Gesetz Nr. 514

Als die mennonitische >Chacoexpedition 1921 nach Paraguay kam, um nach Siedlungsland Ausschau zu halten, nahm sie Kontakte zur paraguayischen Regierung auf. Denn vor einer eventuellen Ansiedlung in diesem Land wollten sie sich vor allem vergewissern, dass ihnen einige Sonderrechte zugesprochen würden, die sie bei der Regierung beantragten. Am 4. April 1921 erhielten sie eine Audienz beim Staatspräsidenten Dr. Manuel >Gondra. Ihm überreichten sie ein Bittschreiben, in dem in zehn Punkten die Grundsätze genannt waren, um die es ihnen ging, falls sie in Paraguay ansiedeln würden.
Der Kongress setzte sich mit dem Bittschreiben der kanadischen Landsucher auseinander, und es wurde hart über das Mennonitenprojekt (El proyecto de los Mennonitas) diskutiert. Die Gegner waren der Meinung, dass sich eine neue politische und soziale Gemeinschaft bilden würde, die in Paraguay abgesondert, fremd gegenüber allen Wünschen und dem Streben des Landes, geschützt durch Privilegien leben und mit der Zeit einen Staat im Staate bilden würde. Es ist verständlich, dass es Bedenken dem Projekt gegenüber gab, denn die Mennoniten waren den meisten Paraguayern gänzlich unbekannt, und sie hatten seltsame Wünsche, wie die Bitte um Befreiung vom Militärdienst. Wer konnte da wissen, was dabei herauskommen würde.
Befürworter meinten, dass dieses Bauernvolk geeignet sei, um das Problem der Erschließung der Chacowildnis zu lösen und die Hoheit Paraguays in diesem Gebiet zu gewährleisten, so dass die Bitte sorglos anzunehmen sei, denn durch ihren Fleiß könnten sie nur Positives zur Entwicklung des Landes beitragen.
Schon am 26. Juli 1921 wurde das Gesetz 514 mit acht Artikeln von der Regierung unterzeichnet und veröffentlicht, und somit war der Weg für die Besiedlung des paraguayischen >Chaco frei. Dieses Gesetz wird als ein Vertrag verstanden, in dem Paraguay den Mennoniten gewisse Rechte und Begünstigungen einräumt, während die Mennoniten als Gegenleistung den zentralen Chaco wirtschaftlich erschließen.
Inhaltlich sind aus dem Gesetz 514 folgende Punkte hervorzuheben: Die freie Ausübung des Glaubens, die Befreiung vom Militärdienst, die Selbstverwaltung und Gestaltung der Schule und des Unterrichts, die Verwaltung des Nachlasses und des Gutes von Witwen und Waisen, die Befreiung von Staatssteuern für 10 Jahre und die Erlaubnis zur Einwanderung aller Personen ohne Begrenzung durch Alter, Beruf, Behinderungen usw.
Dieses Gesetz wurde später durch >Gesetz 914 erweitert und ist seit der Einwanderung der ersten Mennoniten vielen Tausenden von mennonitischen Siedlern und Bewohnern Paraguays zugute gekommen. Es ist bis heute voll gültig. Die Grundinhalte des Gesetzes 514 sind heute (…) auch fast alle im paraguayischen Grundgesetz verankert.
Der Wortlaut der Artikel dieses Kolonisationsgesetzes für die Mennoniten, Gesetz Nr. 514, mit welchem die Rechte und Vorrechte derjenigen Mitglieder der Mennonitengemeinschaften festgelegt wurden:
1. Artikel
Die Mitglieder der Mennonitengemeinschaft, die als Bestandteil eines Siedlungsunternehmens im Lande eintreffen, sowie ihre Nachkommen genießen folgende Rechte und Vorrechte:
1.- Ihre Religion und ihren Gottesdienst in voller Freiheit auszuüben ohne irgendeine Einschränkung und mit der Folgerung, an Gerichtsstelle durch einfaches Ja oder Nein Beteuerungen an Eides statt abzugeben und in Friedens- und Kriegszeiten von der Militärdienstpflicht befreit zu sein, sowohl im Dienst mit wie im Dienst ohne Waffen.
2.- Schulen und Unterrichtsanstalten zu errichten, zu verwalten und zu unterhalten sowie ihre Religion und ihre Sprache, welche das Deutsche ist, ohne irgendeine Einschränkung zu lehren oder zu lernen.
3.- Der Nachlass und insbesondere das Witwen- und Waisengut vermittels der besonderen Stammguteinrichtung, genannt “Waisenamt”, und gemäß den eigenen Gemeinschaftsvorschriften ohne irgendeine Art von Einschränkung zu verwalten.
4.- Die Brandversicherung auf Gegenseitigkeit, welche in den Siedlungen eingerichtet wird, zu verwalten.
2. Artikel
Innerhalb eines Umkreises von fünf Kilometern Entfernung vom Grund und Boden der Mennonitensiedlungen ist der Verkauf von geistigen und betäubenden Getränken verboten, es sei denn, dass die zuständigen Behörden der besagten Siedlungen bei der Regierung die Zulassung des Verkaufs beantragen und die Regierung ihre Einwilligung erteilt.
3. Artikel
Gleicherweise werden den Mennonitensiedlungen für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Tage der Ankunft des ersten Siedlers, folgende Befreiungen zugestanden:
1.- Freie Einfuhr von Möbeln, Maschinerien, Geräten und Werkzeugen, Arzneimitteln, Sämereien, Tieren, Ersatzteilen und im Allgemeinen von allen Gegenständen, die für die Einrichtung und Entwicklung der Siedlungen notwendig sind.
2.- Befreiung von jeder Art Staats- und Gemeindesteuern.
4. Artikel
Kein bestehendes oder noch zu erlassendes Gesetz für Einwanderung oder anderer Materie soll der Einreise von Mennoniten-Einwanderern in das Land aus Gründen des Lebensalters und eines körperlichen oder geistigen Gebrechens hinderlich sein.
5. Artikel
Die Befreiung aus Paragraph 3 des 1. Artikels soll so verstanden werden, dass sie die Rechte solcher Personen nicht berührt, die in der Lage sind, ihr Hab und Gut selbst zu verwalten. Handelt es sich um geschäftsfähige Personen, so sollen die Richter, wenn der Tatbestand der Zugehörigkeit des Betroffenen zu den Mennonitensiedlungen ausgewiesen ist, die betreffenden Stammguteinrichtungen (Fideikommisse) als Pfleger oder Vormünder der Geschäftsunfähigen bestimmen. Diese Pflege- und Vormundschaft richtet sich nach den Vorschriften jener Stammguteinrichtungen.
6. Artikel
Das mit der Mennonitenansiedlung beauftragte Unternehmen oder die von den Siedlern anerkannten Behörden werden gehalten, der vollziehenden Staatsgewalt bekannt zu geben:
1.- Die zur Besiedlung durch die Mennoniten vorgesehenen Ländereien mit Angabe ihrer Lage, Ausdehnung und Grenzen.
2.- Die die Siedlungen vertretenden physischen oder juristischen Personen.
3.- Die Bezeichnungen, Vorstände und Satzungen der Stammguteinrichtungen (Fideikommisse), Waisenamt, zwecks gesetzlicher Anerkennung der Letzteren durch den Kongress.
7. Artikel
Die durch dieses Gesetz bewilligten Vorrechte und Befreiungen werden auf die Einzelpersonen derselben Mennonitengemeinschaft ausgedehnt, welche einzeln einwandern, immer vorausgesetzt, dass sie durch die zuständigen Behörden der genannten Gemeinschaft ihre Eigenschaft als Mennoniten und als Bestandteil des Siedlungsunternehmens nachweisen, auf welches der Artikel 6 Bezug nimmt.
8. Artikel
Dieses soll dem Exekutivbüro mitgeteilt werden. Herausgegeben im Sitzungssaal des gesetzgebenden Kongresses, am 22. Juli 1921.
Uwe S. Friesen
Martin W. Friesen: Neue Heimat in der Chacowildnis. 2. Auflage. Asunción: Imprenta Modelo, 1997, S. 158-161; Martin W. Friesen: Mennonitische Kolonisation unter Gesetz 514. Hg. Verwaltung der Kolonie Menno. 1983; Gerhard Ratzlaff: Inmigración y colonización de los Mennonitas en el Paraguay bajo Ley 514. Hg. Comité Social-Económico Menonita. Asunción 1993; Martin W. Friesen: Kanadische Mennoniten bezwingen eine Wildnis, 50 Jahre Kolonie Menno – erste mennonitische Ansiedlung in Südamerika. Neu überarbeitete Ausgabe. Loma Plata: Druckerei Friesen, 2004; Peter P. Klassen: Die Mennoniten in Paraguay. Reich Gottes und Reich dieser Welt. 2. erweiterte Auflage. Bolanden-Weierhof: Mennonitischer Geschichtsverein e.V., 2001.

Gesetz Nr. 914
Mit dem Gesetz Nr. 914 vom 25. August 1927 wurden die im >Gesetz Nr. 514 gewährten Rechte und Vorrechte auf weitere in den Chaco einwandernden Kolonisten ausgedehnt. Es gab eine Einschränkung: Nur die Mitglieder von wehrlosen Gemeinschaften, wie es die Mennoniten waren, erhielten Befreiung vom Militärdienst.
Als dann die Fernheimer 1930 in den Chaco kamen, erweiterte der Staatspräsident Paraguays durch das Dekret Nr. 43.561 vom 4. Mai 1932 die Reichweite, so dass auch die Kolonisten der neuen Ansiedlung unter das Gesetz 514 gestellt wurden.
Das Gesetz Nr. 914 vom 25. August 1927:
1. Artikel
Die Rechte, Sonderrechte und Konzessionen, die durch Gesetz Nr. 514 vom 26. Juli 1921 den Mitgliedern der “Mennoniten” genannten Gemeinschaft und ihren Nachkommen gewährt worden sind, werden erweitert:
1.- Für die Mitglieder irgendeiner anderen nicht kämpfenden Gemeinschaft und ihrer Nachkommen, die sich im Chaco niederlassen, sei es in Gruppen, oder als Kolonisten auf ihre eigene Rechnung oder die eines Dritten.
2.- Für die Mitglieder irgendeiner anderen religiösen Gemeinschaft amerikanischer oder europäischer Herkunft, die sich im Chaco niederlassen, und zwar unter denselben Bedingungen, die im vorherigen Abschnitt festgelegt sind, mit Ausnahme des letzten Teiles des ersten Abschnittes des 1. Artikels des erwähnten Gesetzes, der die Kolonisten in Friedens- wie in Kriegszeiten von der militärischen Dienstpflicht mit und ohne Waffen befreit.
2. Artikel
Für die Zeit von 10 Jahren wird keine Stempelpapiersteuer bei Übertragungen von Privatbesitz zu Gunsten irgendwelcher Siedlungsunternehmen im Chaco erhoben, ebenso bei Übereignung des Besitzes solcher an Kolonisten, mit dem Vorbehalt jedoch, dass die Ländereien ausschließlich für die Kolonisation bestimmt werden.
3. Artikel
Dieses Gesetz ist der Exekutivgewalt mitzuteilen.
DEKRET Nr. 43.561 vom 4. Mai 1932:
1. Artikel
Die Sonderrechte und Befreiungen, die das Gesetz Nr. 514 vom 26. Juli 1921 gewährt, werden auf die Mitglieder der nicht kämpfenden russischen Gemeinschaft der >KolonieFernheim” im Chaco ausgedehnt in Übereinstimmung mit den Bedingungen und Ausnahmen, die im Gesetz Nr. 914 vom 29. August 1927 festgesetzt sind.
2. Artikel
Die Nutznießung der in den Beschlüssen der vorgenannten Gesetze bewilligten Vergünstigungen gilt vom Tage der Ankunft der ersten Gruppe der erwähnten Kolonie, das heißt vom 17. April 1930.
3. Artikel
In Übereinstimmung mit den vorstehenden Artikeln müssen die Statuten für die KolonieFernheim” den erwähnten Gesetzen Nr. 514 und 914 angepasst werden.
4. Artikel
Zu veröffentlichen, mitzuteilen und dem Staatsregister zu überweisen.
Uwe S. Friesen
Martin W. Friesen: Neue Heimat in der Chacowildnis. 2. Auflage. Asunción: Imprenta Modelo, 1997, S. 158-161; Martin W. Friesen: Mennonitische Kolonisation unter Gesetz 514. Hg. Verwaltung der Kolonie Menno. 1983; Peter P. Klassen: Die Mennoniten in Paraguay. Reich Gottes und Reich dieser Welt. 2. erweiterte Auflage. Bolanden-Weierhof: Mennonitischer Geschichtsverein e.V., 2001, S. 70-80.