systematisch darum bemüht, vollwertige Mitglieder dieser Nation zu werden. So hatten sie sich große Mühe gegeben, sich im Standesamt registrieren zu lassen und Personalausweise zu beantragen. Auf gemeinschaftlicher Ebene wurden Seminare zum Studium von nationalen Gesetzen durchgeführt, Leiter registriert, die Gemeinschaft als “Rechtsperson” anerkannt und Land gemeinschaftlich registriert. Nationale Schulen wurden organisiert und Gewicht auf das Erlernen der spanischen Sprache gelegt.
Ein weiterer Schritt in die gleiche Richtung war die politische Aktivierung der Chacoindianer. Die meisten sind heute ins Wahlregister eingeschrieben und viele pflegen auch die Mitgliedschaft in einer Partei. Das Wahlrecht wird für sie eine neue Bestätigung, dass sie als vollwertige Staatsbürger anerkannt sind. Diese Anerkennung wird wiederum aus der eigenen kulturellen Perspektive der Ethnien interpretiert, nämlich so, dass die Nation sich zu einem Gegenseitigkeitsverhältnis verpflichtet. Somit ist dann auch nicht zu vermeiden, dass die Ureinwohner des Chaco immer wieder von politischen Versprechen, die niemals eintreffen, enttäuscht werden. Dadurch kann es in den Gemeinschaften dann aber auch allmählich zu einer Sanierung der kollektiven Erwartungen kommen, wo von der Regierung wohl Unterstützung in der Landsicherung, Wasserversorgung und in Sozialdiensten erwartet wird, wo aber zu gleicher Zeit auch ihr eigenes Lebensprojekt zur Sicherung der wirtschaftlichen Subsistenz aktiv weiter entwickelt wird.
Weltbild und kulturelle Grundhaltungen
1. Annahmen über die menschliche Natur
Chacoindianer verstanden den Menschen in einer doppelten Dimension: als ein Geistwesen, das sich eines physischen Körpers als Wohnung bedient. Nach der traditionellen Nivaclé-Kultur lässt sich diese Vorstellung z. B. folgendermaßen beschreiben: Wenn man einen menschlichen Körper sieht, weiß man, dass sich darin ein Geistwesen verbirgt, das “shaic’u” heißt, und das man auch tatsächlich in Form seines Schattens (“vatajpecl”) wahrnehmen kann. Ähnliche Vorstellungen gibt es bei den Enlhet und Enenlhet (“vanmoncama”) und bei den Ayoreos (“oregate”).
Das Geistwesen bildet den Kern der menschlichen Identität, es ist die Summe seiner Eigenschaften und schöpferischen Besonderheiten, seiner Talente und seiner spezifischen “Energie”. Es gibt nicht zwei menschliche Wesen, die einander gleich wären. Wer sich ihm nähern möchte, muss zunächst seine besonderen Eigenschaften kennen lernen.
Die Geistseele (geistliche Mitte einer Person oder seine geistliche Identität) bildet ferner die Brücke zu dem “Raum der unsichtbaren Realitäten und Kräfte”, der sich wohl im Diesseits befindet, aber für das physische Auge nicht wahrnehmbar ist. Sie kann sich dort in Träumen und Visionen frei bewegen, Dinge wahrnehmen, die dem physischen Körper verborgen sind und diese dann dem materiellen Menschen ins Bewusstsein bringen. Nach dem Tod des physischen Menschen lebt sein Geistwesen in Form der Totenseele weiter.
Der physische Mensch hat seine “Kommandozentrale”, die wir “Gefühlszentrum” nennen könnten, in der Bauchhöhle (>Nivaclé: “cach’i”; >Enlhet: “valhoc”; >Ayoreo: “ayipié”). Hier wird gedacht, geplant, gewünscht, gefürchtet, sich geärgert, geliebt, gehasst usw. Alle diese Gefühlsregungen müssen sich aber unbedingt in Harmonie mit der Geistseele befinden, d. h. sie sollten deren Identität widerspiegeln und keinen Zwang auf sie ausüben. Das “Gefühlszentrum” wird somit zu einem Vermittler zwischen der Geistseele und dem menschlichen Körper; sie steuert die menschlichen Handlungen in einem Maße, dass man dieses gegebenenfalls als “Fremdbestimmung” wahrnehmen möchte.
Welche kulturellen Grundhaltungen oder Werte können von diesem Konzept der menschlichen Natur abgeleitet werden? a) Da ist zunächst einmal der absolute Respekt vor der Einmaligkeit einer Person. Der menschliche Charakter wird hier verstanden als ein Samenkorn, das schon bei der Geburt alle Eigenschaften vorprogrammiert hat. Während seiner weiteren Entwicklung wird der Mensch also zu dem, was er schon ist. b) Eine weitere kulturelle Grundhaltung bei Chacoindianern finden wir in dem Thema der Harmonie, die als ein Gefühl des Gleichgewichts zwischen der physischen Person und seinem Gefühlszentrum erlebt wird; so kann z. B. Harmonie herrschen, wenn der vom Inneren wiederholt erwähnte Wunsch in die Tat umgesetzt worden ist. Andererseits wird z. B. bei einem menschlichen Wutausbruch das automatische Eintreten von Dissonanz vorausgesehen, wodurch die Geistseele geschädigt wird, was eine Erkrankung des Körpers zur Folge hat.
2. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft
Noch ausgeprägter äußert sich die Vorstellung von Harmonie in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Chacoindianer. Hier muss der Einzelne sich zugleich um das Gleichgewicht in zwei Richtungen bemühen: Einerseits muss der Nächste in seinen Eigenarten und Wünschen nebst “Wille und Wunsch” der Gruppe wahrgenommen werden; andererseits müssen diese Wünsche gegen Eigenwillen und Eigenwunsch ausbalanciert werden.
Damit das in einer geordneten Weise ausgelebt werden konnte, gab es im Weltbild der Chacoindianer ein ganz besonderes Zusammenspiel von Talenten, Rollen und Gesellschaftspositionen, die ihren Ausdruck im so genannten “Lebenszyklus” fanden. Darunter versteht man eine Aufgliederung des Lebens jeder Person in Etappen, die durch besondere Rituale gekennzeichnet waren, und die jeweils den Status und die Rollen in diesem Lebensabschnitt definierten.
Eine allgemeine Darstellung dieser Gesellschaftsordnung für die Chacovölker sieht folgendermaßen aus: Jede Person geht in ihrem Leben durch fünf Etappen. Die Kindheit fängt z. B. mit einem Ohrläppchen-Ritual an, wobei das Kind zu einem vollberechtigten Menschen erklärt wird. Sein Status während der ersten zwölf Lebensjahre ist der eines “Werdenden”, der von der Gruppe geschützt werden muss, damit er gedeihen kann. Dann folgt die Lehrlingsetappe, die beispielsweise mit einem Sportfest eröffnet wird. Mädchen und Jungen werden Lehrern zugeordnet, um die Geschicklichkeiten des Lebens zu erlernen. Mit etwa vierzehn Jahren wird das Pubertätsfest der Mädchen und die Jungenweihe gefeiert, die den dritten Lebensabschnitt einleiten. Auch das Erwachsenenalter beginnt mit einem öffentlichen Akt wie der Tätowierung der Frau und dem Trinkfest des Mannes. Damit werden die Rollen und Verantwortungsbereiche für die Versorgung und den Schutz der Gruppe definiert. Als letzte Etappe folgt das Alter, das wiederum neue Rollen für Mann und Frau vorsieht wie z. B. die Herstellung von Werkzeugen, den Gartenbau, die Übermittlung des geistlichen Kulturerbes usw.
Welche kulturspezifische Werteorientierung wird aus diesen gesellschaftlichen Ordnungen ersichtlich? a) Die Idealisierung der zwischenmenschlichen Harmonie führt zu einer starken Betonung des “sanften Umgangs”, der sich darin zeigen muss, dass man freundlich aufeinander zugeht, leise spricht, Zeit füreinander hat und dem Nächsten mit Worten und Wünschen Recht gibt und ihn segnet. b) Auf der gleichen “Wellenlänge” funktioniert auch die absolute Solidarität, die von jedem Verwandten erwartet, dass er immer bereit ist, mit dem zu helfen, was ihm zur Verfügung steht. c) Ein weiterer Wert der Chacoindianer ist ihr Verständnis von “Gleichheit”, das nicht zulässt, dass irgendein Gruppenmitglied sich über den Rest der Gruppe “erhebt”; nicht mit Besitz, nicht mit Autorität und nicht mit Ansehen. Dagegen sind “Spezialisten” aus der Gruppe zugelassen, insofern sie eine Funktion erfüllen, die der Gruppe dienlich ist. Ihre “Echtheit” wird vor allem darin gemessen, ob sie in ihren Funktionen solidarisch bleiben.
3. Umwelt und Zeit in der menschlichen Daseinsgestaltung
Wenn der moderne Mensch Sinn und Ordnung in den ihn umgebenden Kosmos bringen möchte, dann klassifiziert er ihn zunächst einmal. Auch Chacoindianer hatten ihre Art, ihre Umwelt zu ordnen. Die Ayoreos teilten alle Gegenstände und Lebewesen in sieben “Familien”, die von sieben Ursprungswesen abstammten. Die Guaraní-Ñandeva beherrschten ein breites astrologisches Wissen. Die Enlhet ordneten in ihrer Botanik dreihundert Chacopflanzen. Die Nivaclé beherrschten eine Grammatik mit vielen linguistischen Feinheiten, darunter der genaueste Gebrauch von sechzehn Artikeln.
Was diese Ordnungen jedoch auf einen Nenner bringt, ist nicht ihre Funktion der Klassifikation, sondern der Identitätsbestimmung. Um jedes Objekt, um jedes Lebewesen wurden wie in einem Bündel die gesammelten Kenntnisse und Erkenntnisse angeordnet: ihre Eigenschaften, ihre Reaktionsformen, ihr Charakter, ihre Ursprungsmythen, ihre spezifische Energie; ferner die “Formeln”, wie man Zutritt erhält und die notwendigen Rituale, um harmonische Beziehungen wieder herzustellen, sollten diese durch den Zugriff getrübt worden sein.
Hieraus wird ersichtlich, dass auch bei Gegenständen und Lebewesen, genau wie im Falle der menschlichen Person, eine doppelte Dimension vorausgesetzt wurde: Was man sieht und anfasst, ist die materielle Erscheinung eines Geistwesens, das die Identität ausmacht. Der Zugang zur Nutzung aller organischen Objekte erfordert darum eine zweispurige Annäherung: a) die geistliche, die sich auf Familiarität durch Wissen und Einhalten der Tabus und Rituale stützt und b) die technische, die von Strategien und Werkzeugen abhängt. Dabei wurde der ersteren die größte Bedeutung beigemessen, da die Fehler, die hier gemacht werden konnten, Unglück, Krankheit und Tod bedeuten konnten.
Einige Beispiele, wie das Kennen der “geistlichen Identität” im Zentrum eines “wirtschaftlichen Zugriffs” steht: Die Nivaclé wussten, dass die “Energie” der “Niniva”-Frucht neutralisiert wird, wenn die Beere einen Tag lang, mit fünfmaligem Wechseln des Wassers, gekocht wird. Andernfalls bewirkt ihre “Energie” furchtbare Magenschmerzen, die tödlich sein können. Der Enlhet erkannte im “Geistzentrum” des Straußes einen Unwillen, das Fleisch mit ihm zu teilen. Da er es aber trotzdem gerne aß, bediente er sich eines besonderen Tricks: die Federn des erlegten Straußes so auszulegen, dass dieses Muster die Rachsucht von dessen “Totenseele” neutralisierte.
Welche kulturellen Grundhaltungen der Chacoindianer gehen aus ihrem Weltbild bezüglich der natürlichen Umwelt und des Zeitverständnisses hervor? a) Da ist zunächst seine respektvolle Unterwürfigkeit (oder Ehrfurcht) gegenüber der Natur zu erwähnen, die darauf zurückgeht, dass in allen organischen Objekten ein geistliches Zentrum in Form einer spezifischen “Energie” vermutet wird. b) Andererseits ist zu beachten, dass ein breites Wissen um die organischen Lebewesen ihn eine natürliche Familiarität mit der Umwelt erleben lässt, die ihm vielfach den gleichen Zugriff garantiert wie sie den Verwandten gegenüber praktiziert wird. c) Aus diesem Verhältnis heraus ist auch seine hohe Wertschätzung der “wohlwollenden Abhängigkeit” zu verstehen, die es als eine Tugend einschätzt, mit Mensch und Umwelt in Abhängigkeit (Gegenseitigkeit) zu leben. d) In Bezug auf Zeit finden wir bei Chacoindianern vordergründig eine gelassene Ergebenheit gegenüber dem Zeitkreis. e) Ein hoher Wert wird dagegen darauf gelegt, die momentanen Gelegenheiten innerhalb dieses Zeitkreises wahrzunehmen und sie für das Wohl der Gruppe zu nutzen. f) Als Tugend gilt, die Zeit als einen sozialen Faktor für die Pflege der Gruppensolidarität zu investieren.
Kausalität: das Verständnis von Ursache und Folge
Aus der Mythologie der Chacoindianer geht hervor, dass in früheren Zeiten alle organischen Wesen die Fähigkeit besaßen, sich in andere Formen zu verwandeln. Mit anderen Worten, die Geist-Identität nahm einmal diese, einmal eine andere Erscheinungsform an. So erzählen die >Enlhet, dass der Carancho einmal eine Medizinfrau war; die >Ayoreos berichten, dass bei einer Gelegenheit eine Gruppe ungehorsamer Kinder in Frösche verwandelt wurde; und die >Nivaclé erklären, dass die Frauen ihren Ursprung in wilden Wassernymphen hatten, die von den Männern durch den Reigentanz gezähmt wurden.
Andere Veränderungen in der Vergangenheit sind auf Katastrophen zurückzuführen: das große Feuer, die Sintflut, der Einsturz des Firmaments usw. Naturkatastrophen wurden als Folge von Unwissenheit und Fehlverhalten der Lebewesen interpretiert. So war z. B. die Sintflut der Enlhet die Folge davon, dass Menschen die mythologische Schlange “seenavacpo” in ihrer Höhle störten; bei den Nivaclé war es die Missachtung eines Reinigungs-Tabus und bei den Ayoreos die Folge von Streit zwischen den Bewohnern eines Dorfes.
Das am weitesten verbreitete Verständnis von Kausalität hatte jedoch mit der Vorstellung von “Energie” zu tun, die in allen natürlichen Objekten gegenwärtig ist. Dabei handelt es sich um eine Lebenskraft, die in etwa mit dem zu vergleichen ist, was wir unter Elektrizität verstehen: sie ist unsichtbar, fließt bei richtigem Kontakt und ist neutral in dem Sinne, dass sie weder gut noch böse ist, aber für beides gebraucht werden kann. Sie ist ferner spezifisch, d. h. dass sie gemäß der Identität des jeweiligen Naturobjekts verschiedene Wirkungen hat: Energie zum Sehen, zum Fliegen, zum Zähmen von Krankheiten, zum Abwenden von Gefahren, zum tödlichen Angriff eines Feindes, zum Glück auf der Jagd usw.
Ein Beispiel aus der Heilkunst der Enlhet und Nivaclé kann helfen, dieser Vorstellung von Energie etwas näher zu kommen. Für diese Ethnien gab es einen Spezialisten für den Umgang mit Energien, den Schamanen. Dieser Heilkundige verfügt über eine Auswahl von spezifischen Energien, mit denen er in ein “Verwandtschaftsverhältnis” getreten ist. Wie geht das zu? Er sucht sich eine Reihe von besonders energiereichen Naturobjekten aus wie zum Beispiel Schlangen, Fledermäuse, Jaguarfett, Straußenfleisch, “Teufelskraut”, Reiherfedern, Geldscheine, Pferdehaare usw. Diese werden in einer Kalebasse mit Wasser gemischt und zum Gären gebracht. Der Trunk dieses Gebräus vermittelt dem Schamanen die Verwandtschaft mit den darin enthaltenen Objekten und deren Geistseelen; d. h. er erhält Zutritt zur Handhabung dieser spezifischen Energien.
Der Umgang mit den Energien der verschiedenen natürlichen Geistseelen war für die Chacoindianer eine große Herausforderung, die nur durch die entsprechende Aneignung eines vielseitigen Wissens erreicht werden konnte. Tabus zu beachten war eine gute Vorbeugung, Rituale zu beherrschen eine begehrte Art der Manipulation dieser Kräfte; z. B. das Stechen der Muskeln vor der Jagd hatte eine lähmende Wirkung auf die Rehseele; das Federamulett schützte vor der Verfolgung durch einen Jaguar; die Wiederholung einiger Worte in genauer Reihenfolge und mit richtiger Tonhöhe, gesprochen von einem “Spruchkundigen”, neutralisierte den schmerzenden Backenzahn. Nicht “Geister” wurden hier beschwört, sondern ethnisches Wissen wurde zur Wirkung gebracht auf neutrale, unpersönliche, mechanistische Kräfte. Willensentscheidungen in Bezug auf die Richtung, in der die Energie wirken sollte, wurden nur von lebenden Menschen oder menschlichen Totenseelen erwartet.
Welche kulturspezifische Werteorientierung lässt sich hinter diesem Weltbild entdecken? a) Es ist ersichtlich, dass eine ehrfurchtsvolle Haltung in Bezug auf die Allgegenwärtigkeit von spirituellen Kräften in allen Naturbereichen bestand. b) Ein hoher Wert wurde auf die Lebensweisheit gelegt, die darin bestand, sich Kenntnisse über die geistlichen Identitäten der natürlichen Realitäten anzueignen. c) Frieden im Sinne von “Shalom” beinhaltet für den Chacoindianer die Harmonie zwischen allen kosmischen Geschöpfen, einschließlich der Menschen.
Wilmar Stahl
ASCIM: Indígenas del Chaco Central – Etnohistoria e Identidad Contemporánea. Filadelfia, 2005; Wilmar Stahl: Culturas en Interacción – Una Antropología Vivida en el Chaco Paraguayo. Asunción: El Lector, 2007.