Begleitwort zu dieser Nummer
In dieser zweiten Ausgabe des Jahrbuchs veröffentlichen wir den Inhalt der Vorträge des historischen Symposiums, welches am 25. und 26. Mai dieses Jahres abgehalten wurde.
Der Geschichtsverein ist eine wissenschaftliche und kulturelle Initiative von Mennoniten, um ihr eigenes reichhaltiges Erbe zu erforschen, darzustellen und zu fördern. Ebenso geht es darum, ihre Beziehung zur jeweiligen Umwelt zu erforschen, ihr Geben und Nehmen, ihren wirtschaftlichen, kulturellen und missionarischen Einfluss zu erforschen. Das geschah diesmal im Rahmen einer öffentlichen Tagung unter dem Rahmenthema: "Mennonitische Identität zwischen Selbstbild und Fremdbild". Vorträge, Gruppenarbeiten, Plenardiskussion und ein kultureller Abend boten Gelegenheit zum Forschen, Fragen und zu kritischer Selbstbetrachtung. Das schnelle Tempo des Lebens heute
macht es notwendig, dass wir periodisch gerade für solche Aktivitäten Zeit einräumen.
Eine Glaubensgemeinschaft wie die mennonitische ist immer auch eine menschliche Gemeinschaft. Sie in verschiedene Bestandteile zu zerlegen wäre problematisch. Sie bringt sich selbst ganz ein in jeglicher Interaktion mit der Umwelt und wird so auch in ihrer Gesamtheit beeinflusst. Von daher sieht der Geschichtsverein es als lohnende Aufgabe, das ganze Erbe der mennonitischen Einwanderer in
Paraguay zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen. Dass hiermit die Möglichkeiten des Mennonitseins nicht erschöpft sind, versteht sich von selbst. Bewusstmachung hierüber zu fördern durch Begegnung, Dialog und Publikation ist ein Vorsatz, der mit dieser Tagung zum Teil verwirklicht wurde.
Das Thema entstand aus der Einsicht heraus, dass Mennoniten oft, und besonders hier in
Paraguay, im Spannungsfeld verschiedener Rollenerwartungen gestanden haben. Zum Teil hatte man selbst starke Ideale und daher Erwartungen, die man an sich selbst und an die eigene Gemeinschaft stellte, z.T. waren es Erwartungen, die von außen her an uns herangetragen wurden, durch die Regierung, die nationale Bevölkerung, durch die Indianer im
Chaco oder durch das Mennonitische Zentralkomitee. Indirekt, aber auch deutlich spürbar, waren es politische Trends, zusammen mit der internationalen Presse, die ihr Bild zeichneten und ihre Erwartungen anmeldeten. Abe Dueck sagt in der letzten Ausgabe des Mennonite Historian: "Mennoniten sind oft dabei, sich selbst und anderen zu erklären, wer sie sind. Es scheint, dass sie, mehr als andere christliche Gruppen, gezwungen waren, sich selbst zu erklären".
Der Akzent lag bei dieser Gelegenheit darauf, historisch zu analysieren, wie verschiedene Bilder entworfen, Erwartungen aufgenommen und im mennonitischen Selbstverständnis hier in
Paraguay verarbeitet wurden. Psychosozial gesehen, waren dabei Rückschlüsse auf realistische und unrealistische Erwartungen möglich, die an uns gestellt werden und in deren Spannungsfeld wir folglich leben.
Dr. Jakob Warkentin und Peter P. Klassen referierten zu den Themen: "Geschichtsschreibung über die
Mennoniten in Paraguay", und "Die Rolle des
MCC in den Konflikten der
Mennonitenkolonien in
Paraguay". Geschichte wird vor allem auch schriftlich überliefert. Daher ist es wichtig, sich über den Prozess sowie über die Art und Weise der Geschichtsschreibung Gedanken zu machen. Das
MCC hat bekanntlich bei den Anfängen der Kolonisation stark mitgewirkt. Es hat auch in den Jahrzehnten danach immer wieder in der Entwicklung der Wirtschaft, der Erziehung und dem Gemeindeleben eine entscheidende Rolle gespielt, und diese wird im Beitrag von Herrn Klassen nachgezeichnet.
Hans Theo Regier sprach über Identitätsfragen im Erziehungsdenken. Die Elemente: Mennonitisch, Deutsch, Paraguayisch, die bei unserem Schulkonzept alle mitsprechen, sind eine dauernde Herausforderung an Ziele, Inhalt und Methode der
Bildung.
Dr. Alfred Neufeld wirft eine ähnliche Fragestellung auf bezüglich der konfessionellen Identität. Welche Einflüsse von außen haben die Gemeinden geprägt? Wie geben wir weiter, was wir uns als Glaubensgut angeeignet haben? Welche Wege gilt es dabei zu beschreiten? usw.
Dra. Milda Rivarola sprach über das Bild der Mennoniten in der paraguayischen Gesellschaft. Die Fragen der Einwanderung, der Privilegiertheit, des Verhältnisses zur nationalen Gesellschaft und zu anderen Ethnien werden hier erörtert.
Bischof Lucio Alfert referierte über die Geschichte des Verhältnisses zwischen evangelischen Christen (vor allem Mennoniten) und Katholiken in
Paraguay. Er behandelte dabei die Gesetze zur Religionsfreiheit im Land, die Toleranzfrage, Formen der Missionsarbeit und spezifisch auch das Verhältnis der
Kirchen im
Chaco.
Der auf den Vorträgen folgende Austausch war allgemein rege. Man beobachtete förmlich eine Motivation, die aus der Einsicht erwachsen ist, dass man sich als konfessionelle und kulturelle Gruppe im Land mehr der Herausforderung des Miteinanders öffnen muss. Wie, christlich gesehen, eine effektivere Neu-evangelisierung des Landes aussehen könnte, wie man Proselytismus bzw. Konkurrenz zwischen den
Kirchen definieren müsste, welche Wege da eventuell zu beschreiten wären, dazu wurden wichtige Fragen gestellt. Diese weiter zu diskutieren, dazu will die Drucklegung der Vorträge in dieser Nummer beitragen.
Neben dem Hauptteil folgen aber auch Beiträge erzählenden Charakters. Sie nä-hern sich von einem anderen Winkel her derselben Fragestellung. Felizia Wolf lässt in ihrer Erzählung "Die Lammfellpantoffeln" intuitive Einblicke in emotional bedingte Prozesse bei der Flucht aufleuchten. Eugen Friesen schreibt in einem für Jugendliche besonders ansprechenden Stil über Fragen, die sich auf das interethnische Zusammenleben beziehen. Es geht hier nicht vorrangig um eine strikt rationale Diagnose der Situation, sondern um Fragen, die in der einen oder anderen Form immer wieder diskutiert werden, Fragen, die sich stellen und die gestellt werden müssen, weil die Lebensbedingungen in unserem Land das verlangen.
Den Schluss dieser Ausgabe bilden einige Buchbesprechungen zu neulich er-schienenen Werken und eine Stellungnahme zum Begriff der "Altkolonier" aus einem Aufsatz aus der vorjährigen Nummer des Jahrbuchs. Wir möchten hiermit auffordern weiterhin Stellung zu beziehen, Briefe einzusenden, um so den Gemeinschaftscharakter der Reflexion zu unterstreichen.
Ein besonderer Dank gilt allen Personen, die mit ihrem Einsatz die Durchführung des Symposiums ermöglichten: Der Ost-MBG für die Erlaubnis der Saalmiete; den Rednern, Dr. J. Warkentin, P.P. Klassen, Hans Theodor Regier, Dr. Alfred Neufeld, Dra. Milda Rivarola, und Bischof Lucio Alfert.
Gedankt sei auch: Regina Stahl und Mary Derksen für die Ausschmückung des Saales; Randolph Balzer für die Bedienung der Tonanlage; Karin Giesbrecht und Delia Janz für die Registrierung der Teilnehmer; Levi Hiebert, Korny Neufeld, Michael Rudolph, Rudi Hiebert für die Gestaltung des Kulturabends; Hilda Boschmann für die Erfrischung in den Pausen; Irene Wall und Elisabeth Niebuhr für die Anleitung des Gesanges; Paul Klassen für die Übersetzung sämtlicher Vorträge für die spanischsprachigen Teilnehmer. Dank auch den Gruppenleitern und den Personen, die mit einer Stellungnahme die Diskussion bereichert haben.
Gundolf Niebuhr, Schriftleiter
Frau Veronika Koop schreibt zu dem Kunstwerk auf dem Deckel folgendes
Der bunte Rock Josephs
Jakob hat eine besondere Liebe zu Joseph. Sie ist wie die Liebe Gottes zum siebten Tag. Er lässt daher für Joseph einen "bunten Rock" machen (Gen. 37,3), gleichsam ein "Prunkgewand". Dieser vielfarbige oder bunte Rock spielt eine große Rolle. Er ist nicht nur schön, sondern auch kostbar. Aber die
Bibel will noch mehr damit erzählen. Die Überlieferung sagt, der habe aus aneinander genähten Lappen von verschiedenen Farben bestanden.
Josephs bunter Rock erhält gerade durch das Zusammenspiel der Farben seine Harmonie, seine Schönheit. Der Rock ist wie die
Bibel, wie der Baum des Lebens, wie das Wissen um den Lebenssinn, wie das bereits-im-Ziel-sein, und gleichzeitig sich auf-das-Ziel-zu-bewegen.
Jeder Stofflappen an jenem Rock ist an und für sich etwas Selbständiges, hat seine eigene Färbung, er wird aber umgeben von anderen Farben, verliert dadurch von seinem eigenen Wert, seinem Gewicht, und wird aufgenommen in eine Einheit, die dann "bunter Rock" heißt.
Vorträge des Symposiums vom 25. – 26. Mai 2001 in Filadelfia
Dr. Jakob Warkentin
1. Einleitung
„Es gibt keinen besseren Schlüssel zum Charakter einer Gesellschaft als die Art Geschichte, die sie schreibt oder eben nicht schreibt", behauptet der englische Historiker Edward Hallet Carr in seinem Buch „Was ist Geschichte", das 1963 erstmalig in deutscher Sprache erschienen ist.
(2) Wenn wir diese Behauptung ernst nehmen – ich meine, es gibt genügend Gründe dafür -, dann tun wir gut daran, uns eingehender mit der Geschichtsschreibung der
Mennoniten in Paraguay zu befassen. Mit meinen Ausführungen will ich dazu einen kleinen Beitrag leisten, der dann in den Gruppengesprächen und hoffentlich auch darüber hinaus ergänzt werden wird
Schon der
Prediger Salomo stellte mit Besorgnis fest, dass des vielen Bücherschreibens kein Ende sei.
(3) Wenn man sich die vielen Festschriften, Auftrags- und Forschungsarbeiten über die
Mennoniten in Paraguay ansieht, kann man sein Urteil immer noch bestätigen. In diesem Zusammenhang interessieren uns vor allem die Publikationen, die einen Beitrag zur Geschichte der
Mennoniten in Paraguay liefern. Offensichtlich sind die verantwortlichen Personen in
Kolonie und
Gemeinde daran interessiert, die Aufbau- und Entwicklungsarbeit in ihrem Verantwortungsbereich zu dokumentieren. Gerne werden dabei Erfolge hervorgehoben und Misserfolge verniedlicht oder gar verschwiegen. Als ich 1974 im
Chaco Material für meine Dissertation über das deutschsprachige Siedlerschulwesen in
Paraguay sammelte, fragte ich einen Oberschulzen, ob sie denn an einer solchen Forschungsarbeit interessiert seien. Er antwortete darauf unmissverständlich: „Wann wi doabi goat aufschniede, dann jo."
Sprach dieser
Oberschulze nur für sich selbst oder drückte er dabei eine Grundhaltung aus, die bei den
Mennoniten in Paraguay weit verbreitet ist? Denn sobald ein kritisches Referat oder ein Artikel mit unkonventionellen Gedanken erscheint, hört man die besorgte Frage: Was werden denn die „anderen" über uns denken, wenn sie das lesen oder hören? Haben wir denn so viel zu verbergen, oder darf das von uns durch Fremd- und Selbstdefinition entstandene Bild keine Kratzer bekommen? Ich glaube, es ist an der Zeit, bei der Beschäftigung mit unserer Vergangenheit die Akzente nicht mehr so sehr auf die Dokumentation guter Werke zu konzentrieren, als vielmehr zu erhellen, wo in der Gesellschaft Brüche entstanden sind oder Wege eingeschlagen wurden, die Menschen in die Resignation trieben oder zur Auswanderung zwangen.
Meine Ausführung habe ich in zwei Teile geteilt. Der erste Teil soll über grundlegende Begriffe der Geschichtsschreibung Klarheit verschaffen, und der zweite Teil soll verschiedene Beiträge der Geschichtsschreibung analysieren und dabei prüfen, welchen Beitrag sie zur Schaffung oder zur Veränderung des Images der
Mennoniten in Paraguay geleistet haben. In meinem Referat beschränke ich mich auf die Geschichtsschreibung der deutschsprachigen
Mennoniten in Paraguay. Der Beitrag der lateinparaguayischen und der indianischen Mennoniten zum Gesamtbild der
Mennoniten in Paraguay müsste in einem eigenständigen Referat dargestellt und reflektiert werden. Es wäre gut, wenn die zukünftige mennonitische Geschichtsschreibung nicht nur den Wertehorizont der russlanddeutschen Mennoniten, sondern auch den der anderen mennonitischen Ethnien sowie auch der nichtmennonitischen Ethnien in diesem Land berücksichtigen würde.
2. Grundbegriffe der Geschichtsschreibung
2.1 Was ist Geschichte?Ernst Opgenoorth antwortet auf diese Frage in seiner Einführung in das Studium der Neueren Geschichte so: 1. „Geschichte ist Geschehenes. Dabei denken wir vornehmlich an Begebenheiten, die aus dem Handeln des Menschen hervorgehen oder wenigstens darauf einwirken." 2. „Ebenso bezeichnet auch ´Geschichte´als Name einer Wissenschaft zugleich die Sache und die Kenntnis von ihr; Kenntnis sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Sinne."
(4) Vereinfacht können wir mit Opgenoorth die drei Aspekte des Wortes Geschichte so unterscheiden: Die wissenschaftliche Kenntnis von Geschichte bezeichnen wir als „Geschichtswissenschaft", ihre Kenntnis und Darstellung als „Geschichtsschreibung" oder „Historiographie" und die Ereignisse selbst als „Geschichte"
Das ist zunächst einmal eine formale Antwort auf die gestellte Frage. E. H. Carr, der der Beziehung zwischen dem Historiker und seinen Fakten große Bedeutung beimisst, sagt: „Geschichte ist ein fortwährender Prozeß der Wechselwirkung zwischen dem Historiker und seinen Fakten, ein unendlicher Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit."
(5)
Das Verständnis der Vergangenheit, so Carrs Meinung, leistet Hilfe zur Bewältigung der Gegenwart: „Die Vergangenheit ist uns nur im Licht der Gegenwart verständlich; und umgekehrt können wir die Gegenwart nur im Licht der Vergangenheit ganz erfassen. Die zweifache Aufgabe der Geschichte besteht darin, den Menschen in die Lage zu versetzen, die Gesellschaft der Vergangenheit zu verstehen und die Gesellschaft der Gegenwart besser zu meistern."
(6)
Damit dürfte klar sein, dass die Beschäftigung mit Geschichte nicht nur ein Hobby oder ein Zeitvertreib für wissbegierige Leser ist, sondern eine notwendige Tätigkeit für alle diejenigen Personen in der Gesellschaft sein sollte, die verantwortlich danach fragen, woher wir kommen, um aus den Antworten mögliche Hinweise für die Beantwortung der Frage, wohin wir gehen, zu finden. Der Historiker, der in der Gegenwart lebt, steht zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er ist daher nicht nur um Klärung der Ereignisse in der Vergangenheit bemüht, sondern lenkt seine Gedanken auch über die Gegenwart hinaus in die Zukunft. Carr sagt: „Gute Historiker haben m. E., ob sie nun darüber nachdenken oder nicht, die Zukunft in den Knochen. Neben der Frage nach dem Warum stellt der Historiker auch die Frage nach dem Wohin."
(7)
2.2 Die Bedeutung der FaktenWer Geschichte schreiben will, muss sich erst einmal mit den verfügbaren Fakten vertraut machen. Dabei benutzt der Historiker die verschiedenen Quellen, die ihm in Form von Dokumenten, Protokollen, Briefen, Zeitschriften, Büchern, Quellensammlungen usw. zugänglich sind. Die Bedeutung der Fakten für die Geschichtsschreibung begann vor allem mit Leopold von Ranke, der um 1830 aus Protest gegen die moralisierende Geschichtsschreibung forderte, dass die vornehmliche Aufgabe des Historikers darin bestünde, zu dokumentieren, „wie es eigentlich gewesen" sei. Diese Parole machten sich die deutschen, englischen und französischen Historiker der folgenden drei Generationen zu eigen. Unter ihnen vor allem die Positivisten, die darauf bedacht waren, die Geschichte als Wissenschaft zu etablieren. Nach dieser Auffassung habe der Historiker in erster Linie Fakten, d. h. Daten zu erheben, die in Form von Dokumenten, Inschriften u.a.m. zugänglich sind. Geschichte wäre, so gesehen, eine Summe von Fakten.
(8)
Wo bleibt dann aber die Interpretation? Nun, darüber hat es unter den Historikern ebenfalls eine Diskussion gegeben. Sir George Clark unterschied zwischen dem „festen Kern der Fakten" und dem „Fruchtfleisch der anzweifelbaren Interpretation" und der liberale Journalist C. P. Scott drückte es so aus: „Die Fakten sind heilig, die Meinung ist frei."
(9)
Nun müssen wir einschränkend sagen: Nicht alle Fakten der Vergangenheit sind historische Fakten. Manche sind der Auffassung, dass es grundlegende Fakten gebe, die für alle Historiker verbindlich seien und sozusagen das Rückgrat der Geschicht bilden würden. Dem gegenüber betont Carr, dass die Entscheidung, welches nun grundlegende Fakten seien, nicht in der Qualität der Fakten zu suchen sei, sondern eher auf eine A-priori-Entscheidung der Historiker zurückzuführen sei. Es stimme also nicht, dass die Fakten für sich selbst sprächen. „Die Tatsachen sprechen nur", so Carr, „wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge und in welchem Zusammenhang".
(10) Er fährt dann an anderer Stelle fort: „Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß".
(11) Und Barraclough, Professor für mittelalterliche Geschichte, stellt fest: „Es wird immer noch viel zu wenig wahrgenommen, dass die Geschichte, die wir lesen, genaugenommen nicht so sehr Tatsachen bringt, obwohl sie sich auf Tatsachen gründet, als eine Reihe angenommener Meinungen."
(12)
Bei der Mitteilung von historischen Fakten fließen oft bewusst oder unbewusst Meinungen und Interpretationen mit ein. Das soll an den folgenden drei Aussagen gezeigt werden. Als der Matrose auf dem Ausguck des Segelschiffes, mit dem Columbus seine Seereise nach Westen angetreten hatte, eines Tages ausrief: „Land in Sicht", da konnten die mitfahrenden Seeleute mit ihren eigenen Augen seine Aussage überprüfen. Bei dieser Aussage handelt es sich um eine reine Tatsachenfeststellung, die unabhängig von der Meinung des Hörers gültig ist. Anders verhält es sich mit der Aussage, die wir in vielen Geschichtsbüchern lesen können: 1492 wurde Amerika entdeckt. Es stimmt zwar, dass Columbus in dem besagten Jahr den neuen Erdteil erstmalig gesehen und betreten hat. Das Wort „entdeckt" enthält aber weit mehr als eine Tatsachenfeststellung, denn es impliziert den ausgesprochenen Standpunkt des Westeuropäers und dessen Weltverständnis. Aus der Sicht der Indianer könnte dieselbe Tatsache so lauten: 1492 begann unsere Unterdrückung. Und hier das dritte Beispiel. 1920 telegraphierte der Landsucher Fred Engen im
Gran Chaco an seinen Auftraggeber Mc Roberts in
Buenos Aires: „I´ve found the promised land". Auf der einen Seite ein lapidare Tatsachenfeststellung, auf der anderen Seite die Mitteilung einer erfüllten Prophezeihung, verbunden mit einer optimistischen Zukunftserwartung.
An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Faktenmitteilung noch keine Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn ist, sondern erst die kritische Interpretation entscheidet über die Aussagekraft und den Stellenwert der Fakten.
2.3 Erklären und Verstehen
Wir halten fest: Die enzyklopädische Kompilation von Fakten ist noch keine Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn, sie bietet aber eine gute Grundlage dafür. Auch eine Zusammenstellung von Fakten, die unkommentiert veröffentlicht werden, ist keine objektive Widerspiegelung der jeweiligen Wirklichkeit. Denn die jeweils vorhandenen Dokumente lassen nur Aussagen über ganz bestimmte Teilbereiche der Realität zu, während andere Teilbereiche auf Grund fehlenden Quellenmaterials im Dunkeln bleiben. Hinzu kommt, dass die Auswahl und Anordnung der Dokumente bereits eine Tendenz der zu erwartenden Interpretation verrät.
Bei der Interpretation von Texten, die sich auf ein geschichtliches Ereignis beziehen, geht es darum, die jeweiligen Ursachen und Wirkungen zu erklären und die Handlungsweise der jeweiligen Akteure in ihrem Kontext zu verstehen. Ob sich der Historiker nun mehr um die Erklärung der Ereignisse oder um das Verstehen der Vergangenheit bemüht, hängt davon ab, ob er zu den Positivisten oder zu den Hermeneutikern gehört. Nach Auffassung der Positivisten gibt es nur eine Art von Erklärungen, nämlich die der kausalen, d. h. der gesetzmäßigen Erklärungen. Sie lehnen sich dabei an das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell an und sehen in der Geschichtswissenschaft nur eine Variante dieses Modells.
(13)
Dieser positivistische Ansatz wird jedoch von einer anderen Gruppe, die sich Hermeneutiker nennen, abgelehnt. Sie lehnen es ab, den Begriff der „Erklärung" aus der Naturwissenschaft abzuleiten. Sie bevorzugen das intentionale und narrative Erklärungsmodell und verweisen darauf, dass man die historische Erklärung nur dem Werk des Historikers selbst entnehmen könne.
Die Diskussion zwischen Positivisten und Hermeneutikern ist bereits mehr als hundert Jahre alt. Sie entstand, weil die jeweilige theoretische Erkenntnis auch praktische Konsequenzen hat. An dem Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften wie Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften kann man das verdeutlichen. Positivistisch ausgerichtete Historiker betonen die Bedeutung der Sozialwissenschaften für das Geschichtsstudium und streben manchmal sogar deren Integration an. Diese Integration von Geschichte und Sozialwissenschaften wird von den hermeneutisch orientierten Historikern jedoch abgelehnt. Sie sehen vielmehr eine enge Verwandtschaft zwischen Geschichte, Literatur und Rhetorik sowie der bildenden Kunst.
Johann Gustav Droysen, ein deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts, schrieb in seiner „Historik": „Wir erklären nicht. Interpretation ist nicht Erklärung des Späteren aus dem Früheren, des Gewordenen als ein notwendiges Resultat der historischen Bedingungen, sondern ist Deutung dessen, was vorliegt, gleichsam ein Lockermachen und Auseinanderlegen dieses unscheinbaren Materials nach der Fülle seiner Momente, der zahllosen Fäden, die sich zu einem Knoten verschürzt haben, das durch die Kunst der Interpretation gleichsam wieder rege wird und Sprache gewinnt."
(14)
Droysen hat auch näher erläutert, wie ein Historiker vorgeht, wenn er die Vergangenheit verständlich machen will. Dabei unterscheidet er vier Phasen. In der ersten Phase, die er „pragmatische Interpretation" nennt, verschafft sich der Historiker mittels der Quellensammlung und Quellenkritik ein möglichst zutreffendes Bild von der Vergangenheit. In der zweiten Phase erfolgt nach Droysen die „Interpretation der Bedingungen", wozu die geographischen, materiellen und technischen, aber auch die mentalen Umstände gehören, die das Handeln der jeweiligen Individuen beeinflusst haben. In der dritten Phase folgt die „psychologische Interpretation", wobei der Historiker versucht, sich in die Motive und den Geist der handelnden Personen hineinzuversetzen. Im vierten Schritt erschließt der Historiker die Beziehungen zwischen den handelnden Personen und dem Zeitgeist.
(15)
In der Naturwissenschaft eignet sich die Erklärung, da Ursache und Wirkung in einem deterministischen Zusammenhang stehen. D. h. bestimmte Bedingungen ziehen gesetzmäßige Folgen nach sich. Das ist in der Geschichte anders. Naürlich kann man auch bei Geschichtsabläufen Ursache und Wirkung aufeinander beziehen, deren Abfolge ist jedoch nicht zwangsläufig determiniert, da das menschliche Handeln nur teilweise determiniert, teilweise aber durch seine Entscheidungsfähigkeit offen und damit nicht eindeutig vorhersehbar ist.
2.4 Objektivität und SubjektivitätSchon die klassischen römischen Schriftsteller, wie z. B. Cicero, strebten in ihrer Geschichtsschreibung Objektivität an. Sie wollten die Tatsachen unverfälscht und vorurteilslos darstellen. Inzwischen weiß man längst, dass man Geschichtsschreibung weder von „God´s eye point of view" (Hillary Putman) noch von einem „view from nowhere" (Thomas Nagel) schreiben kann und ist daher bemüht, wie Chris Lorenz es ausdrückt „die Ideen der Objektivität und der Perspektivität miteinander zu versöhnen."
(16)
Da sich die sozio-historische Wirklichkeit dauernd ändert, bleibt auch der Standpunkt des Historikers nicht immer derselbe. Es ist daher angebracht, dass der Historiker seinen Standort zu Beginn seiner Ausführungen reflektierend darstellt. Jeder Historiker arbeitet innerhalb eines bestimmten Werthorizontes, d. h. seine Darstellung erfolgt aus einer bestimmten normativen Perspektive heraus. Deutlich erkennbar wird sie aber erst durch die Absetzung von anderen Werthorizonten. Chris Lorenz schreibt:
„Erst mit der Formulierung eines
anderenWerthorizonts kann man den ersten als solchen erkennen und identifizieren, denn niemand kann den Boden sehen, auf dem er steht. Für die Identifizierung eines Werthorizonts in der Geschichtsschreibung scheint daher die Anwesenheit
anderer, kontrastierender Werthorizonte – und damit ein normativer Pluralismus – eine notwendige Bedingung zu sein."
(17)Hier, so meine ich, tut sich für die mennonitische Geschichtsschreibung ein weites Feld auf. Zu oft sind die Mennoniten nach Maßgabe des eigenen Werthorizontes beschrieben worden, von wo aus dann mit demselben Maßstab die sie umgebenden anderen Bevölkerungsgruppen definiert und kritisiert wurden. Die Betrachtung der Mennoniten aus dem Blickwinkel eines anderen Werthorizontes könnte für uns jedoch eine Spiegelung ermöglichen, die zu einem realistischeren und wahrhaftigeren Selbstbild und zu einer objektiveren Beurteilung der anderen Ethnien in ihrem Lebensraum führen würden.
2.5 Geschichte und IdentitätWer sind wir? Diese Frage beschäftigt immer wieder die Menschen. Eine Möglichkeit besteht darin, sie über ihre Geschichte zu bestimmen. Hermann Lübbe sagt: „Identät ist das, was als – zutreffende – Antwort auf die Frage erteilt wird, wer wir sind."
(18) Jörn Rüsen meint, dass die wesentliche Funktion von Geschichte darin besteht, Identitäten zu „präsentieren" oder zu „konstruieren".
(19) Zu beachten ist dabei, dass der Historiker immer einer bestimmten Gesellschaftsgruppe angehört und auch deren Sichtweise repräsentiert. Bei der Definition der kollektiven Identität ist zwischen Selbstdefinition und Fremddefinition zu unterscheiden, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. „In multikulturellen Gesellschaften", so Chris Lorenz, „hat sich diese Spannung bei der Definition ethnisch-kultureller Identitäten immer weiter verstärkt."
(20)
Bei den Identitätsvorstellungen spielen nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft eine wichtige Rolle. Werthorizont und Historiographie sind eng miteinander verknüpft,
„weil in einer Identitätsvorstellung die
Rekonstruktion der (Gruppen-) Vergangenheit, die
Diagnose Zukunftserwartungenunlöslich miteinander verbunden sind. Menschen und Gruppen
finden ihre Identität nämlich nicht in vorliegender Form in den Tatsachen, sondern
bilden ihre Identität in einer Rekonstruktion der Vergangenheit aus ihrer Sicht der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Identität ist also ein
kombiniertes Produkt von Rekonstruktion und Projektion oder, in Rüsens Formulierung `Norm und Tatsache zugleich’".
(21)Identitätsvorstellungen sind für Individuen und Gruppen wichtig, weil sie ihr Handeln daran orientieren. Bei der Konstruktion dieser Identität sind sie maßgeblich mitbeteiligt, indem sie ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten, sich in bestimmte Traditionen einordnen und daraus ihre Identität ableiten.
(22)
2.6 Ziel und Aufgabe der GeschichtsschreibungWozu schreibt man denn Geschichte? Gerhard Ratzlaff antwortet auf diese Frage in seinem Buch „Ein Leib – viele Glieder" so: „Das
Ziel der Geschichtsschreibung ist die Verherrlichung Gottes, die Ausbreitung seines Reiches und der Dienst am Nächsten."
(23) Und an anderer Stelle: „Die Geschichte soll Werte unserer Gemeinden übermitteln und Wegweiser für die Zukunft sein."
(24) Er fügt dann noch hinzu, dass die Geschichtsdeutung ein entscheidendes Merkmal der Geschichtsschreibung sei und stellt fest: „Die Auslegung historischer Ereignisse ist richtunggebend für die Gemeinden und ihre Tätigkeit."
(25) Solche Formulierungen lassen den Schluss zu, dass nach seiner Auffassung der Geschichtsschreiber – zumindest wenn es um die Geschichte der Gemeinden geht – wohl eher einem verkündigenden
Prediger als einem reflektierenden und kritisierenden Analytiker gleichen solle. Ratzlaff will mit seiner Geschichtsschreibung den Leser zu guten Werken animieren, das zeigt auf eindrückliche Weise sein Buch über die „
Ruta Transchaco", deren Bau er als ein Werk der Bruderschaftshilfe deutet, „um dadurch den Leser und die heutige Generation zu motivieren, in gleichem Sinne praktische Hilfe im christlichen Geiste zu üben."
(26)
Nüchterner und weitgefasster ist Carrs Aufgabenstellung für den Historiker, wenn er schreibt: „Die Funktion des Historikers besteht weder darin, die Vergangenheit zu lieben, noch sich von ihr zu emanzipieren, sondern darin, sie als Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart zu bewältigen und zu verstehen."
(27) Weder Verherrlichung noch Verleugnung der eigenen Vergangenheit, sondern Erhellung und kritische Bewertung unserer Vergangenheit, mit dem Ziel, daraus hilfreiche Hinweise zur Bewältigung der in der Gegenwart sich uns stellenden Fragen und Probleme zu erhalten, scheint mir eine angemessene und sinnvolle Aufgabe der Geschichtsschreibung zu sein.
3. Beiträge der Geschichtsschreibung
3.1. Das Bild der Mennoniten in Paraguay wird gemalt.„Unser Bild ist schon vor uns für uns ausgewählt und bestimmt worden, nicht so sehr durch den Zufall als durch Leute, die bewusst oder unbewusst von einer ganz bestimmten Sicht durchdrungen waren und die Tatsachen, die diese Sicht stützten, des Aufschreibens wert fanden." Diese Aussage des Historikers Carr in Bezug auf die Geschichtsschreibung des Mittelalters lässt auch uns aufhorchen, wenn wir uns mit mennonitischer Geschichtsschreibung befassen. Carr fährt dann fort: „Aber das Bild des tiefreligiösen mittelalterlichen Menschen ist, ob es nun wahr ist oder nicht, unzerstörbar, da fast alle bekannten Fakten durch Menschen ausgewählt wurden, die es glaubten und denen daran lag, dass auch andere es glaubten, und da eine Menge anderer Tatsachen, die uns möglicherweise das Gegenteil bezeugt hätten, unwiderruflich verlorenging."
(28) Mir scheint, dass das Bild der
Mennoniten in Paraguay in der schwierigen Anfangszeit einen wichtigen Beitrag zur Überlebensstrategie geleistet hat und in der Folgezeit eine systemstabilisierende Funktion hatte. Im Laufe der Zeit hat sich das Bild der Mennoniten wiederholt auch als Störfaktor erwiesen, da dadurch oft Erwartungen an sie gestellt wurden, die nicht einlösbar waren, oder Abgrenzungen vollzogen wurden, die weder plausibel noch notwendig waren. Aus welchen Grundelementen sich dieses Bild zusammensetzt, lässt sich an Hand einiger Publikationen deutlich zeigen. Die Grenzen zwischen Fremddefinition und Selbstdefinition sind dabei durchaus fließend.
Paraguay als Zufluchtsort für verfolgte Mennoniten tauchte bereits auf, als hier noch keine Mennoniten eingewandert waren. Otto Xenos, alias Heinrich Braun, der für seine mennonitischen Glaubensgeschwister in Russland eine neue Heimat suchte, nachdem diese infolge des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Revolution „ausnahmslos arm, bettelarm und fremd" geworden waren, schrieb 1927 im Christlichen
Gemeinde-Kalender der Süddeutschen Mennoniten über seine Studienreise durch Uruguay und
Paraguay, die er 1924 durchgeführt hatte: „
Paraguay ist heute ein kulturell armes Land, hat aber viele Bodenschätze, die zu heben sind, und die Vegetation verfügt über viele Heilkräuter. Der
Chaco bietet ein nicht zu unterschätzendes Siedlungsgebiet. Es müßten aber die Wasserfrage mehr geklärt werden und die Verkehrsschwierigkeiten beseitigt werden."
(29)
Bereits hier werden Grundelemente für das zukünftige Mennonitenbild zusammengetragen, die ich in folgendem Satz zusammenfassen kann: Verfolgte Mennoniten aus Russland sind potentielle Kulturbringer in einem unbesiedelten Land.
Von weit aus größerer Bedeutung für die Gestaltung des Mennonitenbildes im
Chaco war jedoch der Beitrag von H.S.Bender, der sich im Auftrag des
MCC für die Siedler der
Kolonie Fernheim in besonderer Weise verantwortlich fühlte. Er und seine Mitarbeiter in der Studienkommission, zu der neben ihm M.H. Kratz und P.C. Hiebert gehörten, sahen im paraguayischen
Chaco ein viel versprechendes Siedlungsgebiet:
„Nun, – in dem paraguayischen Chaco könnten wir leicht sämtliche Mennoniten der Welt unterbringen. Anderthalb Millionen Hektar in einem Block und gänzlich unbevölkert standen uns zur Verfügung … Uns schwebte ein zukünftiger Mennonitenstaat vor, wo, wenn möglich, sämtliche russische Mennoniten in unbeschränkter Feiheit ihr Leben und ihre Kultur neu gründen und weiterentwicklen könnten. Ein weiterer, besonderer Vorteil des paraguayischen Chaco in kultureller Beziehung ist die Tatsache, dass heute dort gar keine Kultur existiert. Es besteht also keine Gefahr, dass die Mennoniten mit ihrer deutschen Kultur in einer fremden Kultur untergehen werden."
(30)Hier werden einzelne bereits genannte Elemente des Mennonitenbildes verstärkt, andere hinzugefügt:
Chaco als menschenleere und kulturlose Wildnis, Abgeschiedenheit als Vorteil für den eigenen Kulturerhalt, Möglichkeit der Errichtung eines „Mennonitenstaates", was auch immer das heißen mochte.
Bender legte in seinem Vortrag großen Wert darauf, zu betonen, dass „die Auswanderung nach
Paraguay von Anfang an eine freiwillige gewesen" sei. Er sagte: „Ich habe niemand für
Paraguay angenommen, der nicht völlig überzeugt war, dass dieses Land seine zukünftige Heimat sein sollte." Und noch eines stellte er klar: „Die ganze Sache ist für uns alle, für die Mennonitengemeinden in Nordamerika, für das M.C.C., für mich und für die ausfahrenden
Flüchtlinge eine Glaubenssache gewesen."
(31)
Das Bild der
Mennoniten in Paraguay erhielt durch Bender noch eine andere entscheidende Färbung durch die folgende Aussage: „Ich bin Amerikaner bis zu den Zähnen, ich bin kein Deutscher. Ich bin aber dafür, dass die neuen Mennoniten-Siedlungen deutsch sind und bleiben. Wir
amerikanische Mennoniten werden darauf hinarbeiten, dass diese neuen Ansiedlungen ganz und gar deutsch bleiben und sich weiter in dieser Richtung entwickeln."
(32) Gewiss hat er sich damals nicht vorstellen können, in welche Zerreißprobe gerade das Bekenntnis zu Deutschland die Fernheimer Siedler stürzen würde.
Eine Fremddefinition der Mennoniten im
Chaco ergänzte und verstärkte das Selbstbild der Siedler in Bezug auf ihren Fleiß und ihre Arbeitsbereitschaft. So ist im Vorwort der 1934 vom Ministerio de Economía herausgegebenen Broschüre über die Mennoniten im paraguayischen
Chaco von den Siedlern Folgendes zu lesen:
„Die MENNONITENKOLONIEN im Chaco Paraguays: sie sind das Sinnbild höchster Schaffenskraft, eisernen Willens und eines unerschütterlichen Glaubens an den Segen der Arbeit. Jedermann weiß, wer sie sind, diese bescheidenen Siedler, die sich selbst verleugnend ihre Hütten im Herzen des Chaco errichteten; doch nicht jeder kennt die Großartigkeit ihres Werkes. Dort sieht man sie, Hand am Pfluge Furchen ziehend als Sendboten des Fortschritts fruchtbare Erde für die Wirtschaft des Landes erschließen. Edle Früchte sprießen aus ihren Aeckern!"
(33)1937, noch ehe etwa ein Drittel der Fernheimer Bürger die
Kolonie verließ, um in Ostparaguay die neue Siedlung
Friesland zu gründen, besuchte P.C.Hiebert aus den USA die von russlanddeutschen Mennoniten gegründete Siedlung im paraguayischen
Chaco. Er reiste im Auftrag der Bundeskonferenz der Mennoniten-
Brüdergemeinden in Nordamerika, um den Brüdern im Süden Trost und Liebe zu spenden und ihnen das Evangelium zu predigen.
Hiebert sah in der
Kolonie Fernheim ein „Asyl unseres Volkes, wohin Gott sie in seiner Gnade und Weisheit gebracht hat." Er fügte dann hinzu: „Es ist aber deshalb kein irdisches Paradies".
(34) Er war davon überzeugt, dass Gott die Mennoniten in diese Gegend gebracht hatte, um den Indianern das Evangelium zu verkünden. Hier taucht ein weiteres Element des Mennonitenbildes auf: Mennoniten als Missionare der Indianer im wilden
Chaco.
Hiebert musste aber feststellen, dass sich in diesem Mennonitenbild bereits die ersten Risse erkennen ließen. Infolge von anhaltender Dürre und Heuschreckenplagen und angesichts drückender Schulden begann eine Reihe von Siedlern an ihrem Sendungsbewusstsein zu zweifeln. Die eine Gruppe sah es nach wie vor als ihre Verantwortung, der Führung Gottes zu vertrauen und den Indianern die frohe Botschaft zu verkündigen. Die andere Gruppe aber meinte, sie müsse im Interesse ihrer Familien ein Siedlungsgebiet finden, wo es mehr regne, mehr Obst und Gemüse wachse, ein Gebiet, das näher zur
Eisenbahn und zur Stadt sei.
Hiebert stellte in seiner feinsinnigen Beobachtung noch einen anderen Tatbestand fest, nämlich die Unzufriedenheit mehrerer Bürger, die sich gegen die beschränkenden Ordnungsmaßnahmen der zentralistisch organisierten Kolonieverwaltung richtete. Seine Deutung fiel allerdings recht einseitig aus, denn in den Reden der Nonkonformisten erkannte er keine demokratischen Bestrebungen, sondern verglich sie mit den in der ganzen Welt verbreiteten Unruhen, so wie sie besonders im russischen Kommunismus zum Ausdruck kämen.
(35)
Fritz Kliewer, der sich zu Studienzwecken in Deutschland aufhielt, konnte 1936 an der Mennonitischen Weltkonferenz in Holland teilnehmen. In seinem Vortrag bestätigte er die bisher genannten Bildelemente. So berichtete er, dass die Mennoniten in
Fernheim vor 6 Jahren der „Sowjethölle" entronnen und nun im Begriff seien, „sich unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen mitten im Urwald von
Paraguay eine neue Heimat zu schaffen, wo sie ihres Glaubens und Volkstums leben können."
(36)
Er führte dann weiter aus:
„Wie so oft in ihrer 400-jährigen Geschichte haben die Mennoniten auch in Paraguay eine gewaltige Kulturaufgabe übernommen… Unter den allerschwierigsten Bedingungen haben Mennoniten im Chaco ein Kolonisationswerk begonnen, dessen Gelingen vielleicht noch einmal Tausenden, ja Hunderttausenden von Menschen Existenzmöglichkeiten bieten wird."
Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten bekannte er stellvertretend für die Siedler: „Wir sind der Überzeugung, dass uns Gott in dieses neue Land geführt und uns in
Paraguay auch Aufgaben gestellt hat, die wir erfüllen müssen."
(37)
Ein offizielles Schreiben der Verantwortlichen in
Kolonie und
Gemeinde an die
Mennonitische Weltkonferenz in Holland bestätigte die von Kliewer gemachten Ausführungen auf mehrfache Weise. Auf überzeugende Weise drückten sie ihren Dank aus für die Errettung aus Russland, die durch die Hilfe Gottes, der mennonitischen Brüder und des Deutschen Reiches ermöglicht worden war, und fügten hinzu: In Deutschland „konnten wir nicht bleiben; wir wollten und mußten weiter, denn wir sehnten uns nach einer neuen Heimat, wo wir unseres Glaubens und unserer mennonitischen Eigenart leben könnten."
(38)
Auch der Missionsauftrag der Mennoniten im paraguayischen
Chaco wurde betont: „Im letzten Jahr durften wir auch eine Missionsstation unter den in unserer nächsten Nähe wohnenden Indianern gründen. Wir erkennen es als unsere allerheiligste Pflicht, diesen Ureinwohnern des Landes das Wort vom Kreuze zu verkündigen."
(39)
Voller Bedauern erwähnten sie auch die potientiellen Abwanderer nach Ostparaguay: „Sie werden sich einfach nicht halten lassen, und unsere verantwortlichen Stellen werden sie nicht halten können. Das wäre sehr zu bedauern, denn die Gefahr der völligen Assimilierung ist hier unter den Einheimischen gar zu groß."
(40)
Bereits diese knappe Auswahl von Dokumenten zeigt deutlich, dass das Bild der
Mennoniten in Paraguay von mehreren „Künstlern" angefertigt wurde, das dann in der Folgezeit durch viele Broschüren und Schriften bestätigt worden ist. Dieses Bild wurde immer wieder dann verteidigt, wenn jemand daran ging, an diesem Bild Kritik zu üben, denn Kritik am Bild wurde immer als Kritik an den Mennoniten und deren sicher nicht zu unterschätzenden Leistungen betrachtet.
Wenn wir jedoch in Zukunft den Herausforderungen, die an uns als Mennoniten in der Gegenwart und der Zukunft in
Paraguay gestellt werden, gerecht werden wollen, werden wir an diesem Mennonitenbild weiter malen und es mit neuen Farben verändern müssen oder aber es gänzlich zur Seite stellen. Wenn nicht, dann werden wir das alte Bild, dessen Farben längst brüchig geworden sind, von der Wand nehmen müssen, um uns mit ihm auf eine weitere Wanderschaft zu begeben, von der wir nicht einmal ahnen, wohin die uns führen könnte.
3.2 Das Bild wird farbiger gestaltet.Die Zahl der Jubiläumsschriften der verschiedenen mennonitischen Kolonien in
Paraguay ist ein beredtes Zeugnis für das eigene Selbstverständnis der Mennoniten und sie weisen in Bild und Wort die großen Erfolge auf, die im Laufe von 25 bzw. 50 Jahren erzielt worden sind. Und an diesen Erfolgen soll auch nicht gezweifelt werden. Die Frage ist nur, in welchen Bereichen die Mennoniten besonders erfolgreich waren, und in welchen Bereichen kaum Fortschritte erzielt wurden. Aus Zeitgründen will ich mich hier auf die Festschriften der Kolonien
Fernheim und
Menno beschränken.
Die erste Jubiläumsschrift der
Mennoniten in Paraguay war die nach Form und Inhalt dünne Schrift der Fernheimer Siedler anlässlich des 25-jährigen Bestehens der
Kolonie. Herausgegeben wurde sie 1955 vom Echo-Verlag in Winnipeg, Kanada. Die Flucht aus Russland, die schwere Ansiedlungszeit, verbunden mit dem großen Massensterben, die bescheidenen Anfänge im Bereich des Kolonieamtes und der Kooperative, des Industriewerkes, des Schulwesens und des Krankenhauses sowie die Anfänge mit der Mission unter den Indianern waren die beherrschenden Themen dieser Publikation. „Diese Schrift soll" – so die Meinung der Jubiläumskommission – „unseren Nachkommen von der Schwere und den Leiden der Anfangszeit, aber auch von der Durchhilfe Gottes in der Not Kunde geben."
(41)
Weit umfangreicher als die erste Jubiläumsschrift ist die Festschrift der Fernheimer zum 50-jährigen Bestehen der
Kolonie. Aufmachung und Inhalt verraten ein deutlich gewachsenes Selbstbewusstsein der Siedler. Fachlich qualifizierte Personen hatten auf der Grundlage von Quellenmaterial und unter Verwendung der vorhandenen Literatur die einzelnen Koloniezweige sachkundig dargestellt, was durch einen informativen statistischen Anhang ergänzt wurde. Im geschichtlichen Teil des Buches zeigte Peter Wiens auf, was die Siedler im
Chaco bewogen hatte, trotz der vielen Schwierigkeiten weiterzumachen:
„Auffallend ist es, mit welch einem Mut und mit welch einer Vision fuer die Zukunft die ersten Siedler, unsere Pioniere, ans Werk gingen. Trotz vieler Widerwärtigkeiten und Rueckschlaege ging man an die Arbeit. Die Dankbarkeit fuer die Errettung aus Russland war mit eine Triebfeder im Streben nach vorwaerts. Man lebte in einem Lande des Friedens, wo ´man seines Glaubens leben konnte´."
(42)Man hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass Deutschland das „Mutterland" geblieben,
Paraguay aber inzwischen zum „Vaterland" aufgerückt war. So endete der Befund über die 50 zurückgelegten Jahre mit den Worten:
„Nachdem die Haerten der Ansiedlung ueberwunden sind, fuehlen sich die alten und besonders die jungen Fernheimer im Chaco wohl, zumal man recht viele Vorteile in Gestaltung des Lebens hier erblickt. Vor allem ist man dankbar, dass man in einem Lande lebt, wo die Freiheit des christlichen Lebens erlaubt ist. Zudem glauben wir ganz fest, dass Gott uns in dieses Land gefuehrt hat und wir als Christen hier eine Aufgabe haben. Das macht das Leben sinnvoll."
(43)Die
Kolonie Menno brachte ihre erste Jubiläumsschrift erst 1977 zum fünfzigjährigen Bestehen der Siedlung heraus. Diese von Martin W. Friesen und seinen Mitarbeitern verfasste Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Kanadische Mennoniten bezwingen eine Wildnis" bringt in den folgenden Aussagen ein klares Selbstverständnis zum Ausdruck:
„Die Mennoniten, die Begruender der Kolonie Menno, als sie das ungeheure Risiko auf sich nahmen und mit Axt und Spaten und Ochsenwagen in diese Dornwildnis vorstiessen, nahmen grosse Entbehrungen auf sich und brachten schwere Opfer. Viele ihrer wildnisbekaempfenden Mitpilger fielen dem strapazioesen Unternehmen der Wildnisbezwingung zum Opfer. Reihen von Graebern saeumten den Weg ins Innere des Chaco Central, 10 v. H. starben.
Viele dieser Mennoniten und ihre Nachkommen und diejenigen die spaeter kamen und ebenfalls grosse Opfer brachten, sind heute mit dem Chaco verwachsen. Sie sind Paraguayer geworden, mennonitische Paraguayer, nicht als solche, die ein Staat im Staate sein wollen sondern als solche, die einen Beitrag gegeben haben und geben wollen, fuer die ungeheuer schwierige Erschliessung eines Gebietes, das eigentlich allem Kulturstreben abhold war infolge seiner unsicheren klimatischen Bedingung.
Die Mennoniten aber in ihrer strebsamen Eigenart und in ihrem Gemeinschaftswesen stiessen immer wieder zu und liessen nicht locker und fuehrten den zentralen Chaco langsam aber sicher dem wirtschaftlichen Aufschwung zu – nicht aber nur mit ihrer Kraft und ihrem Willen, sondern auch dadurch, dass die Regierung und die paraguayische Nation sich immer mit ihrer moralischen Unterstuetzung dahinterstellte, und nicht zuletzt auch dadurch, dass sie ein geruettelt Mass von Gottvertrauen besassen, das ihnen Mut gab, wo sie anders vielleicht doch schon aufgegeben haetten.
So sind diese Mennoniten mennonitische Paraguayer geworden, wenn auch sich bewegend in ihrer Eigenart, in ihren Glaubensgrundsaetzen – so doch im Rahmen der nationalen Wohlfahrt. Es war den Mennoniten ein heiliges Versprechen, das sie machten, als Paraguay ihnen so grosszuegig gewisse Freiheiten als Glaubensgruppe gewaehrte, und das war: Die grosse Wildnis des zentralen Chaco der wirtschaftlichen Erschliessung zuzufuehren. Das haben sie gehalten – aber nicht von ungefaehr. Und die Einloesung dieses Versprechens hat nicht zu dem befuerchteten gaenzlich abgesonderten Mennonitenstaat gefuehrt, sondern vielmehr zur Gegenseitigkeit, zu einer Gemeinschaft der Bezeugung des Friedens, der Freiheit und des Fortschritts."
(44)Es ist auffallend, wie hier rückblickend die bescheidenen Auswanderer aus Kanada, die um des Erhaltes ihrer Schulen und der damit verbundenen Eigenart von Glauben und Leben das entwickelte Land Kanada verlassen hatten, als heldenhafte Pioniere in der Chacowildnis dargestellt werden. Zweifel, ob das hohe Menschenopfer in der Anfangszeit diese doch stark wirtschaftlich ausgerichtete Zielsetzung gerechtfertigt habe, werden nicht geäußert. Von einem Sendungsauftrag im Missionsbereich, so wie ihn die Fernheimer von Anfang an artikulierten, war anfänglich nicht die Rede. Erst 25 Jahre nach der Siedlungsgründung begann die
Kolonie Menno, sich direkt an der Missionsarbeit unter den Indianern zu beteiligen.
3.3. Versuche, das Bild umzufärben.In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gab es Bestrebungen, das Mennonitenbild in
Paraguay umzufärben. Die deutschen Farben, vor allem die braunen, traten mit einmal deutlicher zum Vorschein. Nicht alle waren damit einverstanden, aber führende Männer in der
Kolonie Fernheim meinten, es wäre an der Zeit, die deutschen Farben heller leuchten zu lassen. In der
Kolonie Menno kümmerte man sich in dieser Zeit nicht um diese Malkünste, sondern begnügte sich mit dem althergebrachten mennonitischen Bild, dessen Farben zwar schon etwas verblichen waren und bereits kleine Risse zeigten, aber man brachte das Bild ja auch nicht zur Ausstellung.
Die Schule schien das Bildelement zu sein, das am schnellsten und eindrücklichsten umgefärbt werden konnte. Die ersten Versuche dieser Art wurden dann auch anerkennend zur Kenntnis genommen. Herbert Wilhelmy war 1938 nach seiner Forschungsreise im
Chaco, wobei er
Fernheim und
Menno besucht hatte, zu folgender Situationsanalyse gekommen:
„Zwei in ihrer völkischen Haltung unterschiedliche Gruppen erheben in den Chacokolonien den Anspruch darauf, die Repräsentanten des echten Mennonitentums zu sein. Die Grenze zwischen beiden Lagern ist nahezu identisch mit der zwischen Menno und Fernheim. In den kanadadeutschen Dörfern erzieht man die Jugend zu gesamtmennonitischem Denken, in den russlanddeutschen Siedlungen dagegen bemüht man sich, das Mennonitentum als einen auslanddeutschen Volkssplitter zu begreifen und sein Schicksal in gesamtdeutscher Schau zu sehen."
(45)Bezüglich des Fernheimer Schulwesens kam er zu folgendem Schluss:
„Alle russlanddeutschen Mennoniten wieder in die deutsche Volksgemeinschaft zurückzuführen, ist die Aufgabe, die sich einige tatkräftige junge Lehrer der Kolonie gestellt und bereits in Angriff genommen haben…. 1934 verwandelte man die Zentralschule in Philadelphia in ein Landerziehungsheim mit Internat, wodurch eine straffe Gemeinschaftserziehung des Nachwuchses möglich wurde."
(46)Walter Quiring unterstützte mit seinem Buch „Deutsche erschließen den
Chaco" diese Sichtweise, indem er ebenfalls die Wichtigkeit der Fernheimer
Zentralschule für die neue Weichenstellung betonte. Er schrieb: „1934 entschlossen sich die Zentralschullehrer zu einer pädagogischen Neugestaltung ihrer Schule von wahrhaft geschichtlichem Ausmaße: sie gründeten die auslanddeutsche Schule der Zukunft, das erste auslanddeutsche Landerziehungsheim."
(47) Folgende Zielvorstellung wurde mit diesem Landerziehungsheim, das faktisch nach wie vor eine normale
Zentralschule war, verbunden:
„Das alles soll in Fernheim anders werden. Leiter des Internats im Landerziehungsheim wird der beste ihrer Erzieher, der mit einigen anderen Lehrern unter den Kindern wohnt, mit ihnen tagsüber arbeitet und auch an einem Tische ißt. Zum erstenmal in der Geschichte ihrer Schulen soll hier allergrößtes Gewicht gelegt werden auf die Entwicklung des Charakters, auf Ausmerzung der Lüge, der feigen Flucht vor der Verantwortung, auf Erziehung zur Ritterlichkeit Schwächeren gegenüber, auf Überwindung der Ichsucht usw. Auch der körperlichen Ertüchtigung soll zum erstenmal größte Aufmerksamkeit zugewandt werden und der Erziehung auch zu größter körperlicher Sauberkeit, die im Chaco noch viel nötiger ist als in einem gemäßigten Klima."
(48)Fritz Kliewer, der durchaus mit den deutschen Farben vertraut war, sie auch in seiner späteren Schularbeit anwandte, zeichnete in seiner Dissertation über die „Die Deutsche Volksgruppe in
Paraguay" jedoch ein Bild von der Fernheimer
Zentralschule, das sich durch moderate und vielfältige Farben auszeichnete. Er schrieb:
„Um dem Lehrermangel in den Mennonitenkolonien abzuhelfen, wird die Einrichtung von pädagogischen Klassen geplant. Eine Reihe von früheren Zöglingen der Zentralschule arbeitet aber bereits mit Erfolg in Fernheim, Friesland und in Neuhoffnung als Lehrer an einklassigen Volksschulen. Vielleicht gelingt es in Zukunft durch Zusammenarbeit aller Mennonitenkolonien in Paraguay, die Zentralschule zu einer leistungsfähigen Anstalt auszubauen, in der nicht nur die zukünftigen Lehrer, sondern auch die Führer für das ganze öffentliche Leben der rund 4300 deutschen Mennoniten ausgebildet werden können."
(49)Dieser Umfärbungsversuch war nicht von langer Dauer, hat aber doch viel Kummer und Streit mit sich gebracht, vor allem auch dadurch, dass in Ermangelung von Konfliktlösungsstrategien Übertünchungsbemühungen und Verdrängungsprozesse Hand in Hand gingen.
3.4 Das Bild wird retuschiert.Die Maler aus
Menno, die sich lange zurückgehalten hatten, traten nun immer mehr in den Vordergrund und begannen mit kräftigen Farbstrichen das Mennonitenbild zu retuschieren. M. W. Friesen hatte sich lange auf diese Arbeit vorbereitet und brachte zuerst die Jubiläumsschrift zum fünfzigjährigen Bestehen der
Kolonie Menno heraus und dann sein groß angelegtes Werk „Neue Heimat in der Chacowildnis".
(50) Friesen schrieb in seinem Vorwort zur Jubiläumsschrift: „´Kanadische Mennoniten bezwingen eine Wildnis´ klingt etwas romantisch und abenteuerlich. Beides lag nicht im Charakter und der Absicht dieser schlichten, obwohl beherzten Wildnispioniere. Und doch haben sie einen interessanten Stoff fuer beides gegeben."
(51) Und der langjährige
Oberschulze Jacob B. Reimer schrieb: „Ich habe immer wieder, wenn ich auf meinen Reisen von Leuten gefragt wurde, wie es moeglich war, dass die Mennoniten so eine Siedlung in der Wildnis schaffen konnten, geantwortet: Es ist ein Wunder Gottes; aber auch das starke Gottvertrauen und der beharrliche Mut der Siedler."
(52) Die Richtlinien für das Schulwesen bestimmte nach wie vor die
Allgemeine Schulverordnung, die jegliche Beeinflussung durch das nationalsozialistische Gedankengut von vornherein ausgeschlossen hatte. Friesen schrieb:
„Der Inhalt dieser Schulverordnung ist einerseits gepraegt von der wirklichen Besorgnis des christlichen Charakters eines Lehrers als Erzieher und der christlichen Grundlage der Erziehung ueberhaupt, eine Besorgnis, die auch wir heute nicht weniger haben sollten; andererseits aber auch ist sie gepraegt von dem aengstlichen Festhalten, Bewahren traditioneller Eigenarten, dem vermeintlich weltvorbeugenden, weltverhuetenden ungemein flach gestellten Unterrichtsstoff."
(53)Hier wird bereits deutlich gemacht, dass nicht nur das gesamte Mennonitenbild zu retuschieren war, sondern auch die typischen Farben der
Kolonie Menno aufzuhellen waren. Das gelang dann auch, indem die leitenden Männer in der
Kolonie, in der
Gemeinde und im Schulwesen auf Grund ihrer Erkenntnis und Weitsicht für sich beanspruchten, zu wissen, was für die Mennoniten in
Menno gut sei und eine Revolution von oben durchführten. Friesen schrieb:
„Die leitende Gruppe in Menno, die sich fuer Reformen einsetzte, ging in der Hauptsache nicht vom Gruppeninteresse aus, sondern von den Notwendigkeiten der Gemeinschaft. Wenn man nur Gruppeninteresse hätte fördern wollen, dann waere es wohl zu einer Gemeindespaltung gekommen. Man sah aber darin nicht den Segen."
(54)3.5 Einzelne Bildelemente werden genauer unter die Lupe genommen.Bereits die Erfahrungen der Fernheimer zur Zeit der Beeinflussung durch den Nationalsozialismus und die revolutionäre Umgestaltung von
Kolonie,
Gemeinde und Schule in der
Kolonie Menno zeigen, dass die Geschichte der Mennonitensiedlungen in
Paraguay keine ungebrochene Linie der Aufwärtsentwicklung zeigt. Irrwege, Sackgassen, aber auch Auswege und Höhepunkte verzögerten oder beschleunigten den Entwicklungsprozess. Das führte auch zu Irritationen bei der Bildgestaltung. Immer deutlicher wurde sichtbar, dass es nicht genügte, dilettantisch, mehr oder weniger planlos am Mennonitenbild herumzumanipulieren. Eine genaue Analyse von Einzelaspekten, von grundlegenden Widersprüchen, von wiederholt auftretenden, aber sachlich begründeten Konfliktsituationen machten es erforderlich, einzelne Bildelemente einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese Aufgabe übernahm Peter P. Klassen mit seinem Buch „Die
Mennoniten in Paraguay: Reich Gottes und Reich dieser Welt". Darin untersucht er ausführlich den bereits im Buchtitel angesprochenen Grundkonflikt des Siedlungsmennonitentums in
Paraguay. In seiner Einleitung gibt er die Zielrichtung seiner Arbeit an:
„Bestimmt von den besonderen Gegebenheiten in Paraguay hat das Kolonisationsmennonitentum noch einmal eine Blüte getrieben, deren Nährboden zwar die Tradition des Glaubens und des Wanderweges war, deren Form hier aber eine einmalige Entfaltung fand. Dass dies mehr noch als in Russland ein kirchen– und siedlungsgeschichtliches Phänomen und darüber hinaus wohl auch eine Grundsatzfrage für die Position der christlichen Gemeinde in der Welt geworden ist, wird in dem vorliegenden Buch neben der Darstellung auch eine Frage der Untersuchung. Stärker noch als bei Francis wird auf den Konflikt hingewiesen, der daraus erwächst, dass die täuferische Glaubensgemeinde nach apostolischem Leitbild mit der Kolonisation eine ihren Grundprinzipien widersprechende Aufgabe übernehmen mußte, nämlich die der weltlichen Regierung."
(55)3.6 Das Bild wird auf Normalmaß gebracht.Ein weiteres Konfliktfeld innerhalb des mennonitischen Siedlungswesens habe ich zum Gegenstand der Untersuchung in meiner Dissertation über „Die deutschsprachigen Siedlerschulen in
Paraguay"
(56) gemacht. Die ganze Anlage und auch die Ausführung der Arbeit selbst zeigen, dass es mir vor allem darum ging, nicht die Mennoniten als solches, sondern als Teil eines größeren sozialen, kulturellen und politischen Ganzen zu begreifen. Ich meine, dass es längst an der Zeit ist, nicht mehr die mennonitische Sonderrolle zu betonen, sondern die Mennoniten als integrativen Bestandteil der paraguayischen Gesellschaft zu verstehen. Wir sollten aufhören, uns als Verfolgte und Privilegierte zu charakterisieren, sondern damit beginnen, uns mit der Rolle von Normalbürgern vertraut zu machen. Damit rede ich keiner Gleichmacherei das Wort. Unsere religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen brauchen wir keineswegs unter den Scheffel zu stellen, müssen sie aber auch nicht auf den Leuchter heben, sondern da stehen lassen, wo sie sind. Es wäre wünschenwert, wenn wir immer mehr begreifen würden, dass wir tatsächlich so sein dürfen, wie wir sind, um dann von einer bewusst realistischen Basis aus zielgerichtet zu neuen Ufern aufzubrechen.
4. Ausblick.
Ich komme zum Schluss meiner Überlegungen und frage: Wozu brauchen wir ein Bild? Hat es sich nicht längst erübrigt? Wenn andere ein Bild von uns malen, können wir das schwerlich verhindern, aber wir selbst sollten uns an diesen Malversuchen nicht mehr beteiligen. Stattdessen sollten wir bemüht sein, uns anderen gegenüber so zu zeigen, wie wir tatsächlich sind und nicht wie wir sein möchten. Wir sollten zeigen, dass wir eine Gemeinschaft sind, die Stärken und Schwächen hat, wie andere Gemeinschaften auch. Das würde uns dazu befähigen, nicht nur bereit zu sein zu geben, sondern auch bereit zu sein zu nehmen. Und auf diesen Austausch, auf dieses gegenseitige Geben und Nehmen werden wir angewiesen sein, wenn wir unsere Heimat auf Dauer in
Paraguay behalten wollen.
Literaturverzeichnis
- Carr, Edward Hallett: Was ist Geschichte? W. Kohlhammer Verlag: Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1969.
- Christlicher Gemeinde-Kalender für das Jahr 1927, hrsg. von der Konferenz der Süddeutschen Mennoniten. Kaiserslautern 1927.
- Die Bibel oder Die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Württembergische Bibelanstalt Stuttgart. o. J.
- Friesen, Martin W. (Bearbeiter): Kanadische Mennoniten bezwingen eine Wildnis. 50 Jahre Kolonie Menno – erste mennonitische Ansiedlung in Suedamerika. Eine Gedenkschrift zum fuenfzigjaehrigen Jubilaeum, o.O, o.J.
- Friesen, M. W.: Neue Heimat in der Chaco Wildnis. D. W. Friesen & Sons Ltd.: Altona, Manitoba 1987.
- Hiebert, P. C.: Mitteilungen von der Reise nach Süd-Amerika. Mennonite Brethren Publishing House: Hillsboro, Kansas, o. J.
- Klassen, Peter P.: Die Mennoniten in Paraguay: Reich Gottes und Reich dieser Welt. Mennonitischer Geschichtsverein e. V. Bolanden-Weierhof 1988.
- Kolonie Fernheim (Hrsg.): 50 Jahre Kolonie Fernheim. Ein Beitrag in der Entwicklung Paraguays. Filadelfia 1980.
- Kliewer, Friedrich: Die deutsche Volksgruppe in Paraguay. Eine siedlungsgeschichtliche, volkskundliche und volkspolitische Untersuchung. Hans Christians-Verlag: Hamburg 1941.
- Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Böhlau-Verlag:Köln-Weimar-Wien 1997.
- Ministerio de Economía: Las Colonias Mennonitas en el Chaco Paraguayo. Asunción 1934.
- Neff, Christian (Hrsg.): Bericht über die Mennonitische Welt-Hilfs-Konferenz vom 31. August bis 3. September 1930 in Danzig. Karlsruhe o. J.
- Neff, Christian (Hrsg.): Der Allgemeine Kongreß der Mennoniten, gehalten in Amsterdam, Elspeet, Witmarsum (Holland), 29. Juni bis 3. Juli 1936. Karlsruhe o. J.
- Opgenoorth, Ernst: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte. Westermann-Verlag: Braunschweig 1969.
- Quiring, Walter: Deutsche erschliessen den Chaco. Karlsruhe [1936].
- Ratzlaff, Gerhard: Die Ruta Transchaco – wie sie entstand. Asunción 1998.
- Ratzlaff, Gerhard: Ein Leib – viele Glieder. Asunción 2001.
- Schmieder, O. und Wilhelmy, H.: Deutsche Ackerbausiedlungen im südmerikanischen Grasland, Pampa und Gran Chaco. (Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Deutschen Museums für Länderkunde, Neue Folge 6). Leipzig 1938.
- Warkentin, Jakob: Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur– und Entwicklungspolitik. Waxmann-Verlag: Münster/New York/München /Berlin 1998.
- Wiens, Peter/Klassen, Peter (Bearbeiter): Jubiläumsschrift zum 25jährigen Bestehen der Kolonie Fernheim, Chaco Paraguay (Historische Schriftenreihe des Echo-Verlags 12/1956) Winnipeg, Kanada, o. J.
Fussnoten:
| Langjähriger Dozent und Direktor am interkolonialen Lehrerseminar in Filadelfia. Dr. phil., der Universität Marburg. |
| Carr, Edward Hallett: Was ist Geschichte? W. Kohlhammer Verlag: Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1969, S. 43. |
| |
| Opgenoorth, Ernst: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte. Georg Westermann Verlag: Braunschweig 1969, S. 3. |
| Carr, S. 30. |
| Ebd., S. 54. |
| Ebd., S. 106. |
| Vgl. hierzu Carr, S. 8 f. |
| Zitate nach Carr, S. 10. |
| Carr, S. 11. |
| Ebd., S. 12. |
| Zitat nach Carr, S. 14. |
| Vgl. hierzu und zum Folgenden: Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Böhlau-Verlag: Köln-Weimar-Wien 1997, S. 7 ff. |
| Zitat nach Lorenz, S. 95. |
| Vgl. hierzu Lorenz, S. 92 f. |
| Lorenz, Seite 370. |
| Ebd., S. 384 f. |
| Ebd., S. 401. |
| Siehe Lorenz, S. 403. |
| Ebd., S. 405. |
| Ebd., S. 407. |
| Ebd., S. 410. |
| Ratzlaff, Gerhard: Ein Leib – viele Glieder. Asunción 2001, S. 17. |
| Ebd., S. 11. |
| Ebd., S. 16. |
| |
| Carr, S. 25 f. |
| Carr, S. 14. |
| Christlicher Gemeinde-Kalender für das Jahr 1927, hrsg. von der Konferenz der Süddeutschen Mennoniten, Kaiserslautern 1927, S. 126. |
| Zit. nach Neff, Christian (Hrsg.): Bericht über die Mennonitische Welt-Hilfs- Konferenz vom 31. August bis 3. September 1930 in Danzig. Karlsruhe o. J., S. 121 f. |
| Ebd., S. 125. |
| Ebd., S. 137. |
| Ministerio de Economía: Las Colonias Mennonitas en el Chaco Paraguayo. Asunción 1934. |
| Hiebert, P.C.: Mitteilungen von der Reise nach Süd-Amerika. Mennonite Brethren Publishing House: Hillsboro, Kansas, o. J., S. 55 f. |
| Ebd., S. 64. |
| Neff, Christian (Hrsg.): Der Allgemeine Kongreß der Mennoniten, gehalten in Amsterdam, Elspeet, Witmarsum (Holland), 29. Juni bis 3. Juli 1936. Karlsruhe, o. J., S. 75. |
| Ebd., S. 75 ff. |
| Ebd., S. 79. |
| Ebd., S. 81. |
| Ebd., S. 83. |
| Wiens, Peter/ Klassen, Peter (Bearbeiter): Jubiläumsschrift zum 25jährigen Bestehen der Kolonie Fernheim, Chaco– Paraguay (Historische Schriftenreihe des Echo-Verlags 12/1956) Winnipeg, Kanada, o. J., S. 7. |
| |
| Ebd., S. 37. |
| Friesen, Martin W. (Bearbeiter): Kanadische Mennoniten bezwingen eine Wildnis. 50 Jahre Kolonie Menno – erste mennonitische Ansiedlung in Suedamerika. Eine Gedenkschrift zum fuenfzigjaehrigen Jubiläum. o.O, o.J., S. 102 ff. |
| Schmieder, O. und Wilhelmy, H.: Deutsche Ackerbausiedlungen im südamerikanischen Grasland, Pampa und Gran Chaco. (Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Deutschen Museums für Länderkunde, Neue Folge 6), Leipzig 1938, S. 127. |
| Ebd., S. 128 f. |
| |
| Ebd., S. 180 |
| Kliewer, Friedrich: Die deutsche Volksgruppe in Paraguay. Eine siedlungsgeschichtliche, volkskundliche und volkspolitische Untersuchung. Hans Christians-Verlag: Hamburg 1941, S. 166. |
| Friesen, M. W.: Neue Heimat in der Chaco Wildnis. D. W. Friesen & Sons Ltd.: Altona, Manitoba 1987. |
| Friesen, Jubiläumsschrift, S. 3. |
| Ebd., S. 170. |
| Ebd., S. 116 f. |
| Ebd. S. 122. |
| |
| Warkentin, Jakob: Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur– und Entwicklungspolitik. Waxmann-Verlag: Münster/New York/München/Berlin 1998. |
Die Rolle des Mennonitischen Zentralkomitees (MCC) in den Konflikten der Mennonitenkolonien in Paraguay
Peter P. Klassen
Die Entstehung des MCC
Das Mennonitische Zentralkomitee ist in Nordamerika in direktem Zusammenhang mit den Russlandmennoniten gegründet worden, und gerade für sie hat es rückblickend über viele Jahrzehnte auch die größte Bedeutung gehabt. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte für diese mennonitische Gruppe eine Krise nach der andern, und jedesmal war es das
MCC, das sich helfend, beratend und steuernd für sie einsetzte.
Noch tobte der Bürgerkrieg in Russland, noch rauchten die Trümmer der von den Banden zerstörten Dörfer, da versammelten sich Ende 1919 Vertreter aus vielen Dörfern in Rückenau in der
Kolonie Molotschna. Man suchte nach einem Ausweg aus der verzweifelten und hoffnungslosen Lage und dachte an Auswanderung. Nach einigen Beratungen wurde eine „Studienkommission" gewählt mit dem Auftrag, nach Europa und Nordamerika zu reisen, um alle Möglichkeiten zu untersuchen. Dazu gehörten A. A. Friesen, B. H. Unruh und C. H. Warkentin. Diese Männer kamen zu Beginn des Jahres 1920 über die Krim und Konstantinopel nach Europa, um Beziehungen zu den Mennoniten in der Schweiz, Holland und Deutschland aufzunehmen. Im Juni reisten Sie nach New York und stellten die Verbindung zu den Mennoniten in den Vereinigten Staaten und Kanada her. Dann reiste Unruh zurück nach Deutschland zu seinen Verwandten in der Gegend von Karlsruhe, wo er dann eine feste Position bezog.
(2)
Angeregt durch die Berichte der Studienkommission versammelten sich am 27. Juli 1920 Vertreter aller mennonitischen Hilfsorganisationen Nordamerikas in Elkhart, Indiana, um nach Möglichkeiten für eine wirksame Hilfe für die Glaubensgenossen in Russland zu suchen. Hier beschlossen die Delegierten, ein
Mennonitisches Zentralkomitee zu gründen (
Mennonite Central Committee –
MCC), und es trat sofort in Aktion.
Der Bürgerkrieg in Russland war noch nicht beendet und der Ausgang ungewiss, da machten sich schon die ersten Helfer auf den Weg: Arthur Slagel, Clayton Kratz und Orie O. Miller. Sie kamen bis Konstantinopel und hofften, mit Hilfe des Roten Kreuzes und amerikanischer diplomatischer Vertretungen in das Krisengebiet zu kommen.
Miller und Kratz fuhren weiter nach Sewastopol. Die Weiße Armee unter Wrangel war gerade im Vormarsch, so dass die beiden bis Halbstadt in der Molotschna kamen. Von hier aus erreichten sie noch Alexandrowsk bei Chortitza. Sie nahmen sofort Verbindung zu den mennonitischen Organisationen auf, doch da begann schon der Rückzug der Weißen. Miller fuhr zurück nach Sewastopol, Kratz wollte nach Halbstadt.
Auf dem Weg dorthin ist er spurlos verschollen. Wahrscheinlich ist er in den Strudel der vorrückenden Roten gekommen.
Dieser erste Vorstoß des
MCC war zwar gescheitert, doch in unermüdlichem Einsatz über die diplomatischen Vertretungen und vielen mühsamen Verhandlungen gelang es den entsandten Vertretern in den folgenden Jahren, eine sehr wirksame Hilfe in die Sowjetunion zu bringen. Tausende Mennoniten und andere wurden in der Hungersnot, die dem Bürgerkrieg folgte, gerettet. Das
MCC blieb bestehen. Es war zur anerkannten Zentrale der mennonitischen Gemeinden Nordamerikas geworden, und sehr bald ergaben sich neue Aufgaben.
(3)
Es ist nichts Außergewöhnliches, wenn es bei einer so groß angelegten Hilfsorganisation, an der über Jahre viele Menschen beteiligt sind, zu Meinungsverschiedenheiten und Reibungen kommt. Verschiedene Interessen treffen aufeinander, Parteibildungen sind nicht immer zu vermeiden, um Ziele zu erreichen, muss auch Druck ausgeübt werden, Beziehungen zu anderen, nicht selten politischen Organisationen werden notwendig, und Menschliches und Allzumenschliches spielten in so einem Organismus dann oft auch eine Rolle mit.
Das war auch im
MCC und in seiner Tätigkeit nicht zu vermeiden. Obwohl alles „In the Name of Christ" getan werden sollte, obwohl nur karitativer Zweck das Tun bestimmen sollte, wurde das, was getan wurde, manchmal unterschiedlich aufgefasst, und dann folgten Spannungen, die wieder nach Lösungen verlangten.
Ein
MCC-Vertreter sagte auf einer öffentlichen Versammlung in
Fernheim – es könnte 1948 nach der großen Hilfsaktion für die
Flüchtlinge in Deutschland gewesen sein – : „Wenn man eine dargebotene Hand ablehnt, dann könnte man das noch verstehen, aber wenn man sie auch noch beißt, das schmerzt sehr". Die Empfänger der Hilfe waren mit der Art und Weise, wie sie ihnen vermittelt werden sollte, nicht einverstanden gewesen, und es war zu Auseinandersetzungen gekommen.
In dieser Darstellung soll der Versuch gemacht werden, objektiv über die Aktionen des
MCC in Zusammenhang mit den Russlandmennoniten, vornehmlich mit den Gruppen, die durch seine Vermittlung nach
Paraguay kamen, zu berichten. Dabei geht es vor allem um den Einfluss und die Nachwirkungen, die diese Aktionen für die Entwicklung der
Mennonitenkolonien in
Paraguay hatten.
Die Flucht 1929 und die Entscheidung für Paraguay
Die Wirksamkeit der Studienkommission führte in den Jahren 1923 bis 1926 dazu, dass etwa 20 000 Mennoniten, vor allem aus Südrussland, die Sowjetunion verließen und nach Kanada auswanderten.
(4) Der größere Teil blieb auch nach den schweren Schicksalsschlägen noch in der lieb gewordenen Heimat in der Hoffnung, dass es wieder besser werden würde. Der Plan der „Neuen Ökonomischen
Politik" (NEP) der Sowjetregierung, die vor allem dem Bauerntum eine Atempause gewährte, schien diese Erwartung zu erfüllen. Dann folgte 1928 der erste Fünfjahresplan Stalins, und bereits im Lauf des Jahre 1929 wurde klar, dass die Kollektivierung und Entkulakisierung das weitere Leben der Landbevölkerung der Sowjetunion bestimmen würde.
Die Folge davon war der spontane Aufbruch von etwa 14 000 deutschstämmigen Bauern aus allen Teilen Russlands im Oktober und November 1929 in der Hoffnung, dass ihnen die Ausreise gewährt würde, die meisten von ihnen Mennoniten. Von diesen kamen dann knapp 6000 nach Deutschland.
(5)
Für die in den Flüchtlingslagern Hammerstein, Prenzlau und Mölln untergebrachten
Flüchtlinge musste dann fieberhaft nach einer Möglichkeit für die Weiterbeförderung gesucht werden, denn es war von vorne herein klar, dass sie nicht in Deutschland bleiben konnten. Deutschland hatte nach vielen diplomatischen Verhandlungen nur Asyl gewährt. Die Studienkommission war immer noch am Werk, B. H. Unruh in Deutschland, die anderen in Kanada, und auch das
MCC war informiert und beauftragt.
Doch es war sehr schwierig, und das diplomatische Gerangel, das schon die Ausreise aus der Sowjetunion so erschwert hatte, fand nun seine Fortsetzung. Wohin mit den Flüchtlingen?
(6) Kanada, das eigentliche Ziel aller, erschwerte die Einwanderung durch strikte Bedingungen, so dass nur wenige die Gesundheitskontrolle bestanden. „Kanada ist zugeschlossen und der Schlüssel abgebrochen", hieß es enttäuscht in den Lagern. Zudem lag die Notwendigkeit vor, eine Lösung für die ganze Gruppe mit allen Alten und Kranken zu finden, und dafür gab es in Kanada und auch in andern in Betracht gezogenen Ländern keine Möglichkeit.
Da öffnete sich ein Ausweg. Die „Hanseatische Kolonisationsgesellschaft", ein deutsches Siedlungsunternehmen in Hamburg, hatte die deutsche Regierung schon im November 1929 auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie bereit wäre, ihr Siedlungsgebiet in Santa Catarina, Brasilien, für geflüchtete Deutschrussen zu öffnen. Das Angebot war günstig, und als alle
Flüchtlinge aus Moskau in Deutschland waren, drängte die Regierung B. H. Unruh, diese Lösung für das Problem zu akzeptieren. Auch Unruh sah hier eine Möglichkeit, doch die Sache hatte einen Haken. In Brasilien galt die allgemeine Wehrpflicht, und es gab kein
Privilegium.
(7)
Unruh saß zwischen zwei Stühlen, und das bereitete ihm schlaflose Nächte. Einerseits drängte die deutsche Regierung, und andererseits wusste er, dass das
MCC die Frage der
Wehrlosigkeit in die Waagschale werfen würde. Und so kam es auch.
Die Verhandlungen mit der HKG waren angelaufen, von den Flüchtlingen meldeten sich viele für Brasilien, und ein erster Transport von 179 Personen verließ bereits am 16. Januar 1930 Hamburg. Da traf ein Telegramm von Harold S. Bender aus den USA ein, das eindeutig die Stellung des
MCC bekundete: „…send lutherans to Brazil, but not mennonites…".
Unruh verstand und war verzweifelt. „Ich fürchte", schrieb er an Bender, „dass die deutsche Regierung uns den Stuhl vor die Tür setzt, wenn wir mit halb ausgetragenen Projekten ihre Aktion (Brasilien) unterbrechen…" .
Er hatte recht. Die deutsche Regierung war tatsächlich unwillig; denn noch gab es keinen anderen Ausweg für die
Flüchtlinge als Brasilien. Inzwischen hatte das
MCC aber
Paraguay stark ins Blickfeld gerückt. Dort siedelten bereits Mennoniten im
Chaco, dort gab es seit 1921 ein
Privilegium, das die Befreiung vom Wehrdienst sicherte. Die paraguayische Regierung telegrafierte, als Unruh hundert Mark für ein Telegramm bei der paraguayischen Botschaft hinterlegte, dass alle Mennoniten willkommen seien. Gemeint war der
Chaco als Siedlungsgebiet.
Im Februar 1930 kam Bender nach Deutschland, und er bereiste mit Unruh die Flüchtlingslager, um für
Paraguay zu werben. Das verursachte viel Unruhe; denn manche Familien, die sich schon für Brasilien entschieden hatten, meldeten sich nun für
Paraguay. Schließlich gab auch die deutsche Regierung ihr Einverständnis für diesen neuen Plan und auch die Zustimmung, die Reisekosten bis zum Einwanderungshafen zu übernehmen, wie sie es auch für Brasilien zugesagt hatte.
Unter dem Einfluss des
MCC kamen so im Lauf des Jahres 1930 1572 Personen nach
Paraguay, und sie gründeten hier die
Kolonie Fernheim. Nach Brasilien gingen 1244 Personen. Etwa 1000 hatten die Möglichkeit gefunden, nach Kanada zu kommen.
(8)
In der vom
MCC bewerkstelligten Gründung der Mennonitenkolonie
Fernheim klafft ein merkwürdiger Zwiespalt, den damals – 1930 – aber wohl kaum jemand als solchen empfunden hat. Es ging einerseits um die
Wehrlosigkeit und wohl auch um das konsequente „täuferische Leitmotiv", das Harold S. Bender selbst so eindringlich in die Täufertheologie eingebracht hatte: Konsequente
Absonderung vom Staat und von der Welt, konsequente Hinwendung zur reinen Glaubensgemeinde im Sinn der ersten
Täufer des 16. Jahrhunderts.
Andererseits zogen die mennonitischen
Flüchtlinge unter dem starken Einfluss des
MCC, vor allem Benders, in den
Chaco mit dem festen Ziel, hier noch einmal eine selbstverwaltete
Kolonie wie in Russland zu gründen, und Harold S. Bender gab seinen Segen dazu. In den ersten Septembertagen des Jahres 1930 – die Flüchtlingsgruppen aus Deutschland waren bereits zum größten Teil im paraguayischen
Chaco eingetroffen – gab Bender auf der Mennonitischen Welthilfskonferenz in Danzig einen ausführlichen Bericht über die Situation, die sich ergeben hatte, und über die weiteren Pläne: „Uns schwebt ein zukünftiger
Mennonitenstaat vor", führte er aus, „wo, wenn möglich, sämtliche russische Mennoniten in unbeschränkter Freiheit ihr Leben und ihre
Kultur neu gründen und weiterentwickeln können".
(9)
Es scheint Bender nicht bewusst geworden zu sein, dass dieser „Mennonitenstaat" dann alles das bewerkstelligen musste, was für das Täufertum nach seiner Theologie so gefährlich war, nämlich alle Funktionen eines Staates zu übernehmen, und gerade das
MCC war es dann später auch, das in die Komplikationen eines solchen Staates verwickelt wurde.
Eine Kooperative im Chaco
Man muss sich vorstellen, dass die
Flüchtlinge aus Moskau im Dezember 1929 nach Deutschland kamen und dass schon am 15. März 1930 die erste Gruppe die Reise nach
Paraguay antrat. Diese überstürzte Maßnahme war eine Folge der Notsituation, die das
MCC zu lösen versuchte, weil es Brasilien nicht akzeptieren wollte. Am 11. Dezember 1929 waren Vertreter des
MCC in Chicago zusammengekommen, um über die Weiterbeförderung der
Flüchtlinge in Deutschland zu beraten, und die Versammlung beauftragte eine Studienkommission (M. H. Kratz, H. S. Bender und P. C. Hiebert) mit der Aufgabe, eine Lösung zu suchen. Am 25. Januar schon, also nur einen guten Monat später, lag das Resultat ihrer Bemühungen vor.
Das
MCC hatte Beziehungen zur „
Corporación Paraguaya" aufgenommen, die schon die Einwanderung der Mennoniten aus Kanada nach
Paraguay und alle damit zusammenhängenden Transaktionen bewerkstelligt hatte. Das
MCC hatte zu ihr, wie Bender auf der
Konferenz in Danzig betonte, volles Vertrauen. Die Corporación vermittelte den
Landkauf im
Chaco, und Bender betonte, dass nicht das
MCC den Kaufvertrag mit der Corporación abgeschlossen habe, sondern jeder Familienvater mit seiner Unterschrift, auf je 40 Hektar Land zum Preis von 20 Dollar pro Hektar. Die ganze Siedlungsgemeinschaft haftete geschlossen für den
Landkauf.
Jede
Familie, die nun auf ihrem Land im
Chaco angesiedelt war, hatte die Reisekosten, die Kosten für die erste
Ausrüstung, die Kosten für das Land und für die Verpflegung in der ersten Zeit in einem Paket als Schuld übernommen. Alles lag als gemeinsame Hypothek auf dem Land. Insgesamt waren es 1500 Dollar pro
Familie, für damalige Begriffe eine große Summe. Das
MCC hatte für alles die Garantie übernommen.
Das ganze Siedlungsprojekt war der
Corporación Paraguaya übergeben worden. Sie sollte das Land aussuchen, die Dorfplätze festlegen, Wege durch den Busch schlagen, für jedes Dorf zwei Süßwasserbrunnen graben, in jedem Dorf ein Gemeindehaus für die erste Unterkunft bauen, jedes Dorf mit eingezäunter Weide versehen, für jede
Familie einen Acre Land reinigen und pflügen und für jede
Familie zwei Ochsen und zwei Kühe zähmen.
(10)
Als die erste Gruppe am 16. April 1930 auf dem „Corporationskamp" (heute Trebol) ankam, fand sie dort einen
Brunnen und einen halbfertigen Lagerraum vor. Das war alles, was an Vorbereitungen getroffen worden war. Die von der Corporación beauftragten Herren, zuerst Langer und dann Noren, erwiesen sich als korrupt und für jede weitere Aktivität nur hinderlich. In dieser zusätzlichen Not war der vom
MCC beauftragte Nordamerikaner G. G. Hiebert das Rettungsseil. Er leitete das ganze Unbehagen der Siedler weiter nach Akron, dem Sitz des
MCC in Nordamerika, und am 12. Mai 1930 drahtete Bender: „Seid getrost, Komitee schützt Euch, wird alles verbessern, unabhängige Kooperative soll aufgerichtet werden", und P. C. Hiebert tröstete: „Eure Kämpfe sind unsere Kämpfe; Euer Schmerz ist unser Schmerz; Eure Freude und Euer Erfolg sind unsere Freude und unser Erfolg". Im Januar 1931 schrieb Bender: „Die
Kolonie soll selbständig werden und eigene Geschäfte führen… Das
MCC wird das notwendige Kapital zur Verfügung stellen".
(11)
Die Aktion konnte anlaufen. Auf einer Delegiertensitzung am 13. Mai 1931 auf dem Korporationskamp wurde zuerst einmal ein „Handelskomitee" gegründet, das den Auftrag erhielt, „jegliche Handels- und Absatzoperationen zu vollziehen". Zwei Vertreter fuhren zusammen mit G. G. Hiebert nach
Asunción, um den ersten Einkauf zu machen. Hiebert schickte an Miller in den USA ein Telegramm: „Um einer Panik vorzubeugen, schickt sofort 5000.- Dollar". Das Geld kam, und man konnte darangehen, eine
Genossenschaft zu gründen.
(12)
Das
MCC schickte Orie O. Miller in den
Chaco, um zu beraten und zu helfen. Er schrieb darüber viele Jahre später im „Gospel Herald" (Mai 1946): „Ich wußte 1931 nichts von einer Kooperative, doch an einem Nachmittag gründete ich mit einigen Führern eine Kooperative, die heute als Fernheimer Kooperative bekannt ist. Und wenn ich jetzt auf die 15 Jahre zurückschaue, bin ich davon überzeugt, dass sie nicht durchgehalten hätten, wenn sie es nicht in christlichem Geist gemacht hätten".
(13)
Diese aus der Not mit der Hilfe des
MCC geborene
Genossenschaft stand dann später Modell für die kooperativen Zusammenschlüsse auch in den anderen
Mennonitenkolonien Paraguays.
Sein oder Nichtsein
Über die Härte des Existenzkampfes der ersten beiden Siedlungen im
Chaco,
Menno und
Fernheim, in den ersten Jahren der Ansiedlung kann man sich heute kaum eine Vorstellung machen. Die
Kolonie Menno war in dem Sinn etwas günstiger dran, dass die Einwanderer aus Kanada meist etwas Kapital mitgebracht hatten. Zudem waren die Motive für ihre Wahl des
Chaco andere gewesen als die der Fernheimer.
In
Fernheim, wo die Siedler völlig verarmt und ohne irgendwelche Mittel angekommen waren, führte die Härte der Lage von einer Krise in die andere, die sich dann in Abwanderungsbewegungen niederschlugen. Einen ersten Umsiedlungsversuch in das östliche
Paraguay unterband das
MCC. Auf eine Umfrage des ersten Kolonieamtes in allen Dörfern im Oktober 1930 beschloss es, die Delegierten Gerhard Isaak und Kornelius Lagemann nach Ostparaguay zu schicken, um nach besseren Siedlungsmöglichkeiten zu suchen. Im Februar 1931 machten sie ihre Studienreise. Als die beiden Männer nach einem Monat zurückkehrten, war bereits klar, dass es keine Umsiedlung geben würde. Das
MCC hatte erklärt, dass es keine zweite Ansiedlung finanzieren könne. G. G. Hiebert, der
MCC-Vertreter in
Fernheim, bezeichnete Langemann, der an dem Umsiedlungsplan festhalten wollte, als Aufwiegler und Kommunist.
(14)
In den Jahren bis 1936 war die Abwanderung latent, doch es bröckelte ständig. 1936 kam eine Rückwanderungsbewegung in Gang, die Heinrich Hajo Schröder in Deutschland angeregt hatte. Sein Traum war, eine Friesenkolonie zu gründen, und bald hatten sich in
Fernheim 60 Familien gemeldet. Warnungen von Professor Unruh und der deutschen Botschaft machten dem Traum dann bald ein Ende.
(15)
In einem Brief des Oberschulzen Jakob Siemens an Walter Quiring vom 5. 10. 1937 werden für die Jahre von 1931 bis 1937 fünfzig Familien angegeben, die die
Kolonie verließen. Das Eigenartige daran war, dass diese Familien eigentlich gar nicht hätten abwandern dürfen. Dass es nicht mehr waren, lag einmal an dem Mangel an Mitteln für so ein Unternehmen, zum andern aber auch an strikten Beschränkungen, die die Kolonieverwaltung auferlegen musste.
Das größte Hindernis war die vierfache Schuld, für die jeder Familienvater seine Unterschrift gegeben hatte. Die Hafenbehörde in Puerto Casado hatte Anweisung, niemandem eine Schiffskarte zu verkaufen, der nicht eine schriftliche Erlaubnis vom Kolonieamt hatte. Diese Situation steigerte den internen Druck und verursachte Spannungen, die sich im Lauf der Jahre steigerten. Bis 1937 war noch nicht ein Dollar der Schulden zurückgezahlt worden, da die schwachen Ernten kaum zur Deckung des Unterhalts der
Familie genügten.
Das
MCC war als Garant für die Schulden gehalten, auf Rückzahlung zu drücken. Das wollte es aber nicht mit den Einzelnen austragen, sondern nur über die
Genossenschaft, was gleichbedeutend mit der Kolonieleitung war. Inzwischen hatte man festgestellt, dass der Landpreis von 20.- Dollar wucherisch hoch gewesen sei. Alles, die Armut, die drückende Schuld, die man für ungebührlich hoch hielt, und das Gebundensein an seinen Hof erzeugte allmählich Unzufriedenheit und Unwillen, und die richteten sich zunächst gegen das Kolonieamt und die Kooperative, die die Schuld eintreiben sollten, und schließlich auch gegen das
MCC, in dem man den eigentlichen Gläubiger sah.
Die schweren Wirtschaftsjahre 1935 und 1936 steigerten diese Spannungen. Die Zahl der Abwanderungswilligen wurde immer größer. Sie organisierten sich, suchten Land in Ostparaguay und kauften schließlich einen Landkomplex bei
Rosario.
Das
MCC war strikt gegen jede Abwanderungsbewegung. Zu viel war in dieses Siedlungsunternehmen bereits investiert worden. Um doch noch eine Lösung für die Siedlung herbeizuführen und ihre Existenz zu retten, schickte es ihren Vertreter Orie O. Miller Anfang 1937 in den
Chaco. Er konnte ein Angebot machen. Einer der Hauptaktionäre der
Corporación Paraguaya war gestorben, und die Erben drängten auf eine schnelle Lösung der Landangelegenheit im
Chaco. Das
MCC war bereit, den ganzen Landkomplex zu kaufen, und es bot ihn der
Kolonie für einen Dollar pro Hektar an. Das entsprach auch dem reellen Landpreis im
Chaco in jener Zeit. Die
Corporación Paraguaya hatte ihn willkürlich hochgetrieben, um Geschäfte zu machen, und das
MCC hatte ihn gutgläubig angenommen.
(16) Jeder Fernheimer Bürger könnte nun 100 Hektar kaufen, bei 15 Jahresraten für 150 Dollar.
Jeder Siedler konnte sich nun neu für den Kauf entscheiden. Wer abwandern wollte, konnte abwandern. Die Reise- und Verpflegungsschuld konnten die Abwanderer gegen Unterzeichnung eines Schuldscheins in ihre neue Siedlung mitnehmen.
Doch die Spannung war damit nicht gelöst. Die Vertreter des
MCC waren der Meinung, dass die
Mennoniten in Paraguay zusammen bleiben sollten. Außerdem bestand die Auffassung, dass die Privilegien nur für den
Chaco galten. Nach Miller kam P. C. Hiebert im Juli 1937 in den
Chaco, um den Versuch zu machen, durch die neue Landregelung alle zu bewegen, im
Chaco zu bleiben. In einem „Entgegenkommen zum allgemeinen Wohl" machte er das Angebot, auf dem
MCC-Komplex neue Dörfer anzulegen, da die alten ohnehin zu stark belegt waren. Tatsächlich reduzierte dieses Angebot die Zahl der Abwanderungswilligen von 206 auf 178 Familien.
Doch die Haltung des
MCC und die Tätigkeit von P. C. Hiebert, obwohl von gutem Willen beseelt, hatten die Kluft in
Fernheim zwischen den „Abwanderern" und den „Bleibenden", wie sie sich nannten, noch vertieft. Es war sehr stark zu ideologischen Deutungen gekommen. P. C. Hiebert brachte diesen Widerstreit, der die
Kolonie so tief gespalten hatte, in einem späteren Bericht zum Ausdruck:
„Bald zeigten sich zwei ziemlich deutlich abgegrenzte Gruppen in der Kolonie: Der eine Teil, welcher Gottes Hand in der ganzen Sache erkannte und glaubte, dass Gott ihnen dieses Land als Asyl angewiesen und sie auf wunderbare Weise und mit mächtiger Hand aus dem Land der Roten in dieses Land geführt habe. . . , dagegen eine zweite Gruppe, welche vielleicht weniger auf die Führungen Gottes und auf die ihnen hier gewährten Vorrechte blickte. Sie konnte sich von Anfang an schwer in die Verhältnisse schicken. Ein Geist der Unruhe, ein Widerwille gegen die allzu strenge und beschränkende Ordnungsverfassung in der Kolonie, ja gegen die bestehende zentralisierte Autorität hat sich am lautesten als Abwanderungsmotiv gezeigt. Solches ist wohl der Geist, der sich in der ganzen Welt in diesen Tagen kund gibt und am grellsten und schärfsten in dem russischen Kommunismus Ausdruck gefunden hat".
(17)Die Abwanderer fassten dies als schwere Beleidigung auf, und sie nahmen viel Bitterkeit mit in ihre neue Siedlung
Friesland, gegen das
MCC und auch gegen
Fernheim, die nur sehr langsam abgeklungen ist. Als Harold S. Bender im Januar 1938 nach
Friesland kam, ließ er sich hier von dem damaligen Oberschulzen Rempel über die eigentlichen Gründe der Abwanderung aufklären, und er gab darüber Bericht. Nicht die wirtschaftliche Lage oder das Klima seien es gewesen, sondern die Unzufriedenheit mit der Kooperative und der Verwaltung in
Fernheim. Das
MCC hätte sich aber eindeutig auf die Seite der „Bleibenden" gestellt. „Wenn die Verhandlungen wegen des Landkaufs einen ehrenvollen Rückzug zugelassen hätten", schrieb Bender, „wäre die ganze Abwanderung noch zusammengebrochen".
(18)
Am 13. Juli 1938 kam es dann zu einem endgültigen
Landvertrag zwischen dem
MCC und
Fernheim, nach dem
Fernheim unter günstigen Bedingungen den ganzen Landkomplex übernahm. In dem Vertrag hieß es in Punkt 6: „Da die Wahrung des Mennonitentums ein wesentliches Moment in diesem Vertrag ist, verpflichten sich beide Seiten (
MCC und
Kolonie), die
Kolonie Fernheim als reinste mennonitische
Kolonie mit mennonitischen Grundsätzen aufzubauen und als solche zu erhalten".
(19)
Es scheint so, dass das
MCC hier an den von Bender in Danzig vorgetragenen Traum vom „Mennonitenstaat" anknüpfte, wobei mennonitische Grundsätze und kommunale Selbstverwaltung nicht als Gegensätze empfunden wurden. Niemand hat damals wahrscheinlich geahnt, wie groß das Spannungsfeld werden sollte, das gerade dieser Landvertrag in sich barg.
Die deutsch-völkische Zeit
Über den Einfluss des Dritten Reiches und der völkischen Idee unter den Mennoniten in Südamerika liegen viel Aktenmaterial und einige einschlägige Veröffentlichungen vor. Immer ist dabei auch vom
MCC die Rede, das von seiner Position her Einfluss auf die Entwicklung vor allem in der
Kolonie Fernheim nahm.
Dafür lagen triftige Gründe vor, und es trafen einige Umstände zusammen. Der Fortbestand der
Kolonie Fernheim lag, wie schon während der Auswanderung der Friesländer, nicht zuletzt auch wegen der unerledigten Schuldenzahlung stark im Interesse des
MCC. In Verbindung mit dem oben erwähnten „Landvertrag" war das Interesse des
MCC an einer gesunden Entwicklung der
Kolonie Fernheim „mit mennonitischen Grundsätzen", wie es hieß, sehr stark. Ein Beispiel: Die
Kolonie bekam 1940 in Dr. John R. Schmidt durch Vermittlung des
MCC zum ersten Mal seit ihrer Gründung einen Arzt, der sich systematisch für das Gesundheitswesen einsetzte.
Hinzu kamen andere zeitbedingte Ursachen, die die Beziehungen des
MCC zur
Kolonie Fernheim aktivierten. Viele der nordamerikanischen Mennoniten waren nach dem Ausbruch des Krieges auch wirtschaftlich schnell erstarkt. Sie hatten dann erst die Depression der dreißiger Jahre richtig überwunden. Das hatte auch das
MCC, das von den Spenden der Gemeinden abhängig war, finanzkräftiger und damit einflussreicher gemacht.
Immer stärker ins Gewicht fiel dann die ideologische Konfrontation, die sich aus dem Aufstieg des Dritten Reiches ergab. Sie zeigte sich zuerst in Auseinandersetzungen des
MCC mit den Mennoniten in Deutschland, vor allem mit seinem engen Mitarbeiter Professor Benjamin H. Unruh. Die Mennoniten dort sahen in Hitler den Retter des Reiches und das Bollwerk gegen den gefürchteten Kommunismus, während man in Nordamerika immer stärker die politische Bedrohung erkannte. Auf das Dreieck der seit der Gründung Fernheims bestehenden Beziehungen Deutschland – Nordamerika –
Paraguay blieb das nicht ohne Einfluss.
Alles zusammen führte mit dem Ausbruch und Fortgang des Zweiten Weltkrieges allmählich auch zu einer Verstärkung der personellen Präsenz des
MCC in
Paraguay, beseelt von dem Willen, Einfluss zu nehmen und die Lage der Mennoniten im
Chaco zu verbessern und zu festigen.
Eine der Triebkäfte, die hinter dieser verstärkten Aktivität des
MCC in
Paraguay steckte, war auch die seit 1939 immer schwerer ins Gewicht fallende Parteienbildung in
Fernheim, über die das
MCC laufend informiert wurde. Unter dem Einfluss von Dr. Fritz Kliewer, der im Mai 1939 mit seiner
Frau von seinem Studium in Deutschland zurückgekehrt war, nahm die Bewegung, nach dem Krieg „heim ins Reich" kehren zu wollen, schnell an Umfang zu. Immer noch trieb die wirtschaftliche Not die Siedler an, nach einem Ausweg zu suchen. Nach dem Protokoll einer Sitzung des Volksbundes in
Fernheim vom 26. Mai 1940 hatten bis dahin „rund 240 Familienväter und selbständige Personen das Einbürgerungsgesuch gestellt und damit bekundet, …sich in die Volksgemeinschaft des Dritten Reiches einzuordnen".
(20) Das waren etwa 80 % der Bevölkerung der
Kolonie. Die Situation war, was den Bestand der
Kolonie betraf, also noch bedrohlicher als die von 1937 bei der Abwanderung der Friesländer.
Den „Völkischen", wie sich die Anhänger dieser Bewegung nannten, stellte sich in langsam stärker werdendem Maße eine Gruppe von Bewohnern Fernheims entgegen, die an dem traditionellen Mennonitentum, verbunden mit dem Willen, im
Chaco zu bleiben, festhalten wollte. Da eines ihrer Hauptargumente gegen die Völkischen das bedrohte Prinzip der
Wehrlosigkeit und das damit in Gefahr gebrachte
Privilegium waren, nannten sie sich „die Wehrlosen".
Das
MCC schaltete sich ein und nahm sehr bald eindeutig Partei für die Wehrlosen, zum einen, weil es diese Gruppe in ihrer Stellung zum traditionellen Mennonitentum stärken wollte, zum andern, um die Existenz der
Kolonie zu sichern. Ein Brief vom 15. Juli 1940, unterschrieben von P. C. Hiebert, A. Warkentin, Orie O. Miller und Harold S. Bender, brachte das deutlich zum Ausdruck. Er war an den Oberschulzen, seinen Stellvertreter, an alle Schulzen, den Vorsitzenden der
KfK, den Ältesten der Mennonitengmeinde, den Leiter der Brüdergemeinde und den Leiter der Allianzgemeinde gerichtet. Es heißt dort unter Berufung auf den „Landvertrag" von 1938:
„Wir sind durch zuverlässige Berichte über die zeitweiligen Umstände in Fernheim… beunruhigt worden… Ein Teil der Bürger soll mit den obwaltenden Verhältnissen unzufrieden sein und an eine Rückwanderung nach Deutschland denken… Wir hören auch, dass Männer in hoher Stellung den Rat geben, die Schulden an das MCC nicht zu bezahlen, angeblich, um Gelder für die Rückreise nach Deutschland zu sparen. Am meisten beunruhigt uns der Bericht, dass einzelne, auch in einflussreicher Stellung, gegen die Wehrlosigkeit Stellung genommen haben und dass dies sogar in der Zentralschule geschehen sein soll, obwohl sämtliche Mennonitengemeinden Fernheims die Wehrlosigkeit als Lehre der Heiligen Schrift und als ein köstliches Erbe der Väter anerkannt haben… Darum erwarten wir, dass die bürgerlichen und geistlichen Leiter der Kolonie… gegen alle Bestrebungen Stellung nehmen, welche die mennonitisch-christlichen Glaubensgrundsätze schwächen und die Stellung der Kolonie als Wahlheimat gefährden. Wir haben vernommen, dass die den Fernheimern gegebenen Privilegien in Gefahr stehen. Höchste Regierungsstellen beobachten aufmerksam die Vorgänge in Fernheim… Es ist uns berichtet worden, dass das Vorgehen von Lehrer Dr. Kliewer Besorgnis über unsere mennonitischen Prinzipien und Unstimmigkeit in der Kolonie verursacht hat. Wenn das richtig ist, bitten wir dringend, dass Dr. Kliewer als Mann von Bildung und Ehre…sich an den mit der Kolonie gemachten Vertrag (den Landvertrag) halte… Die Lehrer sind nur Diener der Kolonie, nicht Führer".
Das Schreiben wurde, wie von den Absendern gewünscht, auf einer Kolonieversammlung am 22. Juli 1940 verlesen und diskutiert. Im Protokoll steht:
„Nachdem die einzelnen Punkte eingehend durchgenommen sind, wobei es verschiedene Meinungsäußerungen gab, wird zusammenfassend gewünscht, dass wir als zwei verschieden denkende Gruppen versuchen könnten, uns gegenseitig zu tragen und zu dulden. Dieser Wunsch wird durch Abstimmung als Beschluß angenommen".
Es ist bekannt, dass sich die Spannungen in der
Kolonie trotz des bekundeten guten Willens im Lauf der Jahre steigerten. Zu den ideologischen Meinungsverschiedenheiten kamen gesellschaftliche und wirtschaftliche, die sehr tief im Wesen einer Mennonitenkolonie verankert waren, und gerade sie wurden dann zum Auslöser der Ausschreitungen am 11. März 1944.
Das
MCC blieb während der ganzen Zeit in engem Kontakt mit der
Kolonie Fernheim, und es war über alle Ereignisse gut informiert, was eine umfangreiche Korrespondenz von offizieller und privater Seite beweist.
(21) Es war in der Lage, seinen Arbeiterstab in
Paraguay zu erweitern und schließlich in
Asunción eine Zentrale zu gründen, aus der später das Mennonitenheim entstand.
Die Entwicklung der Kriegslage begünstigte auch die Position der
MCC-Arbeiter, die Staatsbürger der USA waren.
Paraguay hatte 1943 unter dem Druck der USA seine diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten abgebrochen. Wenn die meisten der
MCC-Arbeiter sich auch dagegen wehrten, mit in die politische Verantwortung einbezogen zu werden, war es für sie doch schwierig, sich vollkommen herauszuhalten. Die Entwicklung des Krieges beurteilten sie selbstverständlich vom Standpunkt der Alliierten aus, womit sie mit dem größten Teil der Bürger Fernheims, die auf den Sieg Deutschlands hofften, kollidierten.
Willard H. Smith, der im März 1944 als erster den Posten eines
MCC-Direktors in
Asunción antrat, berichtete später, dass die
MCC-Vertreter schon zwei Tage nach ihrer Ankunft in die US-Gesandtschaft gerufen wurden, um Anweisungen entgegenzunehmen. Smith versprach dort, die Lage in
Fernheim zu untersuchen und der Gesandtschaft dann zu berichten.
(22) Berichte von
MCC-Vertretern über die Lage in
Fernheim für ihre Zentrale in den USA wurden vom US-Geheimdienst abgefangen und ausgewertet. In diesen Berichten wurden alle Vorgänge in der
Kolonie mit Nennung von Namen geschildert, so dass die Gesandtschaft in
Asunción gut informiert war.
(23)
Die im März 1944 kulminierenden Spannungen in
Fernheim waren, nach dem Ablauf der Ereignisse zu urteilen, eigentlich eine Auseinandersetzung zwischen
Genossenschaft und Privathandel.
(24) Es war aber bei der Verzahnung der Ereignisse mit dem Gesamtgeschehen in der völkischen Zeit, wo noch Spannungen zwischen Kliewer und einer Gruppe von jungen Männern hinzukamen, schwierig, die Vorgänge am 11. März isoliert zu betrachten. Schwierig war es auch deshalb, weil die meisten jener Bürger, die sich für die
Genossenschaft und das Kolonieamt einsetzten, gleichzeitig auch zur völkischen Gruppe gehörten. Schon damals und auch nachher in der Geschichtsschreibung herrschte die starke Tendenz vor, die Ausschreitungen als Höhepunkt der völkischen Tätigkeit zu sehen. In diesem Sinn hatten sich auch die Vertreter des
MCC eingeschaltet.
Am 21. Mai 1944 traf eine Delegation von Vertretern der amerikanischen Gesandtschaft in Begleitung von Vertretern der paraguayischen Miltitärbehörde aus López de Filipis (heute Mcal Estigarribia) in
Filadelfia ein und überbrachte den Ausweisungsbefehl für Julius Legiehn, den Oberschulzen und Dr. Fritz Kliewer, den Leiter der
Zentralschule. Sie stiegen bei den amerikanischen Ärzten ab, von wo aus sie ihre Mission ausführten.
Dieser Vorgang stand unmittelbar in Verbindung mit den Geschehnissen im März. Dr. Gerhard S. Klassen, seit einigen Monaten ein vom
MCC entsandter Zahnarzt in der
Kolonie, hatte auf der Koloniesitzung am 14. März, die den Vorgängen am 11. folgte, kategorisch gefordert, dass die beiden oben genannten Männer die
Kolonie verlassen sollten und betont, dass er seine Forderung im Namen des
MCC und seiner Regierung stelle.
(25) Die beiden vom
MCC vermittelten amerikanischen Ärzte in
Filadelfia waren in der Nacht vom 11. zum 12. März von den durch den Übergriff betroffenen Personen um Hilfe gebeten worden. Sie hatten sich noch in derselben Nacht eingeschaltet, und Dr. Klassen hatte darauf das Militär von
Isla Poí gerufen.
Dieser Eingriff von außen her, durch den zwei Familien in die Verbannung geschickt wurden, löste in der
Kolonie Betroffenheit auf der einen Seite und zum Teil auch Genugtuung bei den andern aus. Es ist verständlich, dass dieser Vorgang unmittelbar darauf und auch später bei jeder Geschichtsschreibung zu Interpretationen über die Rolle des
MCC Anlass gab. Immerhin war von einem
MCC-Vertreter Militär in die
Kolonie gerufen worden, und auch die Einschaltung einer politischen
Macht hatte er veranlasst.
Die unmittelbar durch diesen politischen Eingriff Betroffenen verteidigten sich in Briefen an das
MCC. Beide, Kliewer und Legiehn, waren von den amerikanischen Ärzten beschuldigt worden, die Ausschreitungen ausgelöst zu haben. Beide betonten nun, dass sie mit den Vorgängen am 11. März nichts zu tun hätten, und sie verurteilten die tätlichen Ausschreitungen.
Fritz Kliewer schrieb am 10. Oktober 1944 an das
MCC: „Dr. Klassen und Dr. Schmidt, die Vertreter des
MCC, haben mich mit den Vorfällen am 11. März belastet und daraufhin meine Ausweisung aus der
Kolonie verlangt… Es handelte sich dabei aber um persönliche und wirtschaftliche Dinge, die Abram Martens (ein Privathändler) und seine Anhänger mit der Verwaltung der Kooperative austrugen". In seinem Brief an die gleiche Adresse vom 10. Juli 1944 heißt es: „Das
MCC hat immer behauptet, dass es eine unpolitische Organisation sei. Dieses Prinzip haben die
MCC-Vertreter in
Fernheim mißachtet, indem sie sich ganz bewußt in den Dienst einer politischen
Macht stellten". Auf einer Abschiedskonferenz des Lehrervereins am 18. März, auf der Kliewer den Vorwurf des
MCC in gleicher Weise zurückgewiesen hatte wie in seinen Briefen, fügte er hinzu: „Vom pädagogischen und gesetzlichen Standpunkt müssen die Ereignisse vom Sonnabend, dem 11. März, verurteilt werden".
Julius Legiehn schrieb an Orie O. Miller am 11. Juli 1944:
„Ich weiß, dass Sie an der Tatsache nichts ändern können. Wir wissen heute ganz genau, dass unsere Ausweisung nicht durch die paraguayischen Behörden verursacht wurde, wie dies gerne gewisse Leute in Fernheim und auch einige Vertreter des MCC wahrhaben möchten; unsere Ausweisung geschah auf Druck der amerikanischen Gesandtschaft, und dieser wieder wurde das Material von Dr. Klassen zugeleitet, der MCC-Arbeiter ist… Dr. Klassen hat längere Zeit nach einem Vorwand gesucht, Dr. Kliewer und mich aus Fernheim zu entfernen. Die Vorfälle am 11. März waren ihm dafür ein willkommener Anlaß".
Gerhard Ratzlaff schrieb 1974 in seiner Thesis nach dem Hinweis, dass die
MCC-Arbeiter, bevor sie in die
Kolonie kamen, die amerikanische Botschaft passieren mussten: „Absichtlich oder unabsichtlich wurden sie so in die politische Maschinerie ihres Staates verwickelt", und in Bezug auf Dr. Klassen: „Er war beauftragt, Dr. Kliewer aus der
Kolonie zu entfernen".
(26)
Dagegen wurde das gleiche Geschehen von der damals bereits stark gewordenen Gegenseite allgemein so interpretiert, dass die Vorgänge am 11. und 12. März 1944 die Kulmination der völkischen Bewegung in der
Kolonie gewesen sei, und in diesem Sinn empfand man das Vorgehen des
MCC als eine Hilfe in der schwierigen Lage. Dr. Gerhard S. Klassen selbst schrieb in einem ersten Bericht nach den Vorfällen an das
MCC am 17. März 1944: „Allgemein wurde eingesehen, dass dies die schmutzige Arbeit des Voksbundes war". Er schreibt, dass eine Reihe von bedeutenden Männern in der
Kolonie zu ihm gekommen seien, um sich für das, war er getan habe, zu bedanken. Sie waren der Meinung, dass er dadurch, dass er das Militär rief, Schlimmeres verhütet habe.
Genugtuung äußerte auch Willard H. Smith, der erste
MCC-Direktor in
Paraguay. Am 27. März 1944, bald nach seiner Ankunft in
Asunción, hatte er dem
MCC in Nordamerika berichtet: „…die Gesandtschaft weiß, dass das
MCC tut was es kann, um den Nazimus in der
Kolonie zu bekämpfen". Er machte im April 1944 einen ersten Besuch in
Fernheim. Darüber schrieb er nachher: „Wir standen vor der Frage, wie wir den Naziführer bewegen könnten, die
Kolonie zu verlassen; denn so lange er blieb, war er ein störenden Faktor. Diese Frage löste sich für uns bald von selbst, als die paraguayische Regierung, die von den Unruhen in
Fernheim wußte, die Nazi-Führer, den Leiter der Schule und das zivile Oberhaupt, aufforderte, die
Kolonie zu verlassen".
(27) Am 29. Mai 1944 schrieb er an die
MCC-Zentrale in Akron: „Wir sind gespannt, wie die Reaktion in der
Kolonie sein wird, da nun auch Legiehn gehen mußte. Wir hoffen und beten zu Gott, dass alles so geregelt werden könnte, dass seine Sache nicht leidet".
Die obige Interpretation der Vorgänge fand ihre Bestätigung dann auch in dem Buch von John D. Unruh „In the Name of Christ" 1952. Er schreibt in Bezug auf Fritz Kliewer:
„Als Resultat seiner Agitation kam es zu einer ernstlichen Trennung in der Kolonie, die im Sommer 1944 in einen offenen Konflikt auslief… Während der schlimmsten Unruhen, wo zu befürchten war, dass dieser Putsch die ganze Kolonie in ein typisches Nazi-System stürzen würde, informierte Dr. G. S. Klassen das Militärkommando in Camacho (er braucht den ursprünglichen Namen des Ortes Mcal Estigarribia, wahrscheinlich auch in Verwechslung mit der späteren Aktion durch die amerikanische Gesandtschaft), welches durch eine Polizeiaktion der Kliewer-Bewegung und dem ganzen Nazi-Bund ein Ende machte".
(28)Vom
MCC in Akron selbst, das in dieser Zeit sicher sehr vielseitige Informationen erhalten hat, ist immer größte Zurückhaltung gewahrt worden. P. C. Hiebert schrieb am 15. Oktober 1944 an den Ältesten Jakob Isaak in
Fernheim:
„Was dort in diesem Frühjahr Trauriges vorgekommen ist, bedauern wir mit Euch, und so weit man es bereut, vergibt und vergißt unser Herr, und darum auch wir. – Wo etliche unserer Vertreter nicht Licht gewesen in ihrem Wandel unter Euch, das bedauern wir tief. Wie Ihr uns als Komitee habt kennen gelernt, so denken und stehen wir unverwandt für alles, was das Geistliche fördert und gegen alles, was dasselbe hindern oder schädigen könnte".
Eine weitere Stellungnahme des
MCC zu den Vorgängen im März 1944 in
Fernheim ist nicht auffindbar.
Als Letzter hat sich John D. Thiesen in seinem Buch „Mennonite & Nazi", das 1999 erschien, mit all diesen Fragen in einer anerkennenswerten Ausführlichkeit und Sachlichkeit auseinandergesetzt. Dabei hat er auch die Rolle des
MCC in dem Fernheimer Konflikt untersucht, und er kommt zu dem Resultat, dass die Vorwürfe, das
MCC habe sich während des Krieges als politisches Werkzeug brauchen lassen, nicht stimme. Dr. Gerhard S. Klassen, der immer als Hauptakteur genannt wird, habe im März 1944 in eigener Regie gehandelt.
(29)
Auf den Hinweis, dass sich Dr. Klassen bei seiner Forderung zur Ausweisung der führenden Männer der
Kolonie auf der Bürgerversammlung am 14. März 1944 auf das
MCC und seine Regierung berufen habe, schrieb Thiesen in einem Brief vom 16. Juni 1999, dass Klassen wahrscheinlich gelogen habe, um Eindruck zu machen. Alles andere, das Eingreifen der US-Gesandtschaft mit den Folgen, sei dann erst nach den Ereignissen im März 1944 angelaufen. Mehr könne er aus den Akten nicht ableiten. Er fügt hinzu, dass es nach seiner Meinung eine Selbstüberschätzung sei, zu meinen, dass die USA, die Krieg mit den mächtigsten Staaten der Welt führten, sich so sehr für eine kleine
Kolonie im Hinterwald des
Chaco interessiert hätten.
Alles hinterlässt jedoch den Anschein, dass jene Konflikte, die für Einzelne doch sehr tiefgreifend waren, noch nicht endgültig geklärt sind. Vielleicht bleibt dies auch eine der vielen ungeklärten Fragen mehr in der Geschichte.
Das
MCC hat sich dann nach dem Abklingen der Spannungen in
Fernheim und nach der Beendigung des Krieges mit großer Intensität, seinem eigentlichen Auftrag folgend, eingesetzt. Dabei ging es neben der materiellen und beratenden Hilfe für die wirtschaftliche Stabilisierung in gewissem Sinn auch um eine Umerziehung durch die Vermittlung von Lehrern aus Nordamerika für die
Zentralschule in
Filadelfia und von Predigern für die Gemeinden.
Das war in den nun folgenden Jahren auch nicht so schwierig, weil einer der Hauptgründe für das Anwachsen der völkischen Bewegung, nämlich die Rückkehr nach Deutschland, durch das Ende des Krieges gegenstandslos geworden war. Allerdings begann dann sehr bald, in den fünfziger und sechziger Jahren, die große Abwanderung nach Kanada und die Rückwanderung nach Deutschland, die trotz der Bemühungen des
MCC, die wirtschaftliche Lage in den Siedlungen stabilisieren zu helfen, nur sehr langsam abklang.
Neuland und Volendam
Auch in der für
Paraguay letzten Phase der
MCC-Tätigkeit war es nicht zu vermeiden, dass sich der christliche Hilfsdienst auch mit
Politik oder besser vielleicht mit Diplomatie verbinden musste. Das jedenfalls wurde bei der groß angelegten Hilfsaktion des
MCC nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland für die aus dem Osten geflüchteten Mennoniten deutlich.
Zwei Beispiele: Peter J. Dyck erzählte in
Filadelfia 1948 während eines Vortrags über die Tätigkeit für die
Flüchtlinge in Deutschland folgende Episode, um die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die sich ihnen als
MCC-Arbeiter oft entgegenstellten: Die gesammelten
Flüchtlinge mussten in irgendeiner Stadt untergebracht werden. Das war nur mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsarmee möglich. Das Militär ließ Wohnungen räumen, damit die
Flüchtlinge einziehen konnten. „Händeringend baten uns die Bewohner", erzählte Dyck, „ihnen doch ihre Wohnung zu lassen, aber was sollten wir tun"?
Eine andere Episode, die sich ergab, als die Ausreisegenehmigung für die
Flüchtlinge nach
Paraguay von der Militärverwaltung der Alliierten erteilt werden sollte, erzählt Peter Derksen, ehemaliger
Oberschulze von
Neuland:
„Alle mußten von einer politischen Kommission, zu der auch Russen gehörten, geprüft werden. Sehr vorsichtig und indirekt machten die MCC-Vertreter darauf aufmerksam, dass wir Russland nicht freiwillig verlassen hätten, sondern von den Deutschen gewaltsam verschleppt worden seien, dass wir in Deutschland nicht verpflegt und auch nicht eingebürgert worden seien, dass niemand von uns bei der deutschen Wehrmacht, geschweige denn bei der SS gewesen sei… Wir haben alle Fragen so beantwortet, wie es zur Auswanderung notwendig war. Alle wußten, dass es Lügen waren, und doch ging es reibungslos…"
(30)Doch am eindrucksvollsten bleibt wohl der von Peter und Elfrieda Dyck selbst geschilderte Vorgang bei der Ausreise der Berliner Gruppe durch den Sowjetsektor nach Bremen, wo sie das wartende Schiff „
Volendam" besteigen konnte. Er ist ein Wunder Gottes genannt worden, und das bleibt er auch, wenn man erfährt, mit welcher Zähigkeit und mit welch diplomatischem Geschick Dyck mit dem in Berlin kommandierenden amerikanischen General Clay und dieser wieder mit dem russischen Marschall Sokolowski verhandelte, um das „Unternehmen
Mennonit" möglich zu machen. Am 1. Februar 1947 fuhr der Zug mit den Flüchtlingen ungehindert durch den sowjetischen Sektor nach Bremen.
(31)
Doch auch mit den Geretteten gab es unvorhergesehene Probleme. Als die erste Gruppe der
Flüchtlinge auf dem Weg nach
Paraguay in
Buenos Aires in einem Lager warten musste, weil in
Paraguay ein Bürgerkrieg ausgebrochen war, wurde die Stimmung unter den Wartenden immer schlechter. Das Gerücht verbreitete sich schnell, dass sie vom
MCC zwangsweise in die „
Grüne Hölle" des
Chaco gebracht werden sollten. Als die Weiterfahrt dann möglich wurde, meuterten 135 Personen. Trotz aller Überzeugungsversuche, auch mit dem Hinweis, in welch prekäre Lage sie, die aus höchster Not Geretteten, das
MCC brächten, waren sie nicht zu überzeugen. Sie blieben in
Buenos Aires.
(32)
Auch der weitere Verlauf der Ansiedlung dieser
Flüchtlinge verlief nicht reibungslos. Das
MCC wollte alle, wohl dem Grundsatz Benders vom Mennonitenstaat im
Chaco getreu, in den
Chaco bringen. Doch die Einwanderer hatten die schlechte Stimmung vom Lager in
Buenos Aires mit nach
Asunción gebracht. C. A. DeFehr, einer der Betreuer vom
MCC, musste schließlich zugeben, dass niemand gegen seinen Willen in den
Chaco gebracht werden würde. So kam es zur Gründung von zwei neuen Kolonien in
Paraguay,
Neuland im
Chaco und
Volendam in Ostparaguay. Hier wie in
Buenos Aires konnte die Lage durch eine einsichtsvolle Großmütigkeit von Seiten der Verantwortlichen des
MCC entschärft werden.
Das
MCC blieb auch weiter noch über Jahre ein bestimmender Faktor in der Entwicklung der
Mennonitenkolonien in
Paraguay, vor allem für die neuen Kolonien. Die Vermittlung des 1-Million-Dollar-Kredites vom „Punkt-4-Programm" der USA 1957 war eine der letzten großen Hilfsaktionen.
(33) Mit der Gründung des Gemeindekomitees, die vom
MCC angeregt wurde, übernahmen die
Mennoniten in Paraguay einen wesentlichen Teil der vom
MCC getragenen karitativen Einrichtungen, Beispiel die Leprastation. Dann zog es sich mehr und mehr zurück, um sich andern Gruppen zuzuwenden, die in größerer Not waren.
Schlussgedanken
Diese Ausführungen zeigen, dass es auch für Christen mit den entschiedensten Grundsätzen sehr oft nicht einfach ist, die Lösung der Lebensfragen nur nach der Bergpredigt zu finden. Bezogen auf die
Mennonitenkolonien in
Paraguay ergaben sich für die Vertreter des
MCC zusätzlich Konflikte, die aus einer sehr spezifischen Situation des Kolonisationsmennonitentums resultierten. Sie haben deren Ursachen damals wahrscheinlich oft selber kaum gemerkt.
Von ihrem Grundkonzept und Gemeindeverständnis her beurteilten die nordamerikanischen Mennoniten ihre russischen und später die paraguayischen Glaubensgeschwister von der Glaubensgemeinde nach täuferischen Grundsätzen her. Tatsächlich aber waren diese Gruppen, für die sie sich einsetzten, auch eine ethnische Sippengemeinschaft geworden, „eine totale Gesellschaft mit Getauften und Ungetauften, mit Heiligen und Sündern", wie E. K. Francis es formulierte
(34), auch mit der Verantwortung für Ordnung, Recht und
Gerechtigkeit. Dies alles hatte Bender mit seinem Konzept vom Mennonitenstaat in
Paraguay noch verstärkt und sanktioniert.
Das
MCC hatte es hier mit einer Gesellschaft von Menschen zu tun, die ihre Lebenssituation auch auf bürgerlicher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene regeln musste, wobei sich dann immer wieder verschiedene Interessengruppen auseinander zu setzten hatten. Die
MCC-Vertreter gerieten dabei nicht selten mitten hinein in diese Reibungen, und sie sahen sich dann gezwungen, auch mit oft sehr menschlichen Mitteln Partei zu ergreifen. Kein Wunder, dass das Urteil über sie dann längst nicht immer einmütig war, wie die obige geschichtliche Untersuchung beweist.
Literaturverzeichnis
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- Bender, Harold S.: Report 1938, maschinenschriftlich (Archiv Fernheim).
- Dyck, Peter und Elfrieda: Auferstanden aus Ruinen, Bolanden – Weierhof, 1994.
- Derksen, Peter: Erinnerungen, maschinenschriftlich – Neuhalbstadt, 1983.
- Epp, Frank H.: Mennonite Exodus, Altona, Manitoba, 1962.
- Francis, E. K.: Täufertum und Kolonisation – in: Hershberger, 1962.
- Fretz, Joseph Winfield: Immigrant Group Settlement in Paraguay, North Newton, Kansas, 1962.
- Hershberger, Guy F.: Das Täufertum – Erbe und Verpflichtung, Stuttgart, 1963.
- Hiebert, P. C.: Mitteilungen von der Reise nach Südamerika, Hillsboro, Kansas, o.J.
- Hildebrandts Zeittafel (J. J. Hildebrand), Winnipeg, 1945.
- Klassen, Peter P.: Die Mennoniten in Paraguay – Band 1 – Reich Gottes und Reich dieser Welt, Bolanden – Weierhof, 1988.
- Klassen, Peter P.: Die russlanddeutschen Mennoniten in Brasilien – Alto Rio Krauel und Stoltz Plateau, Bolanden – Weierhof, 1995.
- Klassen, Peter P.: Die deutschvölkische Zeit in der Kolonie Fernheim 1933 – 1945, Bolanden – Weierhof, 1990.
- Postma, J. S.: Fernheim – fernes Heim, maschinenschriftlich, 1948.
- Quiring, Walter: Deutsche erschließen den Chaco, Karlsruhe, 1936.
- Quiring, Walter: Russlanddeutsche suchen eine Heimat, Karlsruhe, 1938.
- Ratzlaff, Gerhard: An historical – political study of the Mennonites in Paraguay – a thesis – maschinenschriftlich, Fresno, Kalifornien, 1974.
- Schröder, Heinrich H.: Russlanddeutsche Friesen, Dollstadt-Langensalza, 1936.
- Smith, Willard H.: Paraguayan Interlude, Scottdale, Penn.,1950.
- Thiesen, John D.: Mennonites & Nazi? – Attitudes Among Mennonite Colonists in Latin America, 1933 – 1945, Kitchener, Ontario, 1999.
- Toews, John B.: Ein Vaterland verloren, Winnipeg, 1971.
- Unruh, John D.: In the Name of Christ, Scottdale, Penn., 1952.
- Wiens, P. und Klassen P.: Jubiläumsschrift zum 25jährigen Bestehen der Kolonie Fernheim, Winnipeg, 1956.
Fussnoten:
| |
| Toews, 1971, S. 41. |
| Toews, 1971, S. 42 ff. |
| Epp, 1962, S. 202. |
| Klassen 1988, S. 75 ff. |
| Klassen, 1988, S. 81 ff. |
| Klassen, 1995, S. 58 ff. |
| Quiring 1938, S. 115. |
| Bender, H.S. in Neff, 1930, S. 121 ff. |
| Quiring, 1936, S. 18. |
| |
| Wiens und Klassen, 1955, S. 49. |
| Fretz, 1962, S. 154. |
| Quiring, 1936, S. 152 f – und Langemann, K., „Bericht über die Kundschaftsreise 1931", maschinenschriftlich, (Archiv Fernheim). |
| Schröder, 1936, S. 31 ff. |
| Hildebrandt, 1945, S. 321. |
| Hiebert, 1937, S. 64. |
| Bender H. S., Report 1938 (Archiv Fernheim). |
| |
| Postma, 1948, S. 81. |
| |
| Smith, 1950, S. 81 f. |
| Ablichtungen von Dokumenten aus dem „National Archives, Washington, D.C." im Archiv Fernheim. |
| Siehe Klassen, 1990, S. 105 ff. |
| Protokoll der Koloniesitzung am 14. März 1944, Archiv Fernheim. |
| Ratzlaff, 1974, S. 226. |
| Smith, 1950, 81 f. |
| Unruh, 1952, S. 223. |
| Thiesen, 1999, 211 ff. |
| Derksen, 1983, S. 21. |
| Dyck, 1994, S. 132. |
| Dyck, 1994, S. 160. |
| Klassen, 1988, S. 177. |
| Francis in: Hershberger, 1963, S. 264. |
Identitätsfragen in der Erziehungspolitik
Hans Theodor Regier
1. Das Schulwesen in Russland
Den Identitätsfragen der Mennoniten Paraguays in der Erziehungspolitik nachzugehen ist eine große Herausforderung und nur auf Grund einer Beobachtung der geschichtlichen Entwicklung des mennonitischen Erziehungswesens möglich. Für die Erarbeitung dieser Thematik waren die Werke von Leonhard Froese,
(2) Peter P. Klassen
(3) und Jakob Warkentin
(4) grundlegend.
Die Wurzeln des Schulwesens der deutschstämmigen
Mennoniten in Paraguay führen ohne Zweifel zurück nach Russland. Das Wesen der Erziehungsarbeit der Mennoniten in Russland war so ausgeprägt, dass später die Neuansiedlungen der Russlandmennoniten in Nord- und Südamerika davon stark beeinflusst wurden. Natürlich trugen noch mehr Gründe dazu bei, dass die Grundlagen der Erziehungspolitik der
Mennoniten in Paraguay einen starken Rückhalt im mennonitischen Schulwesen in Russland fanden. Es würde den vorgegebenen Rahmen sprengen, die gesamte Erziehungsarbeit der Mennoniten in Russland zu untersuchen. Doch sollen einige Elemente des mennonitischen Schulwesens in Russland, die später auch in
Paraguay in direkter und indirekter Form zum Tragen kamen, etwas näher betrachtet werden.
1.1. Die ursprünglich aus Preußen nach Russland eingewanderten Mennoniten waren davon überzeugt, dass die Eltern für die Grundschulausbildung ihrer Kinder verantwortlich sind. Dieser von der Gruppe selbstauferlegten Pflicht versuchten die Eltern so gut wie möglich nachzukommen. Diese Selbstinitiative und das Pflichtbewusstsein, dass die Eltern für die Grundschulausbildung ihrer Kinder verantwortlich sind, war auch bei der Ansiedlung der deutschstämmigen
Mennoniten in Paraguay von grundlegender Bedeutung um ein eigenes Schulsystem aufzubauen.
1.2. Die Strukturierung des mennonitischen Schulwesens in Russland vor und nach der tiefgreifenden Reform durch Johann Cornies finden wir in
Paraguay in beiden Formen wieder.
Die Schulstrukturen mit dem jeweiligen Bildungsniveau aus der Zeit vor der
Schulreform in Russland findet man in
Menno bis in die späten fünfziger Jahre und bis heute in mehreren mennonitischen Kolonien in Ostparaguay vor. Das traditionelle Schulsystem aus Russland konnte und kann in
Paraguay noch einmal voll zum Zuge kommen. In der Erziehungsarbeit in
Fernheim,
Friesland,
Neuland und
Volendam wurde das fortschrittlichere reformierte Schulsystem aus Russland in fast unveränderter Form übernommen. Man ging wie in Russland von einer sechsjährigen Grundschulausbildung aus, danach folgte eine vierjährige Zentralschulausbildung und eine zweijährige Lehrer- oder sonstige Berufsausbildung. Erst einige Jahrzehnte nach der Ansiedlung in
Paraguay hat man sich mehr von diesem aus Russland übertragenen System distanziert und sich den lokalen Umständen angepasst.
1.3. Die Zielsetzung des mennonitischen Schulwesens in Russland konzentrierte sich vor Cornies
Schulreform hauptsächlich darauf, dass alle Kinder eine Grundschulausbildung erhalten sollten, wo sie lesen, schreiben und rechnen lernen mussten. Während dieser Zeit war es für die jeweiligen Organisatoren des Schulwesens von grundlegender Bedeutung, dass die Kinder eine Grundschulausbildung erhielten, wobei die Qualität der Erziehungsarbeit keine entscheidende Bedeutung hatte. Diese recht niedrigen Ansprüche entsprachen wohl auch der allgemeinen Lebenseinstellung, in der es darum ging, eine schlichte Lebenshaltung einzunehmen und mit Schweiß auf der Erdscholle das alltägliche Brot zu erarbeiten.
Doch nicht alle waren mit dem vorhandenen Bildungsniveau zufrieden, und die Zeit brachte Männer hervor, die trotz großer Widerstände aus den eigenen Reihen und dem enorm großen Gesellschaftsdruck, wohl aber mit dem politischen Rückhalt des russischen Staates, Reformen im wirtschaftlichen und pädagogischen Bereich anstrebten. Johann Cornies formuliert die Zielsetzung der auf seine Art verbesserten Erziehungsarbeit folgendermaßen: „Religiosität ist das Ziel, zu welchem jede wahre
Bildung hinstreben muss, und an welcher sich alle einzelnen Zweige derselben vereinigen müssen. Sie ist die heilige Wurzel, aus der alles Leben hervorgeht und welche die Weihe über die keimende Kraft und über ihre Entwickelung ausgießt". Im letzten Artikel seiner 88 „Allgemeine Regeln" fährt er fort: „Werden die Lehrer hiesigen Bezirks nach diesen hier angeführten Regeln handeln, dann werden die Schulen Bildnerinnen des Körpers, Herzens und Geistes werden, wahre Bildungsörter für den Menschen, ein Segen für die jetzigen, eine Glückseligkeit für die nachkommenden Brüder."
(5) Hier wird ersichtlich, dass die Vermittlung von religiösen Werten und Inhalten ein wichtiger Bestandteil bzw. die Grundlage der Erziehungsarbeit war. Die Schulen sollten Konfessionsschulen sein und darunter verstand man in den Gemeinden, dass die Erziehung sich auf das mennonitische Bekenntnis gründen sollte und der „Geist ein religiös-sittlicher sein sollte".
(6) Bedingt durch den gemeinschaftlichen Charakter der mennonitischen Siedlungen wurde in der Erziehungsarbeit auch großes Gewicht auf die Vermittlung von gewissen Verhaltensmustern für Lehrer und Schüler gelegt. Verhaltensmuster, die sich z.B. auf das Verhältnis des Kindes zu Lehrern, Eltern, Obrigkeit,
Gemeinde, Umwelt, usw. beziehen.
(7) Inhaltlich bleibt die Zielsetzung der Erziehungsarbeit der
Mennoniten in Paraguay in den ersten Jahrzehnten dieselbe wie in Russland. Obzwar diese in den ersten Jahrzehnten wenig oder überhaupt nicht schriftlich formuliert wurde, so stand die „Religiosität", wie Cornies sie nennt, doch immer im Vordergrund. Obwohl man keine dogmatischen
Glaubensbekenntnisse schriftlich vorliegen hatte, die auch für die Erziehungsarbeit als Richtlinien hätten dienen können, wusste anscheinend jeder, wo es entlang ging. Doch diese Tatsache ermöglichte es, dass das Schulwesen immer wieder von starken Persönlichkeiten, die auch wieder die Interessen der Gemeinden, der Kolonieverwaltung oder von Institutionen von außen vertraten, entscheidend beeinflusst werden konnte.
1.4. Eng zusammenhängend mit der Zielsetzung der Erziehungsarbeit war auch das Verhältnis der Schulen zu den Gemeinden. Dadurch dass die Erziehungsinstitutionen Konfessionsschulen sein sollten und auch waren, setzten sich die Gemeinden automatisch als Kontrollinstanz über die Schulen. Man sah es gerne, wenn die Lehrer Glieder der jeweiligen Gemeinden waren. In der Tat waren in Russland, wie auch später in
Paraguay, ein großer Teil der Lehrer gleichzeitig
Prediger. So waren die Gemeinden auf der einen Seite bei der Festlegung der Rahmenbedingungen der Erziehungsarbeit mitbestimmend, andererseits kontrollierten sie aber auch ständig, dass dieser Rahmen nicht von den Beteiligten überschritten wurde. Dadurch unterstützte die Erziehungsarbeit die dogmatischen Grundsätze der Mennoniten wie z. B. die Gemeinschaft der Gläubigen und die
Absonderung von der sündigen Welt. Gefördert wurden Eigenschaften wie Gehorsam, Schlichtheit, Sittsamkeit und Frömmigkeit.
(8) Den Ursprung der „Gemeindeschulen", wie sie in Russland anfänglich geführt wurden, kann man bestimmt in dem Bedürfnis finden, die Interessen der täuferischen Glaubensgemeinde zu erhalten und zu vertreten. Allmählich wurde daraus eine Schule der Dorfgemeinde. Für die Glaubensgemeinde waren die „Gemeindeschulen" ein Garant für ihre Kontinuität, aber auch gleichzeitig Träger der Dorfs- und Koloniekultur.
(9) Das enge Verhältnis zwischen Schule und Gemeinden wurde auch von Russland nach
Paraguay transferiert.
1.5. Ein weiteres für die Mennoniten in Russland wichtiges Element des Schulwesens war die Sprache. Als Unterrichtssprache diente anfänglich die Muttersprache, d.h.
Plattdeutsch und Deutsch. Im Prinzip war Deutsch die offizielle Sprache für
Gemeinde, Gemeinschaft und Schule. Die Sprache galt auch als Garantie für die
Absonderung von der Welt. Die
Absonderung von der Welt wäre durch die Übernahme der jeweiligen lokalen Sprache gefährdet, da dann natürlich auch die negativen Einflüsse der neuen
Kultur nicht abzuwehren seien. In mehreren Fällen der mennonitischen Geschichte war der Versuch der jeweiligen Regierung, die deutsche Sprache einzuschränken oder abzuschaffen Grund genug, den Wanderstab zu ergreifen. So führten in Russland die anstehenden Reformen und auch der Verdacht, dass man dadurch die deutsche Sprache verlieren werde, zur Auswanderung einer Gruppe von Mennoniten nach Kanada.
(10) Natürlich war es nicht nur die Sprache, sondern die jeweiligen gesamten Schulreformen, die zu Auswanderungen nach Kanada, Mexiko und
Paraguay anspornten. Erst 1897/99 wurde in Russland die russische Sprache per Gesetz als Unterrichtssprache eingesetzt, mit Ausnahme des Unterrichts in den Fächer Religion und Deutsch. Auch in
Paraguay hat man nie daran gezweifelt, dass die deutsche Sprache als Unterrichtssprache führend sein sollte. Trotzdem hat man in Russland wie auch in
Paraguay sehr bald Anstrengungen unternommen, die lokale Landessprache teilweise in den Lehrplan mit aufzunehmen.
Die Strukturierung des Schulwesens, Zielsetzung, Qualität, Sprache und das Verhältnis zur
Gemeinde sind Punkte in der deutschmennonitischen Schulgeschichte, die oft Spannungsfelder zwischen den traditionellen und fortschrittlicheren Gruppen erzeugt haben. Diese Spannungsfelder, die in einigen Fällen zu harten Auseinandersetzungen führten, gaben aber auch Anlass zu Neuorientierungen der Erziehungspolitik.
2. Das Schulwesen in Paraguay
In
Paraguay trafen zu Beginn der dreißiger Jahre zwei Erscheinungsformen des mennonitischen Schulwesens zusammen. In der
Kolonie Menno wurde das aus Russland über Kanada mitgebrachte konservative Schulwesen der
Bergthaler aus der Zeit vor Cornies Reform aus Russland aufgebaut, in
Fernheim dagegen versuchte man das Schulwesen aus Russland, das sich relativ hoch entwickelt hatte, weiter auf- und auszubauen. Beide Formen ruhten letztendlich auf derselben Glaubensgrundlage, d.h. dem täuferisch-mennonitischen Glaubensbekenntnis und der zum Teil gleichen
Tradition.
2.1. Das traditionelle und das fortschrittliche SchulwesenDas Schulwesen in der
Kolonie Fernheim und später auch in
Friesland,
Neuland und
Volendam wurde im Gegensatz zu dem der
Kolonie Menno mit anderen Voraussetzungen gestartet. Am meisten unterschieden sich die Fernheimer, die 1930/32 einwanderten, von den Mennos in ihrer Einstellung zur Umwelt und Außenwelt. In
Menno versuchte man die Kinder und Jugendlichen vor dem Einfluss der Welt zu schützen, während man in
Fernheim die Beziehungen zur neuen Heimat und zum Ausland förderte. Natürlicih erzeugte diese Tatsache Spannungsfelder in der Erziehungspolitik, wobei man den Einfluss von draußen nicht immer in angemessener Form mit den eigenen Glaubensüberzeugungen und den traditionellen Formen auf einen Nenner bringen konnte.
2.1.1.Von der Ansiedlung bis 1945Das Schulwesen in der
Kolonie Fernheim kann von der Ansiedlung 1930/32 bis zum Abschluss des Zweiten Weltkrieges wohl als eine in sich geschlossene Phase gesehen werden. Während dieser Zeit erlebte die Erziehungsarbeit einen Aufschwung, der in materieller Hinsicht fast aus dem Nichts erarbeitet, dann aber nach überspitzten Auseinandersetzungen Mitte der vierziger Jahre einmal stark abgebremst wurde. Das Startkapital für die Aufbauarbeit des Schulwesens in
Fernheim waren die Erfahrungen eines säkularisierten, modernen und differenzierten Schulwesens der Mennoniten in Russland aus der Zeit vor 1914, ein Teil in Russland ausgebildeter Lehrer und die aus Deutschland mitgebrachten Bücher und Schulmaterialien.
Im Grunde genommen strebte man denselben Zustand an, wie man ihn in Russland vor 1914 erlebt hatte und der in der Durchführung der regelmäßigen Gottesdienste, einem ungestörten Gemeindeleben und einem geregelten Schulunterricht bestand.
(11) Trotzdem versuchte man von Anfang an, gute Kontakte mit dem neuen Heimatland zu pflegen. So wurden gleich im ersten Sommer nach der Ansiedlung Lehrer auf Kosten des paraguayischen Staates nach
Asunción geschickt, um die spanische Sprache zu erlernen und sich sonstige Kenntnisse anzueignen. Viel Wert legte man auf die Anstellung von ausgebildeten Lehrern. Wo dies nicht der Fall war, gab man immer wieder die Gelegenheit, dass Junglehrer sich auf lokalen Fortbildungskursen die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen konnten. Die jeweiligen Dorfsgemeinschaften machten sich für den Aufbau und Unterhalt der Schulen verantwortlich. Im Vergleich zu den Gemeindeschulen in
Menno entwickelte sich hier mehr der Typ einer
Kolonie-, bzw. Dorfsschule, den später auch die Kolonien
Friesland,
Volendam und
Neuland übernahmen.
Aber auch in
Fernheim stand das Schulwesen in engem Kontakt mit den Gemeinden. Wie schon in Russland ein großer Teil der Lehrer gleichzeitig
Prediger war, übten auch in
Fernheim in den ersten Jahren neun von sechzehn Lehrern gleichzeitig das Predigeramt aus.
(12) Wohl unter dem Einfluss der Gemeinden war die Schule im Dorf Symbol der
Kultur. Die Siedler waren sich sehr schnell bewusst, dass sie neben dem wirtschaftlichen und religiösen Bereich auch das kulturelle Leben in die Hand nehmen mussten, da hier in
Paraguay nicht mit Unterstützung von außen zu rechnen war. Die Grundschulausbildung in den jeweiligen Dörfern war für die Ansiedler eine Selbstverständlichkeit, aber die Eröffnung einer Fortbildungsschule in Schönwiese ab 1931 war wohl etwas Außergewöhnliches. Dieses Unternehmen lief auf Grund einer Privatinitiative, in der Lehrer Wilhelm Klassen die führende Triebfeder war. Drei Jahre später übernahm die Kolonieverwaltung von
Fernheim diese Initiative und führte die „
Zentralschule" in
Filadelfia weiter.
(13)
Der Unterricht wurde außer im Fach Spanisch in deutscher Sprache erteilt. Es bestand wohl bei den Organisatoren der Erziehungsarbeit kein Zweifel, dass die deutsche Sprache mit dem dazugehörigen Einfluss im allgemeinen Kulturleben die Grundlage für das Schulwesen bilden sollte. Das Deutschtum war besonders auch in Russland Teil der ethnisch-mennonitischen Gemeinschaft geworden, und diese Tatsache kam in der neu gegründeten
Kolonie Fernheim und später auch in
Friesland,
Neuland und
Volendam stark zum Zuge. Die Mennoniten hatten ihr Deutschbewusstsein von Russland mit nach Südamerika gebracht, und man sah Deutschland immer noch als das „Mutterland" an.
(14) Hinzu kam bei den mennonitischen Ansiedlern die Dankbarkeit der deutschen Regierung gegenüber, mit deren Hilfe sie aus dem Machtbereich des Kommunismus gerettet worden waren. Die Machtübernahme Hitlers in Deutschland erregte bei den deutschsprachigen Siedlern Freude, da jetzt der Ausbreitung des Kommunismus Einhalt geboten werden sollte und auch wieder für ein „Heim ins Reich" nach der Beendigung des Krieges plädiert wurde. Diese Umstände erzeugten andererseits aber auch ein Spannungsfeld, weil die Vorstellung wuchs, dass
Paraguay eventuell eine neue Heimat bedeuten könnte. Außerdem wurde im religiösen Bereich immer wieder erwähnt, um vielleicht auch in der wirtschaftlich hoffnungslosen Situation einen Rettungsschimmer zu sehen, dass Gott die Mennoniten doch nach
Paraguay gebracht habe, um hier eine gewisse Aufgabe zu erfüllen.
(15)
Das oben erwähnte Spannungsfeld übertrug sich auch auf die Erziehungspolitik. Die Schule war eine geeignete Bühne auf der, die zum Teil unterschiedlichen politischen Einstellungen verschiedener Gruppen auszufechten. Ab Ende der dreißiger Jahre bis 1943 wurde das Schulwesen in der
Kolonie Fernheim stark von nationalsozialistischen Ideen geprägt. Unterstützt wurde dieser Trend in
Fernheim vom „Deutschen Volksbund in
Paraguay" und der deutschen Gesandtschaft in
Asunción. Sie versorgten die Schulen mit umfangreichen Lehrmittelsendungen aus Deutschland, halfen bei der Lehrerversorgung und bei sonstigen Aktionen. Man sah in Hitler einen Bewahrer der christlichen
Tradition und ein Vorbild in persönlichen Tugenden.
„Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Mutterland, das Verbundenheitsgefühl mit den in der Sowjetunion zurückgebliebenen Verwandten und Freunden und das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk, dessen Sprache und Kultur man jahrhundertelang gepflegt hatte, hatten ein emotionales Klima geschaffen, in dem wenig Raum für ein oppositionelles Verhalten blieb".
(16)Friedrich Kliewer, ein dynamischer, intelligenter und radikaler Leitertyp, kehrte Ende der dreißiger Jahre nach Abschluss seines Studiums in Deutschland nach
Fernheim zurück, um in der Erziehungsarbeit an leitender Stelle mitzuarbeiten. Er konnte sich mit dem damals bekannten Gedankengut des Nationalsozialismus identifizieren. Auf der einen Seite hat er grundlegende Bausteine für das Schulwesen der
Mennoniten in Paraguay gelegt. Nicht nur in der Strukturierung des Schulwesens, der allgemeinen
Schulreform, Erarbeitung der Stoffpläne, sondern auch in dem aufopfernden Bemühen, eine eigene Lehrerausbildungsstätte aufzubauen, lag sein Verdienst. Andererseits trug seine dynamische und unbeirrte Vorgehensweise auch dazu bei, die Kluft zwischen den Sympathisanten und Gegnern der völkischen Bewegung zu vergrößern.
(17)
Ein großer Teil der Lehrer, unterstützt von der Kolonieverwaltung, einige
Prediger und ziemlich viele Bürger versuchten, eine Volkstumspolitik im Sinn der auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches in
Fernheim zu verwirklichen. Durch diese Gruppierungen wurden die Auseinandersetzungen über das Schulwesen oft nicht sachorientiert, sondern personenorientiert geführt. Hinzu kam, dass die Mennoniten in Russland fest davon überzeugt waren, dass ein Christ täuferischen Ursprungs nicht in der
Politik mitmischt. Aus diesem Grund war man auf die Konfrontation mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht genügend vorbereitet.
Langsam wuchs die Besorgnis über den völkischen Einfluss, besonders auch in der Frage der
Wehrlosigkeit. Nordamerikanischer Einfluss, vertreten durch Ärzte und Missionare, wurde immer stärker bemerkbar. Die antivölkische Bewegung wurde von der Mehrheit der
Prediger, einigen Lehrern, Gemeindegliedern und Eltern geführt.
(18) Obzwar man die Erziehungsarbeit von der Volksschule bis zum
Lehrerseminar unterstützte, sah man in dem Einfluss des nationalsozialistischen Gedankenguts eine Gefahr. Die Gemeinden sahen ihren eigenen Einflussbereich gefährdet. Eltern, die die Opposition unterstützten, schickten ihre Kinder nicht mehr zur Kolonieschule, sondern zur neu gegründeten Bibelschule. Nachdem dann die verantwortlichen Personen des nationalsozialistischen Einflusses aus der
Kolonie verbannt und der offizielle Friede wieder hergestellt worden war, stand das Schulwesen wieder stark unter dem Einfluss der Gemeinden. Die Folgen dieser gesellschaftspolitischen Spannungen, die leider größtenteils im schulischen Bereich ausgetragen wurden, waren noch lange danach zu bemerken.
2.1.2. Der nordamerikanische EinflussDie scharfen Auseinandersetzungen der beiden Gruppierungen in
Fernheim beunruhigten das
MCC schon ab den frühen vierziger Jahren. Denn wenn die völkische Bewegung sich auf lange Sicht in
Fernheim durchsetzen und bei einem eventuellen Sieg Deutschlands eine Bewegung „Heim ins Reich" organisieren würde, bedeutete dies gleichzeitig ein Scheitern des Siedlungsprojektes im paraguayischen
Chaco. Diese Niederlage konnte sich das
MCC auf keinen Fall leisten. Mit einem Schreiben bezog das
MCC schon 1940 klare Stellung zu den Vorfällen in
Fernheim „Die Lehrer, diejenigen der
Zentralschule eingeschlossen, sind nur Diener der
Kolonie, und nicht Führer. Sie sollten sich von aller
Politik fern halten und keinesfalls Ursache zu Kampf und Streit geben. Es ist durchaus unzulässig, dass ein Lehrer gegen die
Wehrlosigkeit, sowie andere Prinzipien des Mennonitentums Stellung nimmt."
(19) Anscheinend war das
MCC nicht gegen das Deutschtum, sondern gegen die Erziehung zur Wehrbereitschaft. Man unterstützte offiziell auch nicht das Vorhaben einiger besorgter Eltern, eine zweite
Zentralschule zu gründen. Vielmehr wurde dazu aufgefordert, die bestehende Schule nach mennonitischen Prinzipien zu führen.
Die Bemühungen des
MCC beruhten auf zwei Grundpfeilern, nämlich am Festhalten am Prinzip der
Wehrlosigkeit und der Bereitschaft, im
Chaco sesshaft zu bleiben. Zu den handgreiflichen Vorfällen am 11. März 1944 nahmen die
MCC-Vertreter auch konkret Stellung und glaubten durch die militärischen Erfolge der USA im Zweiten Weltkrieg auch gewisse Druckmittel in der Hand zu haben. Diese Tatsachen wiesen ganz klar darauf hin, dass die jeweiligen politischen Interessen der damaligen Zeit im Schulbereich ausgetragen wurden.
1944 blieb die
Zentralschule in
Filadelfia auf Grund der vorgefallenen Geschehnisse auf politischer Ebene geschlossen, und erst ab 1945 wurde mit Hilfe des
MCC die
Zentralschule wieder eröffnet. Unterrichtskräfte aus Nordamerika und aus dem lokalen Bereich führten weiterhin die Institution. Man war mit der Unterstützung aus Nordamerika einverstanden, da sonst keine Mithilfe aus dem Ausland in Aussicht war. Lehrer und
Prediger C.C. Peters, der die
Zentralschule von 1948 bis 1952 leitete, hat einen entscheidenden Beitrag zur Weiterführung dieser Erziehungsinstitution geleistet. Der Einfluss der nordamerikanischen Mennoniten blieb bis 1952 bestehen und äußerte sich in einer verstärkten Rückbesinnung auf das überlieferte mennonitische Glaubens- und Kulturerbe. 1948 wurde auf Grund der Initiative von C.C. Peters eine Bibelschule ins Leben gerufen, die qualifizierte Gemeindearbeiter vorbereiten sollte. Das Phänomen der Bibelschulen, später auch von einigen anderen Kolonien kopiert, hatte in gewisser Hinsicht einen großen Einfluss auf die Gemeinschaft und dadurch auch auf die allgemeine Kulturebene. Die Gemeinden konnten durch diese Institution einen großen Einfluss auf die Erziehungsarbeit ausüben.
2.2. Integration des SchulwesensDie Grundsteine für die offizielle Anpassung des mennonitischen Schulwesens an das paraguayische Schulsystem wurden in
Fernheim schon 1945 gelegt. In diesem Jahr arbeitete die K.f.K., einige Lehrer und der Schriftleiter des Mennoblattes neue Richtlinien für das Fernheimer Schulwesen aus. Man sprach jetzt von „christlich-mennonitischer" und nicht mehr von „deutsch-mennonitischer" Erziehung. Der neue Bezugspunkt in der Erziehungsarbeit war ab jetzt
Paraguay und nicht wie bisher Deutschland. Die
Bildung in den Schulen sollte
„auf der Grundlage positiver Auslegung der Heiligen Schrift beruhen und in vollem Einklange mit dem mennonitischen Glaubensbekenntnis stehen. Dem Schüler sollte eine christliche Weltanschauung vermittelt werden. Betont werden sollten in Erziehung und Unterricht die Grundsätze und Lehren des Friedens, einfache schlichte Lebensweise, Geradheit des Charakters, Heiligkeit der Ehe und des Heimes und Freiheit des Gewissens. Es sollten führende Kräfte für Gemeinde, Schule und bürgerliches Leben herangebildet werden."
(20)Das Pendel der Geschichte hatte wieder einmal zurückgeschlagen. Die Erziehungspolitik der völkischen Bewegung wurde ohne Rücksicht in den Hintergrund geschoben, und man schaffte einen neuen Erziehungsrahmen, der wohl in gewisser Hinsicht bis heute erhalten geblieben ist. Das Schulwesen geriet jetzt in zunehmendem Maß unter den Einfluss der Gemeinden. Besonders auch die Bibelschulen taten das Ihrige dazu. Wenn die Schulen ab Mitte der vierziger Jahre in erhöhtem Maß von den Mennoniten Nordamerikas gefördert und beeinflusst wurden, so kam während der sechziger und siebziger Jahre und auch später, die materielle, finanzielle und personelle Unterstützung aus Deutschland. Die Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland galt auch für
Friesland,
Neuland,
Volendam und später auch für
Menno. Die Bemühungen um eine engere offizielle Zusammenarbeit mit dem paraguayischen Erziehungsministerium setzten in offizieller Form ab den frühen siebziger Jahren ein. So schloss sich der Kreis der drei Grundpfeiler des neu strukturierten mennonitischen Schulwesens in
Paraguay: christlich-mennonitische Glaubenshaltung, deutsch-kulturelles Erbe und das paraguayische Kulturgut, mit dem die Mennoniten immer öfter konfrontiert wurden. Es entstand wieder ein neues Spannungsfeld dadurch dass neben dem Erhalt der mennonitischen
Tradition und
Kultur, das Schulwesen immer stärker in das Schulsystem des Landes integriert wurde, man aber in paralleler Form versuchte, durch Kontakte mit Deutschland das deutsche kulturelle Erbe zu aktivieren.
(21) Diese Umstände brachten wohl positive Folgen für das allgemeine geistige und geistliche Kulturniveau mit sich, erzeugten aber beim Jugendlichen Verwirrung durch fehlende Identifizierung mit einer bestimmten Ausrichtung.
Das Schulwesen in
Fernheim wurde durch die Ausbildung eigener Lehrkräfte im Ausland und in
Asunción ab den frühen fünfziger Jahren in zunehmendem Maß unabhängiger.
(22) In dieser Zeit setzte im Erziehungsbereich ein Trend ein, sich vom
MCC unabhängig zu machen. Die Aus- und Weiterbildung der eigenen Lehrer wurde gefördert, um im Schulwesen in Bezug auf Einflüsse von draußen unabhängiger arbeiten zu können. Während der achtziger Jahre war die Zentralisierung der Dorfsschulen in den jeweiligen Zentren der mennonitischen Siedlungen in vollem Gange. Der Grund dafür waren die hohen Unterhaltkosten der Dorfsschulen und das Bestreben, den Unterricht durch die Zentralisierung des Schulwesens qualitativ zu verbessern. Ab den siebziger Jahren begann der Anerkennungsprozess der mennonitischen Schulen im paraguayischen Erziehungsministerium. Die vierjährige Zentralschulausbildung wurde durch die offizielle Anerkennung auf sechs Jahre verlängert. Dadurch ging das aus Russland lang bewährte Schulsystem der vierjährigen Zentralschulen verloren. Es wurden auch größtenteils die Stoffpläne des paraguayischen Schulsystems in den mennonitischen Schulen übernommen. Die Übernahme der Stoffpläne hat manche Veränderungen im mennonitischen Schulwesen bewirkt. Die oft mangelhafte Qualität der Unterrichtsmaterialien hat dazu geführt, dass man auch immer wieder selbst hergestellte oder aus Deutschland bezogene Materialien als Ergänzung hinzugezogen hat. Anders war es in der sechsjährigen Grundschulausbildung, wo noch größtenteils auf Grund eigener Pläne und Materialien gearbeitet wurde. Die Volksschulen wurden erst 1993 von der paraguayischen Regierung anerkannt. Trotz der offiziellen Anerkennung von Seiten des paraguayischen Erziehungsministeriums hat letzteres im konkreten Schulalltag in den mennonitischen Schulen bisher wenig verändert.
Einmalig ist auch die Initiative für die
Schulreform in
Menno. Die Reformgedanken kamen durch fortschrittlich denkende Männer von innen heraus und wurden nicht von außen aufgezwungen. Neue Unterrichtsmethoden und -inhalte wurden eingeführt, und man durchbrach eine jahrhundertealte Form der
Absonderung von der Umwelt. In den frühen siebziger Jahren wurde die Vereinsschule in eine Kolonieschule umgewandelt. Der weitere Integrationsprozess von den traditionellen Gemeindeschulen zu der neuzeitlichen Kolonieschule hin lief ungefähr so wie in den anderen mennonitischen Gemeinschaften.
Die bewusste dreifache Zielsetzung im mennonitischen Schulwesen ab den fünfziger Jahren trug zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung des Erziehungswesens bei. Die qualitativen Verbesserungen im Schulwesen wurden wohl vor allem auf Grund der eigenen Anstrengungen und mit Hilfe der Bundesrepublik Deutschland erzielt. Von der paraguayischen Regierung kam wenig praktische Unterstützung.
3. Fazit
3.1. Notwendigkeit des Wandels der Identität
Die Schule ist wohl stärker mit der Identitätsproblematik der Mennoniten verwickelt, als man oft annimmt. Einmal deshalb, wie schon oben nachgezeichnet wurde, weil man allgemein davon ausging, dass die Schule für den Erhalt und die Pflege des gesamten Kulturwesens zuständig ist. Wenn man davon ausgeht, dass die Identität die Gesamtheit des Seins mit einschließt und nur im Kontext der jeweiligen Gesellschaft mit ihren Sitten, Gebräuchen und Werten möglich ist, hat der kulturelle Bereich eine grundlegende Funktion für die jeweilige Identitätsbildung.
Außerdem bot die Schule im mennonitischen Gemeinschaftsleben fast die einzige Arena, wo der Intellektuelle sich profilieren konnte. Des Öfteren war es so, dass der Sachverständige nur in der Schule die Möglichkeit hatte, seine Fähigkeiten zu beweisen, wo er dann eben auch seinen Lebensunterhalt verdiente, auf Gemeindeebene dagegen ohne finanzielle Zuwendung seine Dienste leistete. Das heißt im Klartext, dass ein Teil der führenden Leute der
Kolonie im schulischen Bereich die Möglichkeit hatte, seine Identität weiter zu formen, bzw. unter Beweis zu stellen. Man könnte diesem entgegenhalten, dass die
Gemeinde auch ein Forum darstellen könnte, um das kulturelle, aber besonders auch das geistliche Erbe zu diskutieren. Dies war aber meistens nicht der Fall. Die
Gemeinde war wohl Hüterin des geistlichen Erbes, aber nicht eine Bühne, auf der dieses Erbe zur Diskussion stand. Natürlich brauchte der Glaube nicht täglich zur Diskussion zu stehen, es gab aber immer wieder aktuelle Fragen, die eine zeitgemäße Analyse erforderlich machten. Die geistlichen Grundlinien, eingebettet in die
Tradition, waren dem Anschein nach klar definiert. Der Glaube beinhaltete ein Leben in der
Nachfolge Jesu, wobei die
Bibel die alleinige Grundlage für das täuferisch-mennonitische Wesen bildete. Die
Taufe war der Bekenntnisakt für diesen Lebensstil, in dem auch die Wehrdienstverweigerung, das Nicht-Schwören und die Nächsten- und Feindesliebe eine besondere Bedeutung hatten. Dieser Grundrahmen wurde in den verschiedensten Formen auch auf das kulturelle, wirtschaftliche und soziale Leben übertragen. Dem gegenüber schwebte den meisten Mennoniten ein Bild vor, wo ein tapferer und mutiger Siedler mit außergewöhnlichen Leistungen im wirtschaftlichen und zum Teil auch kulturellem Bereich unproduktive Einöden in ein „Land der Erfüllung" verwandelt. Doch wer drückte der mennonitischen Gemeinschaft dieses Bild und diese Forderung auf? Das Bild des tapferen und mutigen Siedlers mit den außergewöhnlichen Leistungen, heute ist es wohl die vorbildliche
Milchproduktion, wurde in vielen Fällen von außen geprägt. Hier kommt das Spannungsfeld des Selbst- und Fremdbildes voll zur Wirkung. Ein Bild, das man selber anfertigt, bzw. sich von anderen aufdrängen lässt, ohne dass es mit der Realität und den eigenen Lebensvorstellungen übereinstimmt, bringt für die jeweilige Gemeinschaft und besonders auch für den Einzelnen große innere Spannungen mit sich. Warum können die deutschstämmigen
Mennoniten in Paraguay nicht ganz normale Menschen mit ihren Stärken und Schwächen sein so wie alle anderen Bewohner des Landes auch? Eine unkritische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen, bzw. Selbstbildern kann man öfters in der mennonitischen Geschichte beobachten. Die undiskutierten und undefinierten Selbst- und Fremdbilder führten besonders auch bei vielen Jugendlichen zu einer Identitätskrise. Denn eine große Mehrzahl der heranwachsenden Generation ist nicht aktiv an dem Aufbau- und Stabilisierungsprozess der Gemeinschaft beteiligt gewesen und kann sich aus diesem Grund oft auch mit gewissen Bildern nicht genügend identifizieren. Sie suchen und fragen nach tieferen Begründungen der eigenen Identität. Es besteht die Notwendigkeit, dass die Selbst- und Fremdbilder, die in den meisten Fällen unser Handeln bestimmen, neu diskutiert werden. Die Zeit, in der steife Formen mit Hilfe von Feindbildern an die Jugendlichen vermittelt werden, z.B. im Umgang mit anderen Religionen, scheint vorbei zu sein. Außerdem führt dies auch nicht zu einer Stärkung der eigenen Identität.
3.2. Schule als Grundlage der IdentitätsvermittlungEine der charakteristischen Eigenschaften des mennonitischen Schulwesens, das direkt von Russland auf die Kolonien in
Paraguay übertragen wurde, war die Initiative der Siedler, den Aufbau des Schulwesen in die eigene Hand zu nehmen. In keiner der mennonitischen Siedlungen in
Paraguay fehlte seit der Gründung der
Kolonie eine Schule. Auch die Struktur des Schulsystems wurde direkt von Russland auf
Paraguay übertragen. Die Grund- und Zentralschulausbildung wurde erst ab den siebziger Jahren inhaltlich und strukturell verändert, um den Anforderungen des paraguayischen Erziehungsministeriums für die jeweilige offizielle Anerkennung gerecht zu werden.
Die deutsche Sprache war ein weiteres Kulturelement, das im mennonitischen Schulwesen in
Paraguay einen breiten Platz einnahm. Als Ausdruck der Identifizierung mit dem deutschen Kulturgut wurde es als eine Selbstverständlichkeit angesehen, dass Deutsch auch weiterhin das grundlegende Kommunikationsmittel in der Schule darstellen würde. Aus der noch von Russland mitgebrachten Einsicht, dass das Erlernen der Landessprache eine Notwendigkeit sei, machte man in
Fernheim gleich nach der Gründung der Siedlung eine Anstrengung, die paraguayische Landessprache zu erlernen. In der
Kolonie Menno dagegen galt die deutsche Sprache noch bis zu den fünfziger Jahren als Garantie für die
Absonderung von der Welt. Es ist schon erstaunlich, wie die deutsche Sprache über Jahrhunderte hinweg, wenn auch mit einigen lokalen Färbungen, als Muttersprache in den mennonitischen Siedlungen erhalten blieb. Andererseits trug die geographische Isolation der mennonitischen Kolonien in
Paraguay, besonders bei den Kolonien im
Chaco, auch stark dazu bei, dass die spanische Sprache keinen starken Einzug hielt.
Ratzlaff schreibt „…die deutsche Sprache wird sich bei den eingewanderten Mennoniten und ihren Nachkommen noch über die nächsten zwei Generationen als Muttersprache erhalten".
(23) Ob die deutsche Sprache bei den eingewanderten Mennoniten noch zwei, drei oder fünf Generationen erhalten bleiben wird, ist von verschiedenen Umständen und Einflüssen abhängig. Für die Mennoniten in der Landeshauptstadt wird es in nächster Zukunft wohl eine Herausforderung sein, die deutsche Sprache als Muttersprache in bestimmender Form beibehalten zu können. Wie die deutsche Sprache weiter in den mennonitischen Siedlungen im Inland gepflegt werden soll, lohnt sich zu überlegen. Es drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob man die deutsche Sprache über die Generationen hinweg wird erhalten können und wollen, wenn die folgenden Generationen sich nicht in angemessener Form mit dem deutschen Kulturgut identifizieren können. Daher wird es wichtig sein, einige Überlegungen anzustellen, ob man die Identifizierung mit der deutschen
Kultur fördern will und wie dies in der Praxis aussieht. Die deutsche Sprache hat wohl auch dazu beigetragen, die „Ausnahmementalität" der
Mennoniten in Paraguay zu verstärken. Auf Grund des deutschen Kulturerbes glauben z.B. manche deutschstämmige Mennoniten, über dem durchschnittlichen paraguayischen Kulturniveau zu stehen.
Bisher ist das deutsche Kulturerbe trotz der verschiedenen Wanderwege und Unterschiede in der Glaubenshaltung und Lebensführung dominant geblieben. Dagegen steht, dass die
Mennoniten in Paraguay in einem spanischsprechenden Land wohnen und man durch den Einfluss von draußen immer stärker in Kontakt mit der spanischsprechenden Umgebung kommt. In den mennonitischen Erziehungsinstitutionen ist in dieser Hinsicht durch den zweisprachigen Unterricht in den letzten Jahrzehnten ein gangbarer Weg gefunden worden. Ein bewussterer und verstärkter Identifizierungsprozess mit der spanischen Sprache und dadurch auch mit der paraguayischen
Kultur wäre ganz bestimmt auch eine Bereicherung für die
Mennoniten in Paraguay. Man kann schwerlich eine gesunde Integration und Offenheit mit der Umwelt anstreben, wenn man die jeweilige Landessprache nicht beherrscht. Durch das Erlernen der spanischen Sprache wäre auch der Zugang zum paraguayischen Kulturgut und der Kontakt mit nicht deutschstämmigen Mennoniten viel leichter gegeben.
In dieser Hinsicht bietet die Schule eine sehr gute Plattform, die Schüler auf den Einfluss der paraguayischen sowie auch der deutschen
Kultur vorzubereiten. Doch dazu muss erst einmal von allen an der Erziehungsarbeit Beteiligten definiert werden, welches die dazugehörige Grundlage wäre. Auch die Gemeinden, Kolonieverwaltungen und Erzieher müssen ihre Anforderungen und Vorstellungen bezüglich der Erziehungsarbeit mit ihren jeweiligen Argumenten klar auf den Tisch legen, um den allgemeinen Rahmen abzustecken. Zu beobachten ist, dass die an der Gestaltung des Schulwesens Beteiligten oft nur mit vagen Warnungen vor dem Einfluss der Welt in die Erziehungsarbeit eingreifen, ohne wirklich im offenen Gespräch über die Thematik zu diskutieren. Dabei bietet die Schule eine ideale Möglichkeit, dem Schüler im Identifizierungsprozess in seiner multikulturellen Umgebung behilflich zu sein. Vielleicht sind die im Schulwesen tonangebenden Personen oft zu sehr mit der Idealisierung des traditionellen bzw. fundamentalen, im Gegensatz zum fortschrittlichen, Erziehungswesens beschäftigt, anstatt sich auf die realen Bedürfnisse des Jugendlichen zu konzentrieren.
Ein weiteres Element, das wir in der Erziehungsarbeit in Russland, Kanada wie später auch in
Paraguay beobachten können, ist die Vermittlung von gewissen Verhaltensmustern. Diese Tatsache ist für relativ kleine Gemeinschaften nichts Unnormales, für eine freie Meinungsbildung des Jugendlichen jedoch entscheidend. Es wird ein bestimmtes Muster vermittelt, das sich z.B. auf das Verhalten der Kinder den Eltern, der
Gemeinde, der Umwelt gegenüber bezieht. Diese Vermittlung von „mennonitischen" Verhaltensmustern kann sich z.B. auf modische Kleidung, Kontakt mit Außenseitern und Andersdenkenden, Gemeindezugehörigkeit usw. beziehen. Die Vermittlung von Verhaltensmustern ist bestimmt notwendig, aber die Schüler in der heutigen Zeit verlangen mehr als nur Verhaltensmuster ohne die jeweiligen Begründungen. Man kann beobachten, dass dem Schüler manchmal zu wenig Werkzeuge vermittelt werden und dass ihm zu wenig Freiraum zur Verfügung steht, um sich eine eigene und selbstständige Meinung bezüglich seiner Umwelt zu bilden. Wie soll der Jugendliche lernen, sich mit gewissen kulturellen Inhalten zu identifizieren, wenn er es nicht lernt, sich ernsthaft mit diesen Dingen auseinander zu setzen und wenn er ständig mit unbegründeten Verhaltensmustern konfrontiert wird?
Hilfreich wäre für den Schüler auch eine klarere Definition des Begriffes „
Mennonit sein". Wenn Alfred Neufeld in seinem Vortrag auf einer Delegiertenkonferenz der MBG sagt „… dass sich bei uns mit dem Namen ´
Mennonit´ ein Mischmasch von Religion, Kulturtradition und Volkszugehörigkeit verbindet", so spiegelt diese Aussage wahrscheinlich wahrheitsgetreu die Realität wieder.
(24) Die heranwachsende Generation weiß aber mit diesem „Mischmasch von Religion, Kulturtradition und Volkszugehörigkeit" wenig anzufangen. Wenn dann noch weitere Elemente der paraguayischen und deutschen
Kultur hinzukommen, hat der Jugendliche zwar eine Menge Alternativen, die in Anspruch genommen werden können, aber auch eine zunehmende Unsicherheit, womit und in welcher Form er sich identifizieren soll. Für die leitenden Personen in der heutigen Erziehungsarbeit ist es wohl einfach, sich mit dem „Mennonitsein" zu identifizieren, weil sie selber hart daran mitgearbeitet haben, das ganze Schulwesen aufzubauen. Aber die junge Generation braucht in vielen Fällen nur noch zu genießen, was vorher aufgebaut wurde. Hinzu kommt bei der jungen Generation der starke Einfluss des Kapitalismus mit seiner Konsummentalität und die Globalisierung mit den jeweiligen Folgen, wo ganz andere Anforderungen an den heranwachsenden Menschen gestellt werden. Bei dem Jugendlichen sind Themen wie Internet, Mode, professioneller
Sport, Lebensgenuss,
Musik, Film, Professionalität in der Arbeit usw. an der Tagesordnung und weniger wie bei den Eltern gesicherter Lebensunterhalt, Gehorsam, Russlandgeschichten, „11. März – Geschichten", Viehfenz usw. Er weiß oft mit dem „Mennonitsein" der Eltern nicht viel anzufangen. Wenn der junge Student in
Asunción auf der Straße gefragt wird: ¿Vós sos un mennonita?…. kommt nach dem Petrusstil ein holpriges „no…sí…no… evangélico… paraguayo" usw. hervor. In diesem Zusammenhang wäre es doch hilfreich, wenn sich der Jugendliche mit einem klaren wiedertäuferischen Begriff vom „Mennonitsein", losgelöst von dem oben genannten ethnischen Mischmasch, identifizieren könnte. In der
Bildung einer klaren Vorstellung in dieser Frage könnte die
Gemeinde führend sein. Die Schulen dagegen würden sich mehr auf die Erarbeitung des kulturellen Wirkungskreises konzentrieren.
3.3. Zielsetzung des SchulwesensIn der allgemeinen Zielsetzung des mennonitischen Schulwesens in
Paraguay finden wir wieder Spuren aus Russland, die hier in ihrer zweifachen Form zum Vorschein kommen. Zum einen das traditionelle Erziehungssystem in der
Kolonie Menno bis zu den fünfziger Jahren, zum andern das fortschrittlichere Schulwesen in
Fernheim,
Friesland,
Neuland,
Volendam und später auch in
Menno. Im zweiten Fall war die Zielsetzung so wie in Russland, auf eine qualitativ gute Erziehungsarbeit gemünzt, und die „Religiosität" war, wie Cornies sie in Russland nennt, das höchste Ziel. Charakteristisch für die Zielsetzung des mennonitischen Schulwesens in
Paraguay ist, dass die Richtlinien in den wenigsten Fällen schriftlich fixiert sind. In
Menno gab es wohl die „Allgemeinen Schulregeln", aber in
Fernheim lagen anfänglich keine schriftlichen Schulstatuten vor. Tonangebend waren in der Zielsetzung die Kolonieverwaltung, als finanzieller Träger und Verwalter der Schule, und die
Gemeinde als Hüterin des inhaltlichen Bereiches der Erziehungsarbeit. Interessant ist auch, dass mehrmals dann mit der offiziellen Zielsetzung der Erziehungspolitik gearbeitet wurde, wenn man glaubte, dass der Einfluss von draußen zu stark wurde, so z.B. in
Fernheim 1945 nach dem Wirbelsturm der völkischen Zeit und neuerdings 1995. In den neunziger Jahren haben fast alle fortschrittlichen Schulen in den mennonitischen Kolonien ihre allgemeine Zielsetzung schriftlich neu definiert. Besonders aber auch in
Fernheim löste die neue Zielsetzung durch ihre angebliche Unausgeglichenheit Unbehagen aus.
(25)
Voraussetzung für eine bessere Definition der Identitätsfragen in der Erziehungspolitik würde die Offenheit in der Erarbeitung der Erziehungsziele von allen Beteiligten in diesem Bereich wie
Kolonie, Gemeinden und Erzieher sein. Wo keine Offenheit herrscht, werden auch keine klar definierten Anforderungen auf den Tisch gelegt. Die Zielsetzung des heutigen Schulwesens kann wohl auch weiterhin auf einer täuferisch-mennonitischen Basis, umgeben von deutschem und paraguayischem Kulturgut, aufgebaut werden. Es müsste aber auch den heutigen Umständen und Anforderungen Rechenschaft getragen werden, unter denen die zu Erziehenden doch ständig mit einer Konsummentalität und den Folgen der Globalisierung konfrontiert werden. In dieser Hinsicht werden sich auch die mennonitischen Schulen den neuen Anforderungen stellen müssen. Kriterien, die für eine aktuelle Zielsetzung in Betracht gezogen werden können, sind Offenheit, Kritik-, Kontakt-, Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit. Der effektivere Umgang mit diesen Kriterien, eingebettet in ein multikulturelles Verständnis, könnten dem Schüler eine Hilfe sein, seine eigene Identität zu finden und zu leben.
3.4. Spannungsfeld Schule – Gemeinde – KolonieDie enge Zusammenarbeit der Gemeinden mit den Schulen war charakteristisch für das mennonitische Schulwesen in Russland und wurde auch auf die Situation in
Paraguay übertragen. In den meisten Fällen kann es nicht so gesehen werden, dass sich die Schulen die Gemeinden als Kontrollinstanz wünschten. In
Menno dagegen wurde dieses Verhältnis zwischen Schule und
Gemeinde in den ersten Jahrzehnten des Bestehens mit viel Hingabe gepflegt. In der
Kolonie Fernheim bestand anfänglich durch die vorherrschende Not der Ansiedlung ein gutes Verhältnis zwischen den beiden genannten Institutionen, das während der völkischen Zeit abflaute und nach 1944 wieder stark von den Gemeinden und dem
MCC gefördert wurde. Der damalige Einfluss des
MCC hat wohl auch einiges zum fundamentalistischen Gedankengut in den mennonitischen Siedlungen beigetragen. Die Gemeinden sahen einfach die Notwendigkeit, nach Recht und Ordnung in der Schule zu schauen. Diese Überwachung des Erziehungsrahmens durch die Gemeinden hat bis heute in vieler Hinsicht, und nicht nur in
Fernheim, angehalten. Die Kolonieverwaltung machte sich wohl für den administrativen und finanziellen Bereich des Schulwesens verantwortlich, aber über den inhaltlichen Teil des Schulwesens wachten größtenteils die Gemeinden. Verstärkt wurde der Einfluss der
Gemeinde auch noch dadurch, dass eben auch immer eine gewisse Anzahl von Lehrern gleichzeitig
Prediger war und die große Mehrzahl der Lehrer Gemeindeglieder. Der Einfluss der Gemeinden soll hier auch nicht prinzipiell negativ gewertet werden.
Diese oft unausgeglichene Zusammenarbeit zwischen
Gemeinde und Schule hat immer wieder erhebliche Spannungen hervorgerufen, d.h. Konfrontationen zwischen den konservativ-kirchlichen und den progressiv-kulturellen Kräften.
(26) Die Mitbestimmung der Gemeinden im Schulwesen konnte man z.B. bei der Lehreranstellung, Beurteilung von Theaterstücken, Aufführung von Tänzen usw. beobachten. Der Einfluss der Gemeinden ist zum Teil in den letzten Jahren nicht mehr so stark, und auch besonders ein Außenstehender kann diese Dynamik nicht so leicht wahrnehmen und verstehen. So schreibt Jens Gehrmann „Innerhalb der Kolonien unterstehen die Schulen der Kolonieverwaltung, nicht den Gemeinden, und sie weisen in bezug auf ihre Infrastruktur und die jeweiligen Unterrichtsfächer einen hohen Grad an Modernität auf".
(27) Diese Aussage deutet auf einen reduzierten Einfluss der Gemeinden auf das Schulwesen hin und auf einen zunehmenden Säkularisierungsprozess im Schulwesen. Der Autor bezieht sich besonders auf das letzte Jahrzehnt.
Man kann aber auch beobachten, dass die Diskussionen über das Mitspracherecht der Gemeinden in der Erziehungsarbeit oft stark personenbedingt war. Dadurch, dass man die ganzen Dinge oft nur mit der „Fundamentalismus-versus-Fortschritt-Schablone" abdeckte, konnte in vielen Fällen keine produktive Zusammenarbeit erzielt werden. Die eine Seite wehrte sich gegen die „Offenheit des Liberalismus" und die anderen wollten sich vom „Joch der K.f.K."
(28) befreien. Heinz Dieter Giesbrecht spricht davon, dass die Gemeinden immer mehr Gefahr laufen, zu einer Volkskirche zu werden. Stattdessen sollten sie sich mehr auf die täuferisch-biblischen Werte wie „freiwilliges Leiden und Verzichten, Dienen, Sich aufopfern und Teilen" konzentrieren. Bei dieser Forderung kommt unwillkürlich die Frage auf, warum die Gemeinden so viel Energie in diesen Bereich investieren. Sie könnten ihre Vorstellungen über die Grundausrichtung der Erziehungsarbeit in offener und begründeter Stellung zum Ausdruck bringen und sich dann mehr um eine aktive und dynamische Gemeindearbeit bemühen. Interessant ist auch Neufelds Aussage zu dieser Thematik
„…Am Beunruhigsten knarrt es wohl aber doch im Gebälk unserer eigenen Gemeinden. Die mennonitische K.f.K., die in Zeiten von gegenseitiger Anfeindung oder auch in den Pioniersituationen eine hilfreiche Funktion ausübte, erweist sich zunehmend als ein Hindernis für dynamischen Gemeindeaufbau. Das liegt wohl nicht nur daran, dass sie sich im gewissen Sinn als Hüterin der Tradition versteht, sondern vor allem auch, weil sie als wachendes Auge die Christianisierung gewisser Gesellschaften und geografischer Ortschaften glaubt gewährleisten zu müssen. Diese Entwicklung wird widersprüchlicherweise begleitet durch einen zunehmenden Verlust von Autorität und Einfluss der Gemeinden in ihrem kulturellen Umfeld".
(29)Wo liegen wohl die Gründe dafür, dass die Gemeinden zunehmend an Autorität und Einfluss verlieren? In Anbetracht der oben angeführten Überlegungen wäre es bestimmt sinnvoller, wenn die Gemeinden nicht auf Grund von autoritärem Auftreten und sturen Beharren auf überkommenen Formen stark in der Erziehungsarbeit mitmischten, sondern sich an erster Stelle auf die aktive Gemeindearbeit konzentrieren würden. Sie könnten aber mit Hilfe eines offenen und aktiven Dialoges dazu betragen, den Identifizierungsprozess der zu Erziehenden zu fördern, besonders auch in der Definition der Glaubensbasis für die Erziehungsarbeit. Die
Gemeinde könnte die charakteristischen Merkmale eines täuferischen Mennoniten in einem realistischen Zusammenhang mit den heutigen Umständen erarbeiten, wobei man auch eine besondere Anstrengung machen müsste, über den Kolonierahmen hinaus zu schauen. Wenn dem Jugendlichen ein von der
Gemeinde klar definiertes Konzept bezüglich „Mennonitsein" zur Verfügung steht, wird er sich auch besser mit diesem Bereich identifizieren können. Für ihn müssen das persönliche Verhältnis mit dem dreieinigen Gott, die Gemeindezugehörigkeit durch die Glaubenstaufe und der Pazifismus dynamische Begriffe werden, um sich damit identifizieren zu können. Solange es aber bei der Vermittlung von unbegründeten Formen und Verboten bleibt, wird kein tief gehender Identifizierungsprozess stattfinden und es wird weiter im „Gebälk der Gemeinden knarren". Der Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit müsste der offene Dialog und gegenseitiges Vertrauen sein.
3.5. Ausgeglichene IntegrationDie wohl größte Herausforderung des mennonitischen Schulwesens in
Paraguay in der heutigen Zeit ist eine ausgeglichene Integration in das nationale Umfeld, ohne dabei das deutsche Kulturgut und die täuferisch-mennonitische Basis zu verlieren. Auch in Russland kann man in den letzten Jahrzehnten des Daseins der Mennoniten eine zunehmende Integration, wenn oft auch durch äußeren Druck, beobachten. Die Integration des Schulwesens in
Paraguay wird wohl wie weiter oben erklärt, auf einem dreischichtigen Fundament beruhen: mennonitische, deutsche und paraguayische Bausteine. Wenn diese Steine sachgerecht ineinander gefügt werden, können sie ein stabiles Fundament abgeben. In allen drei Fällen ist ein kritisches Auseinandersetzen mit dem jeweiligen Kulturgut erforderlich. Sonst bleibt es bei einer oberflächlichen Kenntnis deutschen Biers und Sauerkrautes, Michael Schuhmacher und Schlagerparade. In
Paraguay kennen wir dann nur
Korruption, Faulheit, Fälschung und Mau-Autos. In dieser Hinsicht haben wir einen weiteren Punkt, dem in Zukunft noch mehr Rechenschaft getragen werden muss. Die Erziehung des Schülers zu einem mündigen Staatsbürger hin, der sich seiner Rechte und Pflichten bewusst ist. Dazu müsste der „Educación Cívica – Unterricht" für die mennonitischen Bedürfnisse sachgerechter ausgebaut werden. Dies kann dann natürlich wiederum dazu führen, dass man in Zukunft noch mehr aktive, aber vielleicht besser vorbereitete Politiker aus den eigenen Reihen gewinnt.
Wenn sich die kulturelle Entwicklung der Mennoniten in Russland durch eine Verwandlung von einer Kult- zu einer Kulturgemeinschaft hin charakterisierte, so gibt es auch immer wieder Ansätze unter den
Mennoniten in Paraguay, die täuferisch-mennonitischen Glaubenselemente von der ethnisch-kulturellen Umwelt zu trennen. Dieses Bestreben ist aber durch die gegebenen Umstände sehr schwierig oder vielleicht sogar unmöglich. In dieser Hinsicht wäre es leichter, die jeweiligen Bereiche klarer zu definieren, statt sie voneinander trennen zu wollen. Man kann und müsste wohl eine Anstrengung unternehmen, sich mehr vom Begriff des ethnischen Mennonitentums zu distanzieren, um auch Offenheit für nicht deutschstämmige Mennoniten und Glaubensbrüder zu zeigen. Denn die Tatsache, dass die deutschstämmigen Mennoniten zahlenmäßig auf fast gleicher Höhe mit den nicht deutschstämmigen
Mennoniten in Paraguay stehen, sollte schon Grund zum Nachdenken geben. Eine immer intensivere Begegnung mit den nicht deutschstämmigen Mennoniten, heute schon 13.000 – 14.000 Gemeindeglieder, wird zwangsläufig erfolgen müssen. Wenn aber die deutschstämmigen Mennoniten, die Mennoniten aus einem anderen kulturellen Umfeld bewusst nicht ernst nehmen, erscheinen auch sie nicht mehr glaubwürdig.
Diese Umstände erfordern eine verstärkte Begleitung der Jugendlichen bei der Suche nach ihrer Identität. Es erfordert aber auch viel Wissen, Verständnis und Geschicklichkeit von Seiten der Erzieher, mit dieser komplexen Situation sachgerecht umzugehen, ein Begleiten, das wohl weniger aus Worten und mehr aus dem praktischen Vorleben der Erwachsenen bestehen könnte. Außerdem beinhaltet die Suche nach der eigenen Identität auch immer die Suche nach Lebenswerten. Diese findet man in der Regel erst auf Grund gewisser Erfahrungen und einem längeren Reifeprozess. Doch eine offene, kritische, objektive, reflexive, flexible, kreative, aber auch standfeste Auseinandersetzung mit dem täuferisch-mennonitischen und dem deutschem Erbe, eingebettet in die paraguayische
Kultur, werden uns und den nächsten Generationen die Möglichkeit bieten, sich mit diesem Erbe zu identifizieren, um es in einer pluralistischen Gesellschaft bewusst zu pflegen.
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- Neubert, Sönke. Etappen der täuferischen Bewegung an zwei Beispielen. 1. Die Anfänge der Mennoniten im 16. Jahrhundert. 2. Die Mennoniten in Paraguay heute. München, Ludwig-Maximilians-Universität München, 1999.
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- Neufeld, Alfred. Gemeinde der Glaubenden oder mennonitische Volksgemeinschaft. Ethnokonfessionalität als mennonitisches Problem. Vortrag gehalten auf einer Delegiertenkonferenz der Vereinigung der Mennoniten Brüdergemeinden Paraguays. Blumental, Fernheim, 27. Januar 2001.
- Walde, Kornelius. Los Mennonitas en el Paraguay. Folleto informativo. 1984. Pp. 6.
Fussnoten:
| Lic. Hans Theodor Regier, Studium der Geschichte an der nationalen Universität in Paraguay. Gegenwärtig als Lehrer an der Sekundarschule in Friesland tätig und zugleich Arbeit an einer Dissertation. |
| Fröse, Leonhard. Das pädagogische Kultursystem der mennonitischen Siedlungsgruppen in Russland. Göttingen, 1949. S. 181. |
| |
| Warkentin Dr. Jakob. Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur– und Entwicklungspolitik. Waxmann Verlag GmbH, Deutschland, 1998, S. 444. |
| Fröse, Leonhard. Das pädagogische Kultursystem der mennonitischen Siedlungsgruppen in Russland. Göttingen, 1949. Anhang S. 12 ff. |
| Ebd., S. 106. |
| Ebd., S. 79 ff. |
| Hack, Hendrik. Die Kolonisation der Mennoniten im paraguayischen Chaco. Königliches Tropeninsitut, Amsterdam, 1961, S. 170 ff. |
| |
| Hack, Hendrik. Die Kolonisation der Mennoniten im paraguayischen Chaco. Königliches Tropeninsitut, Amsterdam, 1961, S. 19. |
| Quriring Dr. Walter. Deutsche erschließen den Chaco. Karlsruhe. Verlag Heinrich Schneider, 1936, pp. 173. |
| Ebd., S. 176. |
| |
| |
| |
| Warkentin, Dr. Jakob. Vortrag auf einer MennCoSur – Tagung in Menno am 17. August 2000 gebracht. |
| Warkentin, Dr. Jakob. Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur– und Entwicklungspolitik. Waxmann Verlag GmbH, Deutschland, 1998, S. 229 ff. |
| Ebd., S. 229 ff. |
| |
| Ebd., S. 277 ff. Bemerkung: Es werden einige Auszüge zitiert. |
| Ebd., S. 282. |
| Die Lehrer Peter Wiens und Peter P. Klassen fuhren 1952 mit der finanziellen Unterstützung des MCC nach Basel für ein Weiterstudium. |
| Ratzlaff, Gerhard. Ein Leib – viele Glieder. Die mennonitischen Gemeinden in Paraguay. Asunción, Gemeindekomitee, 2001, S. 348. |
| Neufeld, Alfred. Gemeinde der Glaubenden oder mennonitische Volksgemeinschaft. Ethnokonfessionalität als mennonitisches Problem. Vortrag gehalten auf einer Delegiertenkonferenz der Vereinigung der Mennoniten Brüdergemeinden Paraguays. Blumental, Fernheim, 27. Januar 2001. |
| Siehe dazu auch die Arbeit von Edgar Neufeld: Neufeld, Edgar. Erziehungsziele in der Kolonie Fernheim. Eine historische und theologische Analyse. Asunción, Instituto Bíblico de Asunción, 1995, S. 118. |
| |
| Gehrmann, Jens. Modernisierung und Tradition. Sozialer Wandel bei den Mennoniten in Paraguay. Mennonitische Geschichtsblätter. Mennonitischer Geschichtsverein, Deutschland, Jahr 2000, S. 118 |
| |
| Neufeld, Alfred. Gemeinde der Glaubenden oder mennonitische Volksgemeinschaft. Ethnokonfessionalität als mennonitisches Problem. Vortrag gehalten auf einer Delegiertenkonferenz der Vereinigung der Mennoniten Brüdergemeinden Paraguays. Blumental, Fernheim, 27. Januar 2001. |
Konfesionelle Komponente der mennonitischen Identität in Paraguay
Dr. Alfred Neufeld
Einleitung:
Das mir gestellte Thema ist anspruchsvoll. Geht es doch von einigen Vorüberlegungen aus, deren Richtigkeit, bzw. Beweisbarkeit, anfechtbar ist. Erschwert wird die Bewältigung des Themas auch durch die Frage nach dem Gesamtansatz: eine soziologisch-empirische Annäherung kommt sicher zu anderen Resultaten als eine theologisch-pastorale. Den Historiker interessiert das, was ist und war, den Theologen das, was sein soll. Dieser Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann ich mich persönlich nicht entziehen, besonders weil mich seit langem Theologie und Sozialwissenschaften in gleicher Weise interessieren und für meinen Lehrauftrag bedeutsam sind.
Aus der soziologisch-empirischen Perspektive ist es durchaus sinnvoll, das Phänomen `
Mennoniten in Paraguay‘ mit so etwas wie einem Schiff auf Reisen zu vergleichen. So etwa tut es Gerhard Ratzlaff in seinem neuen, sehr lesenswerten Gemeindebuch am Ende unter der Kategorie: „Rückblick und Ausblick:
Gemeinde im Wandel der Zeit". Da heißt es zur Etappe 1960 bis 1990:
„Ein `mennonitisches Reich’ ist im Entstehen, und die Missionsbehörden und das MCC, die zu diesem Aufbau so viel beigetragen haben, nutzen die Gelegenheit, sich aus ihrer direkten Verantwortung für die Mennoniten Paraguays zurückzuziehen. Eine zweite Generation der Mennoniten in Paraguay hat das Ruder des mennonitischen Schiffes in die Hände genommen: geistlich, kulturell und wirtschaftlich".
(2)Wirtschaft,
Kultur und Glaube, diese drei `Säulen’ werden gern als die tragenden Elemente eines Mennonitentums in
Paraguay identifiziert.
Allerdings deutet Ratzlaff auch behutsam an, dass dieses mennonitische `Schiff’, das von den drei Rudern Wirtschaft,
Kultur und
Gemeinde gesteuert wird, seit 1990 in die Gewässer einer neuen Epoche gleitet – `Die Epoche ab 1990′.
(3) Und dann schildert er ein Panorama, das wohl am besten mit dem Stichwort `Eine Gesellschaft im Umbruch’ zusammenzufassen ist.
I. Zur Problematik des Themas
Die drei Vorentscheidungen, die ich im Thema wahrnehme, sind folgende:
– Das Mennonitentum in
Paraguay hat eine konfessionelle Komponente.
– Es gibt so etwas wie eine mennonitische Identität in
Paraguay.
– Die Mennoniten sind wir, d.h. wir deutschsprachige Nachfahren russlanddeutscher Einwanderer.
Alle drei Voraussetzungen erscheinen mir im positiven Sinn `fragwürdig’, d.h. `würdig’, dass man in diesen drei Bereichen weitere Fragen stellt.
Bei der Frage der konfessionellen Komponente geht es sicherlich um so etwas wie `tragende theologische Kräfte’, oder vielleicht sogar ein `täuferisches Leitbild in
Paraguay‘. Konfession hat ja mit Bezeugen und mit einem kurz zusammengefassten, schriftlich fixierten Glaubensbekenntnis zu tun. Inwiefern man Glaubensbekenntins als Komponente einer kulturellen Identität bezeichnen kann, sei dahingestellt. Auf alle Fälle ist man sich heute in den Kulturtheorien darin einig, dass Glaube, Weltanschauung und Alltagskultur miteinander eng verwoben sind. Insofern ist der christliche Glaube durchaus kulturfördernd, nicht nur was Kirchenkultur betrifft, sondern auch Bildungskultur, Wirtschaftskultur, Alltagsbewältigungs-
Kultur. Von der biblischen Theologie her können wir den Glauben an Jesus Christus nicht als eine Komponente, sondern bestenfalls als die alles bestimmende Komponente betrachten.
2. Über mennonitische Identität zu referieren ist ein undankbares Unternehmen. Christoph Wiebe, der in einem Brücke-Artikel über die Wechselwirkung und die gegenseitige Begrenzung von Geschichte, Theologie und Empirie nachsinnt, bezeichnet Identität als einen `unhandlichen’ und `problematischen’ Begriff.
„Was ist mit Identität eigentlich gemeint? Der Begriff ist umgangssprachlich geworden – und völlig entleert. Wer probehalber auf dieses Wort verzichtet, wird merken, dass er auf Anhieb klüger denkt und schreibt".
(4)
Denn Identität kann nicht `sozusagen beim Namen gerufen werden’. Sie ist nicht `ausrufbar und abfragbar als Kurzformel’. Für den europäischen Kontext gibt er dann aber drei grundlegende Hinweise:
„1: Wer von Identität spricht, muss das so tun, dass deutlich wird: Identität ist nicht etwas Statisches, Identität kann sich verändern. …
2: Wer von mennonitischer Identität spricht, müsste unterscheiden und jeweils deutlich machen, ob er das in Bezug auf eine Person, eine Gemeinde oder bezogen auf die `deutschen Mennoniten’ tut".
Auf die Frage, wie man denn überhaupt von Identität reden könne, antwortet Wiebe:
„Nur indirekt, nämlich in dem wir unsere Geschichte erzählen. Identität ist eingekapselt in Geschichte. Anders ist sie nicht zu haben. Wir können sie nicht herausdestillieren und begrifflich machen".
(5)
Mit Wiebes Überlegungen wird deutlich, was schon oben von der Spannung über Theologie und Sozialwissenschaften angedeutet wurde: christliches Glaubensbekenntnis fußt auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus, die Identität der bekennenden
Gemeinde ist aber historisch gewachsen.
3. Die dritte Frage unseres Themas ist schlicht und einfach folgende: Von wem reden wir, wenn wir von den
Mennoniten in Paraguay reden? Wessen Geschichte erzählen wir, um identitätsprägende Kräfte herauszustreichen?
Ist es die Geschichte meines Großvaters Kornelius Neufeld, der 1929 als Gutsbesitzer aus der Omsker Gegend über Moskau floh und in
Paraguay ein
neues Leben begann mit dem historisch gewachsenen Vorsatz, nie mehr für andere Leute Geld zu sparen? Im
Chaco machte er ein Gästehaus auf und hatte die Ehre, auch Harold S. Bender und Orie Miller zu bewirten. Er war mitbeteiligt an der Gründung der ersten Molkerei und war viele Jahre verantwortliches Kirchenrat-Mitglied der
Mennonitengemeinde Filadelfias. Peter P. Klassen hat in seinem lesenswerten Buch über mennonitische Fluchten und
Wanderungen seine Geschichte anschaulich nacherzählt.
Oder ist es die Geschichte meines Lengua-indianischen Freundes Cornelio Fröse, bei dem ich als 15-jähriger Gärtnerlehrling einen `Christlichen Dienst’ in
Yalve Sanga machte? Er lehrte mich, Rosen zu okulieren und Obstbäume zu pflanzen. Er erzählte mir mit glänzenden Augen, wie er als einer der ersten sieben Lenguachristen auf seinen Glauben getauft wurde und wie sie im
Chaco eine mennonitische Indianergemeinde im Rahmen ihrer eigenen
Kultur gegründet hätten. Von ihm erfuhr ich auch aus erster Hand von ihrem echt täuferischen Bemühen, sich mit ihren historischen Feinden, den
Ayoreos im Norden, auszusöhnen. Er war dabei, als die Freundschaftskontakte geschlossen wurden, er half dem verwundeten Missionar Isaak den Indianerspeer zu entfernen. Er hatte seine Jagdflinte zur Hand, aber er schoss nicht auf den Ayoreomörder.
Ist es angebracht, die Geschichte von Adolfo Lovera zu erzählen, der immer davon überzeugt war, dass `Lovera’ auch ein mennonitischer Name sei? Seine Eltern hatten sich schon vor seiner Geburt getrennt. Seinen Vater suchte er im argentinischen Tatané auf, als Adolfo selbst schon schwer krebsleidend war. Dort sah er ihn zum ersten Mal und erfuhr, warum der Vater die minderjährige, schwangere Mutter verlassen hatte und in Argentinien untergetaucht war. Adolfo selbst war über Kontakte zur
Albert Schweitzer Schule in
Asunción zum Glauben gekommen. Er baute gemeinsam mit Hans Pankratz und Theo Loewen eine spanisch-mennonitische junge
Gemeinde auf. Als Rallyefahrer, als Automechaniker in seiner Werkstatt, als Beauftragter für das Missionsprogramm seiner
Konferenz, als persönlicher Freund, ließ er keine Gelegenheit entgehen, sich klar als
Mennonit zu identifizieren. Als er mit knapp 40 Jahren an Blutkrebs starb, bat er, ihm im Sarg seine verschlissene
Bibel auf die Brust zu legen. Sie sollte geöffnet sein bei jenem Vers aus dem Johannesevangelium, wo er von Gottes Liebe zu dieser Welt spricht, eben gerade auch der Welt außerhalb der engen mennonitischen Mauern. Seither werde ich den Gedanken nicht los, dass Lovera eigentlich auch ein legitimer, alteingesessener mennonitischer Name werden müsste.
(6)
Oder müssen wir bei mennonitischer Identität und `konfessioneller Komponente’ an meinen anderen Freund Adolf, meinen Verwandten und Mitbruder in der Lokalgemeinde Asuncións denken? Er wurde ohne seine Einwilligung in den späten dreißiger Jahren nach einem andern damals prominenten Adolf benannt. Er war einer dieser freiheitsliebenden, jungen Chacomennoniten, der sehr bald bei den
Pax-Boys Englisch und bei seinen paraguayischen Freunden Spanisch und Guaraní lernte. Ihn zog es in die Landeshauptstadt. Dort half er intensiv mit, Chor und Gesang in der
Gemeinde zu fördern, die mennonitische Concordia Schule zu gründen, eine gemeinschaftsorientierte Krankenkasse und Autoversicherung aufzubauen, die deutsche Sprache zu fördern und den entfernten Kolonien mit seinem Flugzeug Notfallsdienste zu leisten.
Von wessen Identität reden wir, wenn wir von mennonitischer Identität in
Paraguay reden? All diese Geschichten können hier nicht erzählt werden, obwohl sie alle erzählt werden sollten! Ansatzweise hat uns Gerhard Ratzlaff in „Ein Leib viele Glieder, die mennonitischen Gemeinden in
Paraguay", einen wichtigen Weg gewiesen, wenn er in der Einleitung schreibt:
„Darüber hinaus möchte das Buch auch zu gegenseitigem Verständnis der sehr verschieden gearteten Gemeinden in Paraguay beitragen. Im Mittelpunkt des Buches stehen die deutschsprachigen Gemeinden, der Vollständigkeit halber musste aber auch eine kurze Einführung in die indianischen und spanischsprachigen Gemeinden gegeben werden".
(7)Was hier noch beinahe als eine Entschuldigung, `der Vollständigkeit halber’, erwähnt wurde, muss in Zukunft Normalfall werden, wollen wir von mennonitischer Identität in
Paraguay reden. Und auch die Selbstverständlichkeit, mit der von den deutschsprachigen Gemeinden als dem `Mittelpunkt’ geredet wird, ist revisionsbedürftig.
Für unsere historische Fragestellung zur konfessionellen Komponente mennonitischer Identität möchte ich trotzdem auch den Fehler begehen und mich auf das Einwanderer-Mennonitentum und seine Gemeinden beschränken, und da wieder stärker auf die russlanddeutsche Einwanderung in den
Chaco, wie sie sich gemeindemäßig besonders in meiner Heimatkolonie
Fernheim entfaltet hat. Das Chacomennonitentum ist eben zu einem gewissen Teil `Wiege’ und `Flaggschiff’ mennonitischer Initiativen, mennonitischer Identität und mennonitischer Konfessionalität in
Paraguay gewesen:
– Ratzlaff weist nach, dass hier die sogenannte K.f.K. am fruchtbarsten gearbeitet hat.
– Hier wurde der erste Missionsbund, nämlich
Licht den Indianern, gegründet.
– Im
Chaco hat die mennonitische Bibelschulbewegung begonnen.
– In
Fernheim landeten 1937 auf dem Erdnussfeld die identitätsprägenden mennonitischen Persönlichkeiten, Harold S. Bender und Orie Miller. Hier bezeichnete der altmennonitische Missionar Snyder im
Filadelfia-Gottesdienst 1944 die Nazi-Ideologie als die `Syphilis des Geistes’. Hier versöhnte der Brüdergemeinde-Patriarch B.B. Janz aus Kanada die im Jahr 1947 gespaltene MB-
Gemeinde. In
Filadelfia diskutierte John H. Yoder im Auftrag des mennonitischen Friedenskomitees mit den lokalen Predigern täuferische Friedenstheologie.
– Wichtiger noch als der Besuch von mennonitischen theologischen Größen im
Chaco ist wohl die Tatsache, dass vom
Chaco aus die mennonitisch-missionarische Präsens in
Asunción und Ostparaguay in die Wege geleitet wurde: Von hier aus wurde
Km 81 gegründet, hier wurden die Missionare Albert Enns, Rudolf Plett, Hans Wiens u.a. für ihren Dienst in Ostparaguay ausgesandt. Von hier aus wurde die missionarische Ausstrahlung des `mennonitischen Missionskomitees für
Paraguay‘ getragen und gefördert.
– Vom
Chaco aus wurde das allgemeine Schulwesen gefördert und erneuert und zuerst in den nationalen Rahmen integriert. Hier hat das gemeinsame
Lehrerseminar über viele Jahrzehnte hinweg Führungskräfte hervorgebracht.
II. Die historische Suche nach einem täuferischen Leitbild und `konfessionelle Komponenten’ im Mennonitentum Paraguays
A. Geschichte der GeschichtsschreibungSowohl die Geschichtsschreibung des Täufertums als auch die Suche nach der `theologischen Mitte’ haben eine lange Geschichte. John H. Yoder hat die `Etappen der Historiographie der radikalen Reformation’ brillant zusammengefasst in seiner Einführung zur spanischen Sammlung von Täuferquellen.
(8)
Er unterscheidet grundsätzlich fünf Epochen der Geschichtsschreibung: in der ersten Etappe werden die
Täufer von der offiziellen Geschichtsschreibung katholischer und evangelischer Seite allgemein negativ dargestellt und als Schwärmertum identifiziert.
Die zweite Etappe beginnt mit positiven Selbstdarstellungen, wie sie in den ersten Märtyrergeschichten (Michael Sattler), der Hutterer-Chronik und Thieleman van Braaght’s `
Märtyrerspiegel‘ gegeben sind. Diese Interpretationslinie, die stärker die leidende
Gemeinde an der Peripherie der Gesellschaft darstellt, wird weiter geführt durch Gottfried Arnold, Walter Nigg und neuerdings Juan Driver.
(9)
Die dritte Etappe der täuferischen Geschichtsschreibung nennt Yoder die `wissenschaftliche Revision’, die Ende des 19. Jahrhunderts begann und sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erstreckte. Sie identifiziert nach `Genetik’ und `Typologie’ dreizehn verschiedene Bewegungen bzw. Typen im Täufertum des 16. Jahrhunderts und
macht deutlich, dass man beim Täufertum nicht von einer homogenen Einheit reden kann.
Die vierte Etappe ist verbunden mit den Namen Neff, Hege, Horsch und Bender und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es entstehen das mennonitische Lexikon, die mennonitischen Geschichtsblätter, das Mennonite Quarterly Review. Es entsteht das `täuferische Leitbild’ von Harold S. Bender, eine theologische Neuinterpretation, die den mennonitischen Gemeinden des 20. Jahrhunderts geholfen hat, sich im Rahmen der christlichen Gesamtkirche zu platzieren und andererseits erneuernd auf die eigene
Tradition zu wirken.
(10)
Die fünfte Etappe der täuferischen Geschichtsschreibung ist für Yoder, der seinen Bericht Mitte der siebziger Jahre abbricht, noch offen. Er vermutet eine stärkere soziologische Vereinnahmung der Täuferforschung, wie sie mit Ernst Bloch und dem neomarxistischen Interesse an Thomas Müntzer eingeleitet wurde.
B. Die Suche nach der theologischen MitteSchon die Etappen der täuferischen Historiographie beweisen, wie gerne und leicht man eigene Voraussetzungen, momentane kirchenpolitische Agenda oder aber theologische Idealtypologie in die Kirchengeschichte hineinliest. Andererseits gilt, was Karl Barth einmal über die
Bibel gesagt hat: `Wer nichts in die Geschichte hineinliest, wird auch nichts herauslesen’.
Für den Theologen ist der `theologische Beitrag’, oder, um es mit den Worten unseres Themas zu sagen, die `konfessionelle Komponente’ des Täufertums noch wichtiger als die wandelnde Geschichtsschreibung. Yoder selbst sieht historisch begründet drei typisch täuferische Achsen theologischen Denkens. Sie kommen aus dem Bereich der Gemeindelehre, der Hermeneutik und der politischen Ethik.
Das Neue an der täuferischen Gemeindelehre sei gelebte Gemeinschaft, gekennzeichnet durch eine Gemeinschaft der Freiwilligen, Gemeinschaft ökonomischer Güter, transnationale missionarische Gemeinschaft, lokale kongregationale Gemeinschaft und nach der `Regel Christi’ geordnete Gemeinschaft.
2. Die neue täuferische Hermeneutik ist gekennzeichnet durch Treue zu Christus, durch eine historisch begründete Priorisierung des Neuen Testaments vor dem Alten, durch Gemeinschaftshermeneutik, an der alle Gläubigen mitbeteiligt sind, durch kritische Hermeneutik gegenüber dem Zeitgeist und dem kulturellen Umfeld und durch offene Hermeneutik, die die Gemeindereform als niemals abgeschlossen ansieht.
3. Die täuferische politische Ethik ist nach Yoder durch drei Freiheiten gekennzeichnet: Freiheit der
Gemeinde gegenüber staatlichen Institutionen, Freiheit des Staates gegenüber kirchlichen Institutionen und Freiheit des Christen von der Gewalttätigkeit.
Sucht man nun aber noch präziser nach der theologischen Mitte oder nach dem `täuferischen Leitbild’, so ist es auch hier faszinierend, die täuferische Theologiegeschichtsschreibung nachzuvollziehen. Bainton und Wenger haben noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Täufertum grundsätzlich dem Protestantismus zugeordnet und es als einen radikalen Protestantismus oder eben den `linken Flügel der Reformation’ bezeichnet. Man war mit den Reformatoren im sola scriptura, in der Abschaffung der Sakramente und in der Forderung eines puritanisch-asketischen Lebensstiles einig. Mit Zwingli hielt man zu einer symbolischen Deutung von
Taufe und
Abendmahl. Mit Erasmus von Rotterdam lehnte man die schroffe Prädestinationslehre zu Gunsten der menschlichen Selbstverantwortung ab.
(11)
Seit 1962 setzt sich die These des Harvard-Professors George H. Williams durch, dass es sich beim Täufertum um einen eigenen Stil von Reformation handelt, nämlich um die radikale Reformation. Williams sieht das Täufertum als einen eigenständigen dritten Typus von Reform neben der protestantischen Reformation einerseits und der katholischen Gegenreformation andererseits. Diese Interpretationslinie, die Walter Klassen als `weder katholisch noch protestantisch’, sondern eben freikirchlich bezeichnet hat, setzt sich zunehmend in der neueren Täuferforschung durch und kann uns auch hier in
Paraguay nachdenklich stimmen.
Robert Friedmann gibt einen guten Überblick über die Suche nach einer theologischen Mitte im Täufertum: 1933 schlug Ethelbert Stauffer vor, das Täufertum unter dem zentralen Gesichtspunkt einer Theologie des Martyriums zu verstehen. Johannes Kühn (1923) und Harold S. Bender (1944) sahen im Stichwort
Nachfolge das Wesen des Täufertums zusammengefasst. Vielfach ist der Biblizismus oder aber das Konzept von
Gemeinde der Gläubigen als tragender Gedanke empfunden worden. Neuerdings hat Hans-Jürgen Goerz vor allen Dingen im Antiklerikalismus eine treibende Kraft des Täufertums gesehen.
(12)
Friedman selbst hat behauptet, dass das Täufertum keine explizite, sondern eine implizite Theologie besaß, die er als existenzielles Christentum gekennzeichnet hat. Solch existentielles Christentum weigert sich, systematisiert zu werden und äußert sich in typisch täuferischen Redewendungen wie „lebendiger Glaube", „Einfalt des Herzens" oder „Kraft in Anfechtung".
(13)
Zweifellos hat Harold S. Benders kleine Schrift „Das täuferische Leitbild’" (The Anabaptist Vision, 1944) am stärksten die Täufertheologie des 20. Jahrhunderts geprägt. An diesem Leitbild haben unzählige mennonitische Gemeinden und theologische Seminare versucht, ihre Theologie neu zu konzipieren. Neben der schon genannten
Nachfolge als Zentrum der Täufertheologie sieht Bender zwei weitere Brennpunkte, nämlich Gemeindeprinzip und Friedensethik. Die Benderschule ist neuerdings vielfach unter Kritik geraten, wie ich an anderer Stelle zusammenzufassen versucht habe.
(14)
Seit Kurzem ist über die
mennonitische Weltkonferenz ein weltweiter neuer Prozess in Gang gekommen, um so etwas wie eine `mennonitische Metatheologie’ zu formulieren. Im Auftrage der Kommission für Glauben und Leben hat C. Arnold Snyder ein Büchlein verfasst, das möglicherweise eine zukunftsweisende Synthese für die weltweite mennonitische
Bruderschaft, besonders aber für die dynamischen Mennoniten-Gemeinden der Dritten Welt, Asien, Afrika und Lateinamerika werden kann. Dieses Dokument „De Semilla Anabautista: El núcleo histórico de la identidad anabautista" wurde vom Präsidium der mennonitischen Weltkonferenz in Guatemala 1999 gutgeheißen, ergänzt und allen mennonitischen Gemeinden als Leitfaden empfohlen.
C. Theologisch-historische Kräfte, die die Identität der Mennoniten in Paraguay mitgestaltet haben 1. Der historische Trend zu Volkskirche und VolksmennonitentumWir haben festgestellt, dass die weltweite
Bruderschaft mennonitischer Gemeinden erneut an so etwas wie einem gemeinsamen theologischen Leitbild arbeitet. Es muss auch hinzugefügt werden, dass diese Anstrengungen besonders von den jungen täuferischen Gemeinden der südlichen Hemisphäre, etwa Äthiopien, Indonesien, Kolumbien, Kongo, Korea ausgehen. Hier wird vielfach ein Wiedertäufertum erster Generation erlebt, und die Gemeinden werden ähnlich der
Täufer des 16. Jahrhunderts an die Peripherie der Gesellschaft gedrängt.
Für die russlanddeutschen mennonitischen Einwanderer in
Paraguay sieht das Bild allerdings anders aus. Sie sind direkte Nachfahren jenes `mennonitischen Gemeinschaftswesen’ und jener `mennonitischen Kirchenform’, wie sie in den mennonitischen Kolonien Südrusslands entfaltet wurde. Teilweise ist ja damals eine sehr eigene Form von Volkskirchentum entwickelt worden, wie Robert Kreider eindrücklich nachweist:
„A mayor thesis of this study is that the Mennonite Church in the Russian Mennonite environment moved in the direction and exhibited many of the characteristics of the Volkskirche or what the English call the `parish pattern of church’. Some sociologists speak of a continuum of development and gradual differentiation from the sect-type on the extreme left to the fully developed institutional church-type on the extreme right. Viewed sociologically one discerns such a trend – not as an immutable law, but as a general tendency. But viewed on the theological level, a radical discontinuity exists between the brotherhood and the institutional or parish type of church, but between which there is always involvement and tension".
(15)Also, nach Kreider, das aus der Geschichte bekannte Phänomen: Extreme berühren sich! Die Nachkommen jener Christen, die auf Grund ihrer Ablehnung zum Volkskirchentum Heimat- und Zivilrechte in Mitteleuropa verloren hatten, entfalteten letztendlich ihren eigenen Typus von der Synthese von Glaubens-, Volks- und Schicksalsgemeinschaft auf der Basis eines begrenzten geographischen Territoriums.
2. Erweckungsbewegungen in Südrussland und die Theologie der Mennoniten Brüdergemeinden Es ist heute klar, dass die Erweckungsbewegungen in den mennonitischen Gemeinschaften in Südrussland in der Mitte des 19. Jahrhunderts größer waren als die damals entstandende MB-
Gemeinde. Und sie waren mit Sicherheit Teil der gesamten `Revivals’, wie sie in Amerika, England und Kontinentaleuropa vorkamen. Für unsere Fragestellung ist es jetzt bedeutsam festzustellen, dass sich gerade die Gründungsväter der MB-Gemeinden vor 140 Jahren ernsthaft und theologisch wegweisend mit dem Problem des `mennonitischen Völkleins’ auseinandergesetzt haben.
In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Kornelius Krahn wertvoll, wenn er behauptet, dass die Erneuerungsbewegung der MB-
Gemeinde 1860 viele Parallelen zur ursprünglichen Täuferbewegung 1525 aufweist.
„In this radicalism, the new movement consciously felt itself related to 16th Century Anabaptism. It did not want to be Pietistic, nor Baptist, but rather Mennonite. It wanted to be and remain historical, consistent Mennonitism, a pure Mennonitism that was based not upon birth, but rebirth".
(16)
Dass die MBs, wie die meisten Erneuerungsbewegungen, auch eine Reihe Dummheiten und Leichtsinnigkeiten begangen haben und manche Zänke und Konflikte weiser hätten lösen können, soll hier allerdings nicht verschwiegen werden. Eine Reihe dieser Fehlentwicklungen wurde ja 1865, in der sogenannten `Juni-Reform’, aufgearbeitet und korrigiert.
Welches sind nun die spezifischen MB-Beiträge zu unserer Problematik? Ich meine, sie haben vor allen Dingen damit zu tun, den Schwerpunkt vom `Volksmennonitentum’ auf die Priorität der
Gemeinde hin zu verlagern:
a. Die MBs waren eine zukunftsorientierte und weltoffene Erneuerungsbewegung. Sie wirkten gleichzeitig modernisierend und progressiv und waren doch eine Rückbesinnung auf die Wurzeln, sowohl des Täufertums als auch des neutestamentlichen Gemeindebegriffs. Dadurch, dass sie mit dem Ältestensystem brachen, schafften sie Raum für eine Reihe junger Führungskräfte und ihre Entfaltung. Dadurch, dass sie aus der christlichen Schulbewegung erwuchsen, haben sie immer
Bildung und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem kulturellen Umfeld gefördert. Dadurch, dass sie mit der alten mennonitischen Liturgie brachen, entwickelten sie neue, dynamische und beinahe charismatische
Gottesdienstformen. Dadurch, dass sie von der vereinten
Macht von Kolonieverwaltung und Ältestenschaft unter Druck gesetzt wurden, brachen sie definitiv mit dieser untäuferischen Zusammenarbeit von mennonitischem Staat und mennonitischer Kirche und kämpften dafür, dass die zivilen Rechte nicht aufgrund von Gemeindezugehörigkeit beschnitten würden. Dadurch, dass sie vor allen Dingen eine Bibelstunden- und Hauskreisbewegung waren, gelang es ihnen, das täuferisch-mennonitische Erbe biblisch zu erneuern. Dadurch, dass sie missionarisches Feuer spürten, gewannen sie Mut, sich nicht von den Grenzen mennonitischer Lokalkultur bremsen und domestizieren zu lassen.
b. Die MBs waren offen und empfänglich für kirchliche Einflüsse außerhalb der mennonitischen Welt.
Sie waren eine Erneuerungsbewegung, die sich von Pietisten,
Baptisten, Pfingstlern und Darbisten inspirieren ließ, ohne ihre eigene Identität zu verlieren. Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene christliche Denominationen an der Wiege der MBs gestanden haben: Klaas Reimer, der Gründer der Kleingemeinde; Leute der russischen Bibelgesellschaft; Tobias Voth und Heinrich Heese, die Förderer des Orloffer Schulvereins; Wilhelm Lange und die Gnadenfelder pietistische Bewegung; Eduard Wüst, der lutherische Erweckungsprediger aus Wittenberg; Johann Oncken, der Gründer der deutschen
Baptisten; die späteren Blanckenburger-Konferenzen und andere mehr.
Natürlich ist die Öffnung den verschiedenen theologischen Einflüssen gegenüber auch gefährlich gewesen. Beim Weg der MBs ist aber beachtlich zu sehen, wie der biblische Auftrag „prüfet alles und das Gute behaltet" doch vielfach sehr weise realisiert wurde:
– Der pietistische Einfluss von Wüst führte gerade nicht zu den üblichen landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegungen und freischwebenden Hauskreisen, sondern zur Erneuerung der täuferischen Gemeindetheologie.
(17)
– Der baptistische Einfluss Onckens führte definitiv zu einer Korrektur der Tauftheologie. Die MB-Gründungsväter übernahmen aber nicht den absoluten Kongregationalismus der
Baptisten, sondern entwickelten, wie es J.B. Töws betont, einen ,modifizierten Presbyterianismus´, der sowohl dem Gemeinderat als auch der Mitgliederversammlung entsprechende Autorität einräumt.
(18) Außerdem wussten sie sich klar von den Tabaksgewohnheiten des ,lieben Bruder Oncken´ abzusetzen.
– Bei den ersten MBs ging es sehr pfingstlerisch zu mit Trommeln, Jauchzen, Tanzen vor dem Herrn und heiligem Kuss. Aber sehr bald sah man, dass diese Dinge allein noch nicht den Frömmigkeitsgrad ausmachen. Dennoch gehört zu unserem Erbe eine sehr spontane Gottesdienstform.
– Zunehmend gewann der Darbismus Einfluss in MB-Kreisen, besonders über die Blanckenburger-Konferenzen und die Wiedenester-Bibelschule (Erich Sauer, Hans Legiehn, Scofield-
Bibel). Aber immer wieder neu war man sich in den Leitungskreisen einig, dass sich der liebe Gott wohl nicht an die von Menschen gezeichneten Abläufe der Dispensationen halten bräuchte („Brouda Bestvoda, gleiwst dü, dout dei leiwe Gott sich nou dienem Kodda rechte wuad?").
Diese Fähigkeit, sich nicht auf das eigene Völklein zu beschränken, sich aber auch nicht in einem allgemeinen Evangelikalismus zu verlieren, ist richtungweisend, um nicht in „Stammesreligiosität" zu verfallen.
c. Die MBs bemühten sich, den Schwerpunkt vom ererbten Glauben hin zur persönlichen Bekehrung zu verlagern.
Untertauchungs- und Glaubenstaufe waren für sie so etwas wie ein Ausgang aus dem mennonitischen Volkstum. Das Hauptärgernis der MB-Erneuerungsbewegung war die Untertauchungstaufe. Warum man so vehement an diesem Taufmodus festgehalten hatte, ist nicht ganz einleuchtend. Ich meine, es handelte sich nicht nur um einen sturen Formalismus oder gar darum, dass die Menge des benutzten Wassers etwas mit der Kraft der
Taufe zu tun hätte. Das wäre ja reiner Sakramentalismus gewesen.
In ihrem Eifer haben sie sicher manche Verletzungen verursacht und sind vielleicht auch manchmal schuldig geworden, geistliches Pharisäertum zu treiben. Aber ihr Grundanliegen war richtig und aktuell: Der Symbolcharakter der MB-Untertauchungstaufe wollte vor allen Dingen sagen, dass nicht Volkszugehörigkeit, sondern geistliche Neugeburt das entscheidende Merkmal ist, das uns zu Gliedern der
Familie Gottes und zu echten und ursprünglichen `Mennoniten’
macht.
d. Die Erweckungsbewegung der MBs kann man wie folgt umschreiben: Vom Flüchtlingsbewusstsein zum Apostelbewusstsein.
Die frühen missionarischen Bestrebungen der MBs standen in krassem Widerspruch zu dem, was sowohl die Kolonieleitung und die kirchengemeindlichen Ältesten als auch die orthodoxe Kirche Russlands wollte. Denn sowohl die Koloniepolitik der Regierung als auch das Selbstverständnis der Koloniebewohner waren zu eng mit dem Volksgedanken und begrenztem Territorium verwoben:
Flüchtlinge hatten Heimat gefunden, um `in Ruhe und Stille’ ihres Glaubens zu leben. Sogar die Privilegien der mennonitischen Russlandeinwanderung waren mit der Bedingung genehmigt worden, keinen geistlichen Einfluss über das mennonitische Völklein hinaus ausüben zu wollen. So wurde denn auch prompt der erste MB-Gemeindeleiter, Ältester Hiebert, ins Koloniegefängnis geworfen, weil er angeblich eine russische Magd getauft haben sollte. Diese und ähnliche Druckmassnahmen haben die Gründer der MB-
Gemeinde aber nicht dazu bewegen können, die soziologische These vom `mennonitischen Völklein’ geistlich zu akzeptieren.
Den Einfluss und die `konfessionellen Komponenten’, die die MB-Gemeinden in das Mennonitentum Paraguays eingebracht haben, hat Peter P. Klassen kürzlich in einem
Mennoblatt-Artikel zusammengefasst:
„Besondere Prinzipien waren die Forderung der Bekehrung vor der
Taufe, die Untertauchungstaufe als allein gültige Form, das geschlossene
Abendmahl und strenge Gemeindezucht besonders in Bezug auf die sogenannten Mitteldinge wie rauchen, trinken, tanzen. An aufgelockerten Formen hatte sie das Mitspracherecht der
Frau in der
Gemeinde, das öffentliche Gebet aller und auch die Trauhandlung für Paare, wo ein Glied oder beide nicht getauft waren, eingeführt. Die zahlenmäßige Überlegenheit und auch ein gewisses geistliches Selbstbewusstsein führten in
Fernheim zu einer starken Dominanz der
Brüdergemeinden… Doch nun sind 70 Jahre ins Land gegangen… Die MBG baute schroffe Formen ab…, denn den stärksten Wandlungsprozess hatte nämlich die MG durchgemacht, und sie hatte sich dadurch fast vollkommen dem Konzept der MBG angepasst… Durch die starke Angleichung der beiden großen Gemeinden aneinander verlor auch die
EMB ihre Besonderheit, denn die von ihr vertretene Toleranz übten nun auch die anderen Gemeinden".
(19)
3. Die Allianzbewegung und der Weg der EMBDass es heute besonders in
Fernheim zur Wiederangleichung der Gemeinden gekommen ist, hat meines Erachtens noch mit dem Einfluss einer Reihe anderer „konfessioneller Komponenten" zu tun. Dazu gehört historisch gesehen mit Sicherheit erst einmal die sogenannte Allianzbewegung. Die 1846 in London gegründete „evangelische Allianz" hatte eine starke Auswirkung auf die Mennoniten in Südrussland über die sogenannte `Blankenburger-Allianz’. Allianzprediger wie Bädeker, Stockmeyer, General von Viehbahn sowie die Allianz-Bibelschule in Berlin und die bis heute in
Paraguay gepflegten Allianzgebetswochen haben die mennonitischen Gemeinden Russlands entscheidend mitgeprägt.
(20)
Obwohl die Allianzbewegung im Prinzip gerade Spaltungen und Gründungen neuer Gemeinden vermeiden wollte, entstand in Südrussland auf Grund des Allianzgedankens interessanterweise eine neue dritte mennonitische Gemeinderichtung, nämlich die
EMB. Das hatte m.E. seinen besonderen Grund in zwei Ursachen: einmal in der Unerbittlichkeit, mit der die MBG in ihrem Anfangsstadium an der äußeren Form der Untertauchungstaufe festhielt – wohl eher eine Anleihe bei den deutschen
Baptisten und ein Symbol der Differenzierung. Zum anderen ist die Allianzbewegung mit Sicherheit auch eine Kraft gewesen, die bewusst denominationelle Identität hat dämpfen wollen, um so größere `Gemeinschaft unter allen Gotteskindern’ zu fördern. Das hat teilweise, z.B. in den USA, dahin geführt, dass die Nachfolgegruppen der
EMB ihre mennonitische Identität beinahe ganz aufgegeben haben und in die sogenannte „evangelikale Begegnung" eingeflossen sind. Zumindest hat der Allianzgedanke einerseits viel Anregung und Segen gebracht und in seiner mennonitischen Variante als `
KfK‘ stark zur Harmonie unter den Gemeinden beigetragen. Andererseits sind hier aber auch erste Ansätze zu suchen für die Haltung: „Wir möchten biblisch, statt mennonitisch sein".
4. Die dispensationale Theologie und die frühe Bibelschulbewegung
Im Zusammenhang mit der Allianzbewegung und den Blankenburger-Konferenzen ist die sogenannte `dispensationale Theologie’ eine entscheidende „konfessionelle Komponente" für die Mennoniten Paraguays, zumindest in den ersten 50 Jahren ihrer Einwanderung, geworden. Dieses in England von dem Juristen John Darby entwickelte theologische System in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das später von Scofield in seiner Bibelausgabe außerordentliche Verbreitung gefunden hat, fand in abgeschwächter Form bei vielen mennonitischen Predigern Eingang.
Allerdings ist in unseren Gemeinden selten die strenge Form dieses Systems praktiziert worden. Es wurde eher durch gemäßigte, heilsgeschichtlich denkende Theologen wie Erich Sauer (Das Morgenrot der Welterlösung) und Hans Legiehn (Unser Glaube ist der Sieg), über die mennonitische Bibelschulbewegung vermittelt. Der Vorteil dieser Theologie liegt in seinem historischen Ansatz: nichts erstarrt in kalten Dogmen, alles ist hineingenommen in die große Geschichte des Heils Gottes mit der Menschheit. Gott hat ein Projekt und er führt es zum Ziel. Zu einem gewissen Sinn ist auch das anschauliche, in sich geschlossene System dieses Aufbaus nützlich, denn es hilft eine Menge theologischer Komponenten rational einzuordnen. Deshalb hat die dispensationale Theologie ja besonders auch unter naturwissenschaftlich gebildeten und rational denkenden Leuten manchen Eingang gefunden.
Andererseits liegen die Schwierigkeiten gerade im Systemzwang. Und aus diesem Systemzwang heraus entstehen fragwürdige Resultate und Schwerpunktverlagerungen aus der Perspektive einer biblisch-täuferischen Theologie: die krasse Gegenüberstellung von Gesetz und Gnade, die Zukunftsverlagerung des Reiches Gottes, die Gültigkeit der Bergpredigt für einen späteren Zeitpunkt als die Gegenwartssituation der
Gemeinde, ein überhöhtes Interesse an der nationalen, geographischen und rassischen Zukunft Israels, Entrückung und Millenium als fundamentale Säulen zur Strukturierung von Gemeindelehre, Erlösungslehre und Sozialethik, das `Zweistufendenken’ in Bezug auf „fleischliche Christen" und „geistliche Christen", usw.
Eine gute Kritik an der mangelnden „Bibeltreue" dieser Theologie und ein Hinweis auf die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Dispensationalismus und der Bibelkritik der historisch-kritischen Methode findet sich bei Pieters und Gerstner.
(21)
5. „Deutsche Christen" und „mennonitische Ethnokonfessionalität"Versucht man die Geschichte der mennonitischen Einwanderer in
Paraguay emotional nachzuvollziehen, so ist es mehr als verständlich, dass „Deutschtum" und „Christentum" Hand in Hand gingen. „Muttersprache" und „Glaube der Väter" sind nun einmal schlecht voneinander zu trennen, weil sie kulturell und emotional zusammengehören. Hinzu kommt die Tatsache, dass das Täufertum von eh und je eine Art „ethnische Religion" war, wo andererseits eben gerade die „deutschen Tugenden" von Eigenen und Fremden hoch geschätzt wurden. Um seine Identität als Deutsche im Ausland zu wahren, hat man dann ja wohl auch selten stärkeres Interesse empfunden, zwischen christlichen Tugenden und deutschen Tugenden zu unterscheiden. In dieser Tatsache der deutschen Einwandererminorität, gekoppelt mit der vorangegangenen Allianzbewegung und dem Einfluss der dispensationalen Theologie, muss man wohl die Ursache suchen dafür, dass ein größerer Sektor des Einwanderer-Mennonitentums offen war für die Ideen der deutschen Christen bezüglich der Verschmelzung von Christentum mit „deutschem Blut" und „deutschem Boden". Selbstverständlich haben auch andere externe Faktoren, vor allem die verzweifelte Wirtschaftslage im
Chaco, das Ihrige dazu getan.
Nun ist wichtig zu beobachten, dass gerade die
EMB im Gegensatz zur Allianzbewegung in Deutschland eine sehr klare Stellungnahme zur Nazi-Ideologie im
Chaco bezogen hat. Größere Schuld hat damals die Mennoniten Brüdergemeinde auf sich geladen, weil sie einfach vom Kern her weltoffener war und so auch eine Reihe gebildeter Führungskräfte hervorgebracht hatte, von Professor B.H. Unruh und Dr. Kliewer bis hin zu Lehrer und später Ältesten Abram Harder und anderen, die der Nazi-Ideologie relativ empfänglich gegenüberstanden. Dieses komplexe Thema, das meines Erachtens von Peter Klassen, Gerhard Ratzlaff und neuerdings John D. Thiesen recht gut aufgearbeitet und dokumentiert worden ist, kann hier nicht weiter behandelt werden. Es hat aber mit Sicherheit im Bereich der „konfessionellen Komponenten" unserer Identität starke Wellen geschlagen. Zu wenig Beachtung finden in diesem Zusammenhang die Berichte über Versöhnung und Zurechtstellung im Rahmen von Gemeinden und den betroffenen Einzelpersonen, die es ja Gott sei Dank, in ehrenhafter Weise gegeben hat.
Andererseits mangelt es aber meines Erachtens an theologischen, selbstkritischen Analysen darüber, wie es zu so einer verwechselnden Verschmelzung von Volk und Glaube kommen konnte und welche theologischen Vorentscheidungen diese ermöglicht haben. Und hier möchte ich auf ein Phänomen hinweisen, das später noch ausführlichere Behandlung erfahren soll: Die sogenannte „mennonitische Ethnokonfessionalität". Schon die oben genannten mennonitischen Historiker Kreider und Krahn wiesen darauf hin, dass das russische Mennonitentum im 19. Jahrhundert sich beinahe vollkommen wieder das vom ursprünglichen Täufertum abgelehnte Modell einer Volkskirche angeeignet hatte. Harold S. Bender, der die Chacokolonien Ende der dreißiger Jahre besuchte, spricht von einem „absolut unabhängigen Staat", von einer „Art Theokratie", die er dort vorfindet.
(22) Er ist nicht sonderlich erschrocken über das, was er sieht, weil diese `Mennonite States’ ein gutes Maß an „law and order" sowie Produktion, Nüchternheit und Frieden garantiert haben. Er ist nicht sicher, ob dies eine ideale „union of church and state" darstellt. Deshalb schränkt er ein, dass solche außerordentliche Gebilde einer „amalgamation of the church and state" nur dort möglich sind, wo sich die offizielle Landesregierung sowieso aus einer geographischen Region zurückgezogen hat.
(23) Auf alle Fälle wird sichtbar, dass sich hier ein Miteinander von mennonitischem Glauben und mennonitischer Nationalität, so etwas wie der ganz anders geartete amerikanische Traum von „one nation under God", anbahnt.
Kritischer sieht diese Entwicklung der Soziologe Calvin Redekop, der Anfang der siebziger Jahre im
Chaco umfangreiche Forschungen betrieb. Ohne zu verurteilen, dokumentiert er anschaulich, wie die Chacosiedler sich gezwungen sahen, alle Lebensbereiche und eben auch teilweise den Staat in die Kirche zu integrieren. Er spricht von einer Art „Staat innerhalb der
Gemeinde". Er deutet auch vorsichtig eine gewisse Abhängigkeit der Gemeinden von der Wirtschaftskraft an, denn
„nur wenn die Kolonien ökonomisch stark bleiben, kann das religiöse System überleben, denn die Gefahr der Auswanderung und der daraus resultierenden Auflösung (der Gemeinschaft) ist eine ständig gegenwärtige Möglichkeit".
(24)Die äußeren Gegebenheiten einer kirchlichen Einwandererminorität, die sich in einer wirtschaftlich unerschlossenen Region praktisch ohne staatliche Interferenz organisieren musste, hat unter verschiedenen Segmenten des Einwanderer-Mennonitentums in
Paraguay eben dieses starke Phänomen hervorgebracht, das ich „mennonitische Ethnokonfessionalität" nennen möchte.
6. Der Einfluss des lateinamerikanischen ProtestantismusIn zunehmendemn Maße kann man nun aber auch einen Einfluss auf das religiöse und liturgische Leben des Einwanderer-Mennonitentums von Seiten des lateinamerikanischen Protestantismus („evangélicos") wahrnehmen. Kanäle dieses Einflusses sind zum einen die Gemeindegründungen im nationalen Kontext – Mission ist ja auch in der Praxis nie eine „Einbahnstraße". Hier spielen natürlich auch die beiden theologischen Seminare in
Asunción eine Rolle, die in spanischer Sprache arbeiten, eine interethnische Studentenkörperschaft haben, die sich meist aus verschiedenen kirchlichen Hintergründen zusammensetzt und die zu einem großen Teil lateinamerikanische Textbücher benutzt. Zunehmend gewinnen auch die evangelischen Radiosender, spanisch-christliche Zeitschriften und gemeinsame Evangelisationsbemühungen einen wichtigen Stellenwert in der Prägung der Gemeindetheologie und Gottesdienstform.
Über den lateinamerikanischen Protestantismus kommt es in den deutschmennonitischen Gemeinden teilweise zu einer Wiederentdeckung täuferischer Grundanliegen. Das geschieht schlicht und einfach schon durch die genuine „Wiedertäufer-Erfahrung" vieler lateinamerikanischer Gläubiger erster Generation. Dann darf man aber auch die zunehmende Wertschätzung des lateinamerikanischen Protestantismus für die Teología Anabautista nicht übersehen. Ich weise auf Theologen wie René Padilla und Samuel Escobar hin, auf die Lausannerbewegung und die `Fraternidad Teológica Latinoamericana’ sowie auf Verlagshäuser wie Kairós, CLARA und SEMILLA, die sich alle deutlich mit täuferischer Theologie identifizieren.
Zum anderen ist offensichtlich, dass über den Weg der lateinamerikanischen Evangélicos vor allem auch Elemente der Pfingstkirchen und der charismatischen Erneuerungsbewegung, sowie eine gewisse Liebe für „Erfahrungstheologie" und „
Cacique-Leiterschaftsmodelle" zu konfessionellen Komponenten werden, die die `mennonitische Identität’ modifizieren.
7. Der europäische Evangelikalismus
Seit den geschilderten Erweckungs- und Allianzbewegungen in Südrussland bis hin zur unmittelbaren Gegenwart hinterlässt der Einfluss des europäischen Evangelikalismus prägende Spuren und Perspektiven. Das geschieht vor allem über einen sehr regen und fruchtbaren Bücherverkehr der sogenannten Telos-Gruppe und evangelikaler Verlage sowie Zeitschriften und theologische Ausbildungszentren.
Auf diesem Wege sind sehr viel Erneuerung, viele Impulse, viel kirchliche Aktualisierung der deutschen Sprache, viele gute Freundschaften zu Lehrkräften und Führungspersönlichkeiten in die deutsch-mennonitischen Gemeinden Paraguays gelangt. Gleichzeitig wurde oft die `Agenda’ und vielfach die `Kampfagenda’ des europäischen Evangelikalismus mitimportiert. Allerdings ist der europäische Evangelikalismus nicht mit dem amerikanischen historischen Fundamentalismus gleichzusetzen, der eben bis heute noch immer eine sehr starke rechtspolitische Komponente innehat.
Die aus Europa mitgebrachten Prioritäten und Kampffronten (seien sie evangelikal oder „anti-evangelikal") trafen nicht immer ganz auf den paraguayischen Kontext zu, obwohl im Zuge der Globalisierung die meisten europäischen Phänomene auch in
Paraguay nicht ganz unbedeutend sind. Da in Kontinentaleuropa die täuferische Identität relativ schwach in der theologischen Landschaft vertreten ist, hat sich meines Erachtens mit dem massiven theologischen Europa-Import diese Sachlage auch etwas auf die paraguayischen Gemeinden ausgewirkt. Andererseits kann man aber auch überraschenderweise gerade beobachten, dass kirchliche Führungskräfte und junge Theologen, die ihre Ausbildung nicht an mennonitischen theologischen Seminaren erlebt haben, nun gerade ein doppeltes Interesse an eigener theologischer und täuferischer Identität an den Tag legen.
D. „Täuferische Leitbilder" inmitten von anderen „konfessionellen Komponenten"
Nachdem Harold S. Bender sein Epoche machendes, etwas idealistisches und zusammenfassendes kleines Werk „The Anabaptist Vision" geschrieben hatte, meldete sein Schüler, John H. Yoder sich einige Jahre später mit einer Reflexion zu Worte: „Das täuferische Leitbild und die mennonitische Realität" (The Anabaptist Vision and Mennonite Reality). Er wies darauf hin, dass Theologie und historische Wirklichkeit eben doch vielfach auseinanderklaffen. Ähnliche Reflexionen, die die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit zur Sprache bringen, sind bis heute angebracht. Das liegt ganz einfach an der Tatsache, dass Gemeindepraxis sich periodisch an theologischen Leitbildern reorientieren muss, will sie nicht in Traditionalismus oder Empirie versanden.
In dieser Hinsicht lässt sich feststellen, dass in der siebzigjährigen Geschichte mennonitischer Einwanderung in
Paraguay das Anliegen täuferisch-theologischer Identität immer wieder neu aufgegriffen wurde. Schon die Gründungsväter der MBG 1860 fügen als letzten Artikel ihres Begründungsdokumentes hinzu, dass sie in vollem Einvernehmen mit dem Glaubensbekenntnis des
Menno Simons stehen wollen.
In der stürmischen Zeit der völkischen Bewegung vollzieht sich die Gemeindedebatte vielfach auf Grund der Alternativen: Loyalität zum deutschen Vaterland oder Loyalität zum mennonitischen Glaubensbekenntnis. Auch der dramatische Zwischenfall einer „beidseitigen" Gottesdienststörung war sicherlich mehr als Spannung zwischen mennonitischen Amerikanern und mennonitischen Deutschen. John Thiesen berichtet, wie 1940 die drei altmennonitischen Missionare Litwiller, Shank und Snyder in
Fernheim zu Besuch sind. Sie dienen im Gottesdienst mit solchen Themen wie „Traditionelle mennonitische Tugenden", „
Wehrlosigkeit und die heutige Welt". Snyder habe mit Bezug auf Karl Barth und Martin Niemöller die „Nazi-Ideologie" als „schlimmer als der Kommunismus" und als „Syphilis des Geistes" bezeichnet. Darauf habe es in der Kirche öffentlichen Protest gegeben, dass das deutsche Vaterland schwer beleidigt worden sei.
(25) Dieser kleine Vorfall
macht deutlich, wie das Ringen um ein täuferisches Leitbild auch in dieser Zeit, trotz politischer Nebenmotivationen, präsent war.
Bei der Neustrukturierung der K.f.K. 1944 werden zwar zum einen Koloniekomitee und Kolonieschulrat wesentlich stärker in die kirchliche Verantwortung hineingezogen, womit das „politische" Kirchenmodell verstärkt wird. Zum anderen aber entsteht auch eine deutliche Rückbesinnung auf das „christlich-mennonitische Glaubensbekenntnis". Beachtlich ist hier aber auch, dass Gemeinden „Hüterin" des Glaubensbekenntnisses sein sollen, um nicht die Privilegien der „hohen paraguayischen Regierung zu gefährden".
(26)
Eine weitere Station auf diesem Weg zwischen täuferischem Leitbild und mennonitischer Realität ist der Einfluss des Bibelseminars in Montevideo. Die Geschichte dieses Ausbildungszentrums und die Gründe, die zu seiner Auflösung führten, sind bisher nicht gebührend gewürdigt worden. Alle mir bekannten in
Paraguay tätigen Absolventen dieses Seminars haben sich nämlich immer für eine täuferische Perspektive in theologischen Fragen stark gemacht (Rudolf Plett, Walter Thielmann, Ernst Weichselberger, Ewald Reimer, Dietrich Klassen, Jakob Dyck, um nur einige zu nennen).
Der Einfluss der mennonitischen Weltkonferenz sowie der Besuch seines Friedenskomitees, angeführt von John H. Yoder, Anfang der siebziger Jahren hat einen doppelten bzw. unter Umständen polarisierenden Effekt auf die deutschmennonitischen Gemeinden in
Paraguay gehabt. Zum einen hat man sich hier mit der weltweiten
Bruderschaft verbunden gefühlt und theologische Impulse empfangen; zum anderen hat man auch immer wieder sein Befremden bekundet über gewisse Positionen, mit denen man Schwierigkeiten hatte.
In zunehmendem Maße hat die Gründung neuer kirchlicher Institutionen, besonders im Bereich der Lehre und der Medien, dazu beigetragen, sich in
Paraguay neu mit dem „täuferischen Erbe" auseinanderzusetzen. Dazu gehören einmal die Gründung der beiden Bibelseminare
IBA (seit 1964) und
CEMTA (seit 1977). Beide Schulen haben in ihrem Lehrauftrag von den Gemeinden her klare, täuferische Verankerung aufgetragen bekommen. In diesem Zusammenhang muss auch das Ringen um ein christliches Schulkonzept genannt werden. Dieses ging zum einen von den jungen Missionsschulen im indianischen und nationalparaguayischen Kontext aus. Zum anderen haben aber auch die deutschmennonitischen Gemeinschaften für ihre eigenen Schulen zunehmend neu sowohl Material zu mennonitischer Geschichte und Glauben erstellt als auch in ihrer Schulphilosophie täuferische Prinzipien festgeschrieben. Ein drittes Zentrum täuferischer Reflexion sind die sogenannten Friedenskonferenzen gewesen sowie die Arbeit des gegenwärtigen Friedenskomitees, das im Auftrag des Gemeindekomitees steht. Drei größere Symposien haben die Reflexion und die Suche nach täuferischen Leitbildern in den letzten Jahren stimuliert. Dazu gehört einmal das von den Bibelseminaren organisierte
Menno Simons Symposium 1996. Dann hat die „Quinta Consulta Anabautista" große Breitenwirkung im lateinamerikanischen mennonitischen Kontext gehabt, besonders durch den prägenden Einfluss von Juan Driver und Juan Martínez und durch das produzierte Abschlussdokument. Beachtlich ist auch die Initiative des Oberschulzenrates gewesen, der im Jahre 2000 zu einem Gemeinschaftsseminar aufrief, um unter anderem über „täuferische Wirtschaftsethik" und „täuferische politische Ethik" nachzudenken.
Eine kürzlich erfolgte Umfrage durch Heinz Dieter Giesbrecht bei 57 Mitarbeitern aus sieben Gemeinden der MBGs Paraguays versuchte täuferische
Gemeinde– und Missionstheologie sowie täuferische Ethik im Bewusstsein der Befragten zu messen. Die Resultate sind ernüchternd: Gemeindehermeneutik, Gemeindebewusstsein und Jüngerschulung sind relativ schwach präsent, ethnozentrisches Verständnis von Mennonitsein sowie ein gewisser Verzicht auf Gewaltlosigkeit in Krisensituationen scheinen in einem Besorgnis erregenden Maße feststellbar zu sein.
(27)
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Überlegungen von Wolfgang Krauss hinzuweisen, der sehr treffend die hiermit zusammenhängenden Probleme analysiert. Er meint, kalte Prinzipien und Zugehörigkeit zur eigenen ethnischen Gruppe reichen nicht aus, um die Radikalität der jesuanischen Ethik zu verinnerlichen: „Kein Wunder, wenn nachwachsende Generationen dieser entwurzelten und zum Prinzip geronnenen Vision die Gefolgsschaft verweigern".
III. „Ethnokonfessinalität" als mennonitisches Problem
Wenn ich mich nicht täusche, geht der Begriff „mennonitische Ethnokonfessionalität" auf Johannes Reimer zurück. Er basiert auf dem griechischen Wort „ethnos" = Volk, Nation und auf dem lateinischen Wort „confessio" = Glaubensbekenntnis; also eine ganze Nation bzw. ein Volk, das am gleichen religiösen Glaubensbekenntnis festhält.
Diese Übereinstimmung von Volk und Glaube, von biologischer Genetik und Gemeindezugehörigkeit hat es immer wieder einmal in der Geschichte gegeben. Sein prominentestes Beispiel ist vielleicht das Volk der Juden, mit dem wir deutsch-ethnischen Mennoniten oft verglichen werden.
Natürlich sind wir uns in unseren Gemeinden bewusst, dass es nicht ausreicht, „als
Mennonit" geboren zu werden. Und doch verbindet sich bei uns mit dem Namen „
Mennonit" ein Mischmasch von Religion, Kulturtradition und Volkszugehörigkeit. So stellt Peter P. Klassen fest:
„Der Ausdruck `mennonitisches Volk’, liebevoll oft auch `unser Völklein’ genannt, ist in Russland geprägt worden… Die Mennoniten, der Herkunft nach eine Freikirche… waren hier zu einer Sippengemeinschaft geworden, die durchaus auch als Volksgruppe angesehen werden konnte… Dieser Volkscharakter, der in Russland seine Form gefunden hatte, ist heute eines der stärksten Wesensmerkmale der Mennoniten in Lateinamerika".
(28)Es war der etwas naive Traum von Harold S. Bender und B.H.Unruh auf der mennonitischen Weltkonferenz 1930 in Danzig, im zentralen
Chaco so etwas wie eine `mennonitische Republik’ aufzubauen. Dieser theologisch völlig irrige Traum ist stärker in Erfüllung gegangen, als wir uns oft bewusst sind. Er bringt uns heute in eine Identitätskrise, aus der uns nur starke, biblisch fundierte Gemeinden herausführen können.
Und nun einige Beispiele zum Phänomen der sog. „mennonitischen Ethnokonfessionalität", die uns in die Problematik einführen:
1. Mennonitsein rückt in die Kategorie der Nationalität.
In den Asuncioner Supermärkten weiß jedermann: Es gibt argentinischen Käse, brasilianischen Käse und mennonitischen Käse. Aber nicht nur die Produkte, sondern auch die Personen selbst bekommen eine eigene Nationalität. Kürzlich wurde über die Identität einer Missionarin gesprochen: Sie sei weder Deutsche noch Paraguayerin, sie sei Mennonitin.
2. Mennonit wird man durch Geburt.Ein in unseren Kreisen gut bekannter Reiseunternehmer, der sich immer auch für die Daten der mennonitischen Weltkonferenz interessierte, fragte einen unserer lokalen Geschichtsschreiber, wieso seine Zählungen der
Mennoniten in Paraguay nicht mit den Daten der mennonitischen Weltkonferenz übereinstimmten. „Nun, ich zähle alle deutsch-mennonitischen Einwanderer Paraguays mit Kind und Kindeskind, die Weltkonferenz allerdings zählt nur getaufte Gemeindeglieder und schliesst auch die getauften Indianer und Paraguayer der mennonitischen Missionsarbeit mit ein", war die Antwort. Darauf die sehr frustrierte Reaktion: „Das finde ich eine grosse Ungerechtigkeit, dass die Indianer und Paraguayer zu den Mennoniten gezählt werden und meine Kinder nicht!"
3. Als Mennonit gehört man zu einer Ethnie.Unsere gesamte neuere mennonitische Geschichtsschreibung in
Paraguay, einschließlich des schönen Buches von Edgar Stoesz und der ersten Ausgabe des Jahrbuchs vom mennonitischen Geschichtsverein, geht beinahe selbstverständlich von einem ethnischen Begriff des Mennonitentums aus. So gibt es bei Stoesz, der ja eigentlich beim
MCC einen weiteren Horizont gelernt haben sollte, im
Chaco durchgehend zwei Völker: die Mennoniten und die Indianer. Der mennonitische Geschichtsverein versucht etwas vorsichtiger zu sein in seiner Identitätsfindung, rückt aber gefährlich nahe in den Bereich eines deutsch-mennonitischen Heimatkunde-Vereins, der den Begriff „
Mennonit" vorrangig im soziologischen und kulturanthropologischen bzw. „folkloristischen" Sinne brauchen will, und zumindest bisher die paraguayischen und indianischen Mennoniten nicht einschließt.
4. Wer nicht als Mennonit geboren wird, kann kaum Mennonit werden.Aufgrund der historischen Selbstdarstellung der Mennoniten als einer europäischen Einwanderer-Volksgruppe ist es nicht verwunderlich, dass auch das gegenteilige Phänomen stattfindet: Die indianischen und paraguayischen Mennoniten, die sehr wohl zur mennonitischen Weltkonferenz gehören, haben große Schwierigkeiten, sich als Mennoniten zu empfinden, obwohl sie sich gern mit dieser Glaubenstradition und ihren geistlichen und kulturellen Werten identifizieren möchten. Hier vollziehen wir selbst einen Zirkelschluss: Erst sagen wir ihnen durch unsere eigene historische Selbstdarstellung, dass sie nicht Mennoniten sind, und dann sind wir verwundert darüber, dass sie sich nicht als Mennoniten ansehen.
5. Es gibt spezifische mennonitische Zivilrechte.Nachdenklich stimmen sollte uns auch das sogenannte mennonitische „Bürgerrecht" innerhalb einer
Kolonie. Obwohl es allerorts ein Zugehörigkeitsgefühl zu seinem Geburtsdörfchen und -städtchen gibt, so hat doch unser „Bürgerrecht", das ja käuflich zu erwerben ist, solange die Genetik stimmt, den starken Beigeschmack einer Staatszugehörigkeit. Diese finden wir sonst nur im Rahmen der Nationalitäten und Länder vor. Wir in
Asunción haben da unsere eigenen Schwierigkeiten, wie das kürzlich auf einer allgemeinen Gemeindestunde zum Vorschein kam: Angesichts der Richtlinien für die Zulassung zum „mennonitischen Altenheim" wurde festgelegt, dass nur solche Kandidaten Zutritt hätten, die sich in den letzten zehn Jahren aktiv an der `Asuncioner-Gemeinschaft’ beteiligt hätten. Alle waren wir glücklich, bis jemand die unpassende Frage stellte: „Was verstehen wir eigentlich unter `Asuncioner-Gemeinschaft’"?
Literaturverzeichnis
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- Yoder, For the Nations 1997 = Yoder, John H. For the Nations: Essays Evangelical and Public. Eerdmans Publishing Company, Grand Rapids, 1997.
- Ratzlaff 2001 = Ratzlaff, Gerhard. Ein Leib – viele Glieder: Die mennonitischen Gemeinden in Paraguay. Makrografic, Asunción, Paraguay, 2001.
- Redekop 1973 = Redekop, Calvin. Religion and Society. A State Within A Church in The Mennonite Quarterly Review. Volume XLVII. Number 1. Goshen College, Goshen, Indiana, 1973.
- Snyder 1999 = Snyder, C. Arnold. De Semilla Anabautista: El Núcleo Histórico de la Identitad Anabautista. Traducido por Milka Rindzinski. Pandora Press, Kitchener, Ontario, 1999.
- Thiesen 1999 = Thiesen, John D. Mennonite & Nazi: Attitudes Among Mennonite Colonists in Latin America, 1933 – 1945. Pandora Press, Kitchener, Ontario, 1999.
- Töws 1993 = Töws, J.B. The Mennonite Brethren Church 1860-1990 Pilgrimage Of Faith. Kindred Press, Winnipeg and Hillsboro, 1993.
- Wiebe 1998 = Wiebe, Christoph. „Geschichte und Identität". Brücke: Mennonitisches Gemeindeblatt. April 1998, S. 64-67.
Fussnoten:
| Direktor des Instituto Bíblico Asunción, theologisches Studium in Basel und Fresno Dr. Theol. der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule, Basel. |
| Ratzlaff 2001, Seite 344. |
| Ebd. Seite 344. |
| Wiebe 1998, Seite 64. |
| Wiebe 1998, Seite 64-65. |
| |
| Ratzlaff 2001, Seite 7. |
| Yoder, Textos 1976, Seite 39-44. |
| Driver 1997. |
| Yoder 1976, Seite 43. |
| Friedmann 1998, Seite 15. |
| Goerz 1977, Seite 79 ff. |
| Friedman 1998, Seite 22-27. |
| |
| Kreider 1950, Seite 18-19. |
| Krahn 1935, Seite 173. |
| Nach P.M. Friesen ‚Mit dem Geiste Wüst´s das Haus Menno´s erfüllen´. |
| Töws 1993, Seite 220. |
| Klassen 2001, Seite 3-4. |
| Ratzlaff 2001, Seite 141. |
| Pieters und Gerstner, 1994. |
| Bender 1939, Seite 98-99. |
| Ebd. Seite 102. |
| Redekop 1973, Seite 354-356, Übersetzung Alfred Neufeld. |
| Thiesen 1999, Seite 132-133. |
| Ratzlaff 2001, Seite 235. |
| Giesbrecht 2001. |
| Klassen 2000, Seite 29. |
Inmigración, Religión Mennonita y Nación bajo el Gobierno de Morinígo
Dra. Milda Rivarola
En la primera mitad de la década del `40, definida por el Gral. Rufino Pampliega (entonces Ministro del Interior) como „la época de mayor penetración protestante en el
Paraguay", surgieron manifestaciones de intolerancia religiosa, enmarcadas por la ideología nacionalista imperante desde la posguerra del
Chaco. Una interrogante es en qué grado estas manifestaciones de rechazo afectaron las comunidades mennonitas y sus iniciativas misionalizadoras.
El primer evento parece haber sido un conflicto en Areguá: en junio de 1944 un hecho violento revolucionó la plácida aldea veraniega. Cuando un grupo mormón comenzó allí a predicar la palabra, el padre Palau (de la orden bayonesa) lideró una agresiva campaña intimidatoria, provocando sanciones sociales y económicas contra los nuevos conversos por parte de sus compueblanos católicos.
Pero cuando la nueva comunidad de los Santos de los Últimos Días estaba por inaugurar su pequeño templo, el cura párroco apeló a medios más expeditivos. Una „comisión garrote" encabezada por el mismo y compuesta de decenas de aregueños irrumpió en medio del culto: rompieron la Biblia, arremetieron a golpes y patadas contra el pastor y los asistentes, destrozando el lugar. Ante la formal protesta del „Obispo de los protestantes", el Gral. Pampliega tomó cartas en el asunto y el irascible sacerdote fue trasladado a otra jurisdicción.
Poco más tarde – probablemente a instancias del Arzobispo Juan S. Bogarín – el Gral. Morínigo emitió un decreto el 13 de abril de 1945, reglamentando el ejercicio de cultos en el país. En su artículo primero, el Dcto. Ley No. 8.219 resolvía „El culto correspondiente a todas las religiones debe realizarse exclusivamente dentro de los respectivos templos o lugares especialmente habilitados por las autoridades nacionales, excepto el culto de la Religión Católica, que el Estado protege en esta República de acuerdo a la Constitución".
El petitorio de reconsideración de dicho decreto elevado al Dr. Horacio Chiriani, Ministro de Relaciones Exteriores y Culto por la Comisión Central Evangélica el 21 de mayo, interpretó que el artículo constitucional declarando a la Religión Católica como religión oficial no prohibía el ejercicio de otras religiones, recordaba que el
Paraguay firmó la Carta del Atlántico y la Declaración de México sobre libertad religiosa, y consideró nulo el decreto por oponerse a la constitución y los tratados internacionales vigentes.
La polémica suscitada por esta demanda permite detectar el grado de rechazo hacia las religiones protestantes que campeaba en
Asunción. Un primer artículo firmado con el seudónimo Vindex refutó las argumentaciones de los evangélicos, y los acusó de hacer „burla del dogma católico, atacando nuestras creencias en la Eucaristía, en la confesión…". Agregó „la paciencia, la prudencia y la caridad cristiana de este pueblo (…) ha contrastado siempre con la agresividad inmotivada de los predicadores protestantes", a quienes acusaba de haber „venido a romper entre nosotros, la unidad espiritual de que gozábamos, sembrando entre la gente sencilla la cizaña de sus doctrinas".
El articulista les negaba autoridad para misionalizar, sosteniendo que el precepto bíblico de „id y predicad el Evangelio" no lo dio Jesucristo a los „protestantes que nacieron en el siglo XVI" sino a los apóstoles católicos que „legítimamente le sucedieron en el ministerio de la palabra" y terminó calificando la demanda de „intolerable presunción".
Una carta al Director de El Paraguayo, firmada por C. Fernández, hizo una militante defensa de la religión católica, „tradicional de nuestra patria", „la que ha impreso un sello imborrable en nuestra historia" y acusó a los protestantes, „irresponsables, que olvidando los deberes elementales de cortesía para con el país que les da albergue generosamente, tiene la osadía de atacar en plazas públicas a la Religión Oficial del Estado". Según él, el Estado tenía derecho a reglamentar „el proselitismo callejero de las sectas exóticas".
La argumentación cayó fácilmente en xenofobia, „casi todos esos predicadores son extranjeros o asalariados con dinero extranjero", y justificó las violencias ocurridas contra los pastores porque „se ha abusado de la paciencia de nuestro bondadoso pueblo, que tolerará cualquier injusticia, menos que se le toque el tesoro de la religión católica, que es la religión de sus padres y la de su Historia".
El Decreto 8.219 era, según él, „una oportuna y lógica defensa de la unidad religiosa del
Paraguay, unidad que es uno de los elementos constitutivos históricos esenciales de nuestra nacionalidad". El presbítero Julio Laschi González, párroco de Arroyos y Esteros, uno de los incriminados por el uso de violencia física contra centros de predicación en el petitorio de la Comisión Central Evangélica, intervino con una iracunda Solicitada, „El Decreto 8219 y los Hijos de Lutero, o sea, una de las tantas Mentiras Protestantes". Era incapaz de permitir que „aventureros protestantes pisoteen a mansalva el honor sacerdotal, en tierra de católicos, ni que unos pobres emisarios extranjeros insulten gratuitamente a un ciudadano paraguayo".
El cura Laschi no ahorró adjetivos para referirse a la „mala fe de los herejes protestantes", responsables de la „enorme e irritante calumnia lanzada a la faz de todo nuestro pueblo paraguayo, tan católico y tan amante de sus sacerdotes". Deplorando la „desfachatez" de los „mercenarios a sueldo del extranjero", negó la existencia de violencias contra los „herejes protestantes (…) de la Compañía Yhacá". Acusó luego a las autoridades de A° y Esteros que „se inclinan a favorecer al grupo herético, en abierta violación de sus obligaciones de autoridades de una nación católica", y denunció que el pastor protestante fue nombrado como „maestro inconstitucional" de la escuela pública de esa compañía…
Días más tarde el sacerdote jesuita José Pedrosa intervino en el debate, introduciendo conceptos teológicos y jurídicos para concluir que los pastores de la „secta" evangélica no hacían culto religioso – en sentido estricto – en las calles sino propaganda, y por ende el decreto en cuestión, destinado a evitar „los bochornosos y desagradables incidentes a que ha dado lugar la propaganda poco prudente de esta secta" no menoscababa la libertad religiosa ni afectaba las garantías constitucionales.
Ciertamente, la controversia no afectó – ni indirectamente – a las comunidades mennonitas, que en términos demográficos eran la principal comunidad protestante del país. La incipiente misionalización con los Lengua – Luz a los Indígenas surge en febrero de 1935 – se inscribía en la tradición evangelizadora de indios en el
Chaco, comenzada por los anglicanos en el siglo anterior. Los indígenas eran apenas considerados ciudadanos en esos años, y la preocupación católica se limitaba al proselitismo religioso en áreas urbanas y rurales „paraguayas".
De cualquier modo, el primer artículo de la Ley 514 (26.VII.1921) establecía claramente para los mennonitas el derecho a „Practicar su religión y culto con entera libertad, sin ninguna restricción" y el interés por incentivar con estos privilegios nuevas corrientes de inmigración mennonita no disminuyó en los sucesivos gobiernos, liberales, nacionalistas o militares, a lo largo de cinco décadas (1920-1970).
A inicios de 1945, cuando estallaba la polémica anti-protestante, sólo un inocente artículo sobre „La región Militar del
Chaco y la colonización mennonita" aludió a los mennonitas. El editorialista loaba las gestiones del Comando militar del
Chaco, quien había logrado el envío de técnicos y productos insecticidas a las colonias. Esta cooperación surgió ante demanda de la Administración de la Colonia
Fernheim, cuya producción agrícola había sido recientemente afectada por plagas.
Si los colonos mennonitas no parecen haber sido considerados – durante esta campaña de intolerancia – como protestantes, tampoco fueron percibidos como inmigrantes de origen y lengua germana, a juzgar por la excepción que con ellos se hizo de las sanciones aplicadas a inmigrantes alemanes y japoneses por el gobierno a fines de la II Guerra Mundial.
El 11 de abril de 1945 el Gral. Morínigo (después de haber declarado la guerra a los países del Eje) creó por decreto zonas de internación para inmigrantes de origen alemán y japonés en las colonias Independencia, Obligado, Hohenau, Nueva Germania y La Colmena. Ninguna colonia mennonita fue afectada, pese a los eventos „germanófilos" ocurridos en algunas de ellas antes y durante el conflicto bélico mundial.
La presencia de un pequeño y agresivo grupo nacional-socialista en las colonias mennonitas data de la primera mitad de la década del `30, cuando hasta el embajador alemán Von Wedel admitió que el comportamiento de los nazis de las colonias „no había sido siempre correcto" contra sus adversarios, por lo que debió reprimir la „inoportuna arrogancia e intolerancia de los jóvenes elementos pertenecientes al partido".
Hacia 1935 no había solo focos nazis en las colonias mennonitas sino también remanentes del Frente Negro (Schwarze Front), un grupo liderado por Bruno Fricke, el antiguo miembro de las S.A. convertido al antinazismo junto a Otto Strasser. El pastor Marczynski, „Representante de la Iglesia Evangélica Alemana para los países del Plata", luego de recorrer las colonias, sostenía con alguna exageración en un informe de ese año que „quizá no exista una colonia de alemanes del extranjero que, como la de los ruso alemanes mennonitas <del Paraguay> haya saludado con tanta euforia la revolución nacional-socialista".
Si la tal „euforia" existió no era generalizable, dado que los inmigrantes de origen canadiense de la Colonia
Menno tenían más bien posiciones antifascistas. Dos años más tarde el Dr. Herbert Wilhelmy – propagandista del gobierno de Adolf Hitler – justificaba el escaso interés por el régimen de Hitler debido a la „falsa comprensión" del nazismo por los mennonitas. Wilhelmy se dedicó a activas „campañas de concientización", cuyo carácter político despertó rechazo en muchos colonos.
Escaso antisemitismo e intenso antimilitarismo mediante, los mennonitas no parecían ser el público ideal para la difusión del fascismo. Pese a todo, en la Colonia
Fernheim el profesor Unruh y el maestro Fritz Kliewer – ex becario en la Alemania del III Reich – se dedicaron con pasión al adoctrinamiento nazi. En enero del `37 Unruh denunciaba a Berlín la oposición a „la germanidad y el nacionalsocialismo" del predicador Peter Klassen, quien se había opuesto públicamente al „Hitlergruss" (el saludo nazi) por principios religiosos.
La propaganda política dio algunos resultados, y en mayo de 1939 viajaron a Alemania dos grupos de mennonitas (veintiséis jóvenes entre 15 y 26 años, entre los cuales había 5 mujeres), considerados por el embajador Buesing un „importante y valioso material humano" para los fines del nacionalsocialismo. En marzo de 1944 un „atraco" llevado a cabo por jóvenes nazis de
Fernheim dejó heridas cortantes de machetes y contusiones en varios colonos „opositores", luego de lo cual fueron expulsados de la colonia los dirigentes de „ambos bandos". En esos años se formó en la Colonia
Fernheim la „Bund-Deutscher Mennoniten", clausurada recién luego de la derrota alemana en la II Guerra Mundial, en septiembre de 1946, por sus tendencias nazi-fascistas.
Las críticas contra los mennonitas surgieron recién a fines de marzo de 1946, luego que el Departamento de Tierras y Colonización (D.T.C.) confirmara la vigencia de la Ley 514 de 1921, ante la perspectiva de una nueva corriente inmigratoria. De acuerdo a Elvin R. Sauder, representante del Comité Central Mennonita, unos 6.500 nuevos inmigrantes deseaban afincarse en el país. Una editorial de La Tribuna – „Mosaico de comunidades excluyentes"- deploraba el aislamiento de estas colonias, las que „excepto por su carácter religioso" en „poco o nada se diferencian de las alemanas o japonesas", aisladas del mundo exterior por motivos „racistas".
La alusión a nacionalidades hace poco derrotadas en la II Guerra no era gratuita. Líneas más adelante, el editorialista sostuvo que el
Paraguay no sólo necesitaba aumentar la producción agrícola, sino que „sus habitantes agricultores, de una concepción aún rústica, reciban la `educación de las cosas’ de inmigrantes que NO SE AÍSLEN, que en convivencia con ellos y ENTRE ELLOS le enseñan con el ejemplo" las modernas técnicas agrícolas. „Nuestra población debe constituir un crisol de razas amigas y no un mosaico de colectividades racistas o religiosas, exclusivistas y excluyentes en nuestra realidad étnica nacional", por lo que propone fomentar más bien la inmigración de otros grupos sin „recelos aislacionistas".
El tono de la editorial motivó una respuesta más bien inócua del Dr. Mario Mallorquín, Director del D.T.C., quien sin refutar los argumentos periodísticos, se limitó a presentar aspectos legales de la política inmigratoria nacional. La probabilidad de nuevos flujos mennonitas pudo haber apresurado la promulgación del Dcto. Ley 13.979, en marzo del `48, que concedía un régimen de franquicias más favorables a la inmigración.
En 1947/48 unos 2860 mennonitas de Ukrania salieron de Bremerhaven (Alemania) y arribaron a
Paraguay poco después, para formar o engrosar posteriormente las colonias de
Neuland (
Chaco),
Volendam (San Pedro).
Un artículo de Juan E. Martens, titulado „Las colonias Mennonitas, un Estado Independiente dentro del
Paraguay", agregó elementos a la controversia algún tiempo más tarde. Pese a ser una opinión aislada, el texto es relevante por ser uno de los escasos informes sobre las comunidades mennonitas dados a conocer al publico en la época. Martens había recorrido las colonias del
Chaco recientemente, y se explayó largamente sobre ellas. Las colonias (
Menno,
Fernheim y
Neuland) del
Chaco más las tres de la región Oriental sumaban en la época „97 pueblitos" con una población aproximada de 9.000 habitantes.
La Colonia
Menno era „la más atrasada en lo que a civilización se refiere", sus 3.500 habitantes vivían en el siglo XVIII o XIX, la ignorancia y „el embotamiento intelectual de la juventud es absoluto" y „su mentalidad no pasa de ser la de un niño grande". La moral, confundida con la religión y la administración de justicia, se „aplica despiadadamente y a veces con injusticia, llevados por el fanatismo de ancianos y mujeres".
El carácter medieval de la comunidad mennonita era para Martens indudable, vivían en cerrada endogamia (por la prohibición de contraer matrimonio con personas de religión distinta), y quien tuviera veleidades renovadoras era considerado „la peste en persona, la morada del diablo en esta tierra. Difamado, calumniado y expulsado…" Reprochó además a los colonos la deficiencia de su sistema educativo, con programas diferentes a los que regían la educación pública paraguaya.
Criticó también la política lingüística, ya que „es posible que hayan <apenas> 20 personas que estén en condiciones de mantener una conversación común en castellano", mientras todas las restantes „ni el saludo pueden dar en ese idioma". „El gobierno es totalmente autónomo del nacional, y la justicia o injusticia es administrada de acuerdo a su estrecho criterio nacional. La vida, (…) en estas condiciones, es muy triste".
Su juicio sobre la Colonia
Fernheim era algo más favorable debido a que ésta alcanzó „cierto grado de progreso", contaba con algunas industrias y una escuela secundaria. Los abusos cometidos por motivos religiosos no eran „tan acentuados" como en
Menno, aunque también allí el desconocimiento del español afectaba cerca del 90% de la población.
Martens recordó las actividades nazis de colonos durante la II Guerra Mundial, señalando que uno de sus dirigentes, Kliewer, se preciaba de ser „el pequeño Hitler" y exigía obediencia de los demás mennonitas. Mencionó un detalle – real o imaginado – que debió herir susceptibilidades locales: en esa colonia los „nacionales (…) reciben el bonito calificativo de MONOS, y el
Paraguay, PAIS DE MONOS (Affenland)".
Al confundir religión con nacionalidad, estos inmigrantes alimentaron „su orgullo prepotente, su desprecio petulante, su aislamiento y terror a la mezcla" con los paraguayos. Luego de exacerbar la indignación de sus lectores, el autor pedía revisar los privilegios concedidos en 1921, que los mennonitas no encontraban – según él – en ninguna otra parte del mundo.
Su descripción de
Neuland es todavía más crítica: allí los colonos „han echado por tierra la religión, en cuanto al antimilitarismo" se refiere, ya que en la guerra mundial última habían „combatido salvajemente en los ejércitos de Hitler. Y si cabe prestar oídos a testigos oculares (…) han sido feroces. Pero es claro, ahora que están en el
Paraguay, han vuelto a ser religiosos y se cobijan cómodamente en el no-militarismo".
Martens terminaba el polémico articulo exigiendo que se haga „más nacionales, más paraguayas" a las colonias mennonitas, „a través de la derogación de privilegios concedidos legalmente a estos colonos en la década del `20". Su argumento debió ser bien efectivo en el caldeado ambiente de posguerra: para esta integración nacional la religión no sería un problema, como „la última guerra <mundial> lo demuestra".
Las interrogantes iniciales continúan irresueltas. A nivel oficial estas opiniones adversas no tuvieron eco, y la inmigración mennonita continuó llegando al
Paraguay libre de sanciones legales, sociales o religiosas. Ni la fiebre de intolerancia religiosa, ni los precedentes de infiltración nazi afectaron la percepción gubernamental o social sobre las comunidades mennonitas.
Una de las razones puede consistir precisamente en el carácter cerrado de las colonias, esa suerte de encapsulamiento geográfico y social que les permitió mantenerse aislados – y bien protegidos – de los eventos exteriores. Lo que sucedía dentro de las colonias difícilmente podía afectar la realidad paraguaya, y viceversa.
Otra línea de explicación sería el buen relacionamiento que los mennonitas mantuvieron con los gobiernos nacional-revolucionarios (1936-1948), en curiosa continuidad de la mantenida con los anteriores gobernantes liberales. Las raíces – religiosas, históricas o ideológicas – de este posicionamiento restan por estudiarse. Las fuentes escasean, pero en el mensaje enviado al Gral. Estigarribia, electo presidente en 1939, los anabaptistas deseaban al presidente militar la bendición de Dios, asegurando que intercederían con sus ruegos por él, y terminaban con la promesa de ser „fieles y leales ciudadanos del país".
Seis años más tarde, en
Friesland (fundada en 1937 en el Dpto. de San Pedro) otro General-Presidente, Higinio Morínigo, que también gobernó el país bajo sistema totalitario, fue recibido por los colonos con leyendas tales como „Viva el Superior Gobierno de la Nación", „Viva el protector de la Agricultura Paraguaya".
En su discurso de bienvenida, el Sr. Cornelio Walde sostuvo que „nuestra Colonia simpatiza en forma sincera y entusiasta con el actual superior gobierno, en su abnegado trabajo en pro de una patria grande y próspera". Recordemos que esta suerte de „entente cordiale" perseveró después, durante la larga dictadura de Stroessner, sin ser desviada por ningún evento.
Tampoco debe soslayarse ese sentimiento de gratitud (especialmente intenso en la posguerra) que los paraguayos tenían hacia los mennonitas, percibidos como sacrificados colonizadores de un árido territorio que los nativos nunca tuvieron intención de poblar. La confirmación del „usi possidetis" que las colonias mennonitas permitieron al
Paraguay en el debate sobre la soberanía, y la cooperación posterior ofrecida por ellas – en términos de bastimentos y asistencia médica – a los combatientes paraguayos durante la guerra del
Chaco estaba y sigue estando en la memoria colectiva.
Una última hipótesis explicativa, bastante menos consistente, es que pese a su aislamiento, y de alguna forma extraña, los mennonitas habrían logrado ya en la década el `40 ser percibidos como paraguayos, en mayor medida que los inmigrantes japoneses de La Colmena o los miembros de otras iglesias evangélicas. O como menos extranjeros, como propios y diferentes a la vez. En cuyo caso no sólo habrían sido pioneros en el poblamiento de una región inhóspita, sino también en la más difícil conquista de una identidad plural, múltiple, pluriétnica para el
Paraguay del siglo XX.
OBSERVACIONES SOBRE IDENTIDAD
Quiero mencionar algunas reflexiones que me surgieron en el transcurso del coloquio, buscando profundizar el diálogo sobre los problemas de la identidad. En primer lugar, las narraciones de historias mennonitas y paraguayas permanecen bastante cerradas entre sí, como líneas paralelas que nunca se tocan ni encuentran. No se trata de un diálogo de sordos, ni siquiera parece haber tal diálogo.
Tal como es contada, la trayectoria mennonita transcurre desde la década del `30 en el
Paraguay, tiene cambios – crecimiento poblacional y económico, llegada de nuevos grupos inmigratorios, crisis política del `44, trasformaciones del sistema educativo, etc. – dentro de un contexto nacional percibido como estático, congelado. Como si la historia mennonita se deslizara sobre un lago helado, o se moviera delante de una escenografía fija y estática, que es la de la historia paraguaya.
Historia nacional que sin embargo, tuvo ella misma muchos cambios (con frecuencia, cambios similares o convergentes) en esas mismas décadas. En la historiografía paraguaya no mennonita, ocurre otro tanto. La historia mennonita se congela en una romántica o anecdótica foto postal, de sacrificados pioneros con sus carretas colonizando el
Chaco en la preguerra. Se recuerda alguna colaboración al ejército nacional durante la contienda, pero nunca más vuelven a entrar en la historia nacional.
Hay que tender puentes, narrar esas historias no como líneas paralelas sino como trayectorias sinusoidales que en muchas ocasiones coincidieron y marcharon juntas, para luego divergir o distanciarse unas de otras, antes de un nuevo encuentro. Cada historia, enajenada de la otra, se amputa y pierde riqueza cognitiva.
En segundo lugar, llama la atención que ustedes estén hoy cuestionándose sobre su identidad. En realidad, también los paraguayos-latinos (como dicen aquí) tenemos en la actualidad buenas razones para preguntarnos quienes somos, cómo nos percibimos y nos perciben, qué lugar ocupamos en el orden de las cosas. Aunque esa „crisis de identidad", o más bien esa sed de identidad, no haya sido aún expresada ni asumida como corresponde.
De cualquier modo, la misma concepción tradicional de identidad está en crisis. Ya no existen identidades únicas, „esencialistas", centradas en torno a un solo núcleo. Están fragmentadas, dislocadas alrededor de distintos centros. Mientras aquí se reflexionaba sobre los elementos étnicos o confesionales, a unas cuadras estaba teniendo lugar otro gran acto de afirmación de la identidad mennonita, la inauguración del
Rodeo. Allí muchos de ustedes se reconocían y eran percibidos como ricos estancieros, criadores de ganado, industriales o grandes proveedores cárnicos de frigoríficos. Los mennonitas son también eso. Y para muchos observadores exteriores, esa es hoy su identidad primordial.
Por otra parte, percibí cierta dificultad para asumir los eventos políticos, las divergencias o tomas de postura políticas de los mennonitas en las colonias. Como temor a verlas en forma autónoma, como tales, no ocultadas tras conflictos de índole religiosa o personal. Por ejemplo, el conflictivo evento de marzo del `44 -citado en casi todas las ponencias – fue visto por observadores exteriores como un evento político, y de hecho lo era. El maestro Kliewer o el dentista Klassen eran algo más que „agentes" de la política del III Reich o del Comité Central Mennonita: integraban o lideraban corrientes políticas de los colonos en la época.
En el resto del
Paraguay y del mundo en esos mismos años, también el fascismo tuvo convencidos adeptos y radicales enemigos, enfrentados entre sí. Probablemente los mennonitas hayan sido percibidos como favorables al régimen de Morínigo, y más tarde, es evidente que se los vio como pro-stronistas durante la larga dictadura del general. Quizá valdría la pena reprensar su historia también como historia política. Porque la identidad no se centra sólo en cuestiones étnicas o confesionales, gira también en torno a posicionamientos económicos o políticos.
Por otra parte, el modo en que una comunidad se percibe y es percibida, las representaciones que tiene de sí misma no son estáticas ni inmutables. Cambian en forma constante, se alteran y transforman ininterrumpidamente. Piensen por un momento en esa imagen que tenían y daban hace medio siglo, las de sacrificados pioneros desbrozando con dificultad los montes chaqueños. Y la que presentan ahora como industriales lácteos, ricos hacendados, prósperos cultivadores de algodón.
En algo más de una década, dejaron de dar la imagen de colonos conservadores, apoyos seguros del régimen de Stroessner, a la de votantes críticos y opositores: los diputados que enviaron a
Asunción en las dos últimas legislaturas, y el gobernador que ahora tienen, no salieron de listas coloradas sino de las del Encuentro Nacional. De comunidad cerrada y aislada a educadores y productores cada vez más insertos en la sociedad nacional. En
Asunción tiene una cadena de comunicaciones periodísticas, universidades, colegios renombrados, un representante ante el Consejo Superior de Educación.
Las cooperativas mennonitas tienen gran presencia comercial en la capital y en varias ciudades del interior. Y en un reciente seminario que reunía a los cuarenta líderes políticos y sociales reconocidos del país, había ya tres dirigentes mennonitas, en una proporción que excede largamente a su peso demográfico.
La identidad mennonita, como la de muchas otras comunidades, es entonces más difícil de aprehender en la actualidad porque se presenta fragmentada, contradictoria a veces, plural, en constante cambio y movimiento. Y precisamente porque plural y en movimiento, es una identidad hacedora de historia.
Fussnoten:
| Conocida Historiadora y Politóloga en Paraguay. Estudios en Agronomía, Historia y Sociología en Paraguay, Francia y España. Columnista del „Correo Semanal" del diario Última Hora. |
Mennonitische Präsenz im Chaco aus katholischer Perspektive
Mons. Lucio Alfert OMI
Einige Vorbemerkungen
– Die vorliegende Arbeit will ein Beitrag zum gegenseitigen Verständnis der katholischen und mennonitischen Christen sein. Deshalb werden Dinge zur Sprache kommen, die soweit wie möglich der Wahrheit nahe kommen, oder das ausdrücken, was empfunden wird, und deshalb auch schmerzhaft sein oder auch auf Ablehnung oder Missverständnis stoßen können. Es geht aber nicht um eine Konfrontation, sondern um Verständigung.
– Manche Dinge benötigen sicher auch eine Richtigstellung oder Vervollständigung, weil der vorliegende Vortrag nur ein kleiner Anfang des Studiums über das Thema ist und ich auch längst nicht alle existierenden Dokumente zur Verfügung hatte oder in Betracht ziehen konnte.
– Wenn im Text häufig über die Mennoniten gesprochen wird, dann sind nicht immer alle Mennoniten gemeint und auch nicht alle im selben Grad. Manchmal sind es nur einzelne Personen oder Gruppen, was man aber von außen nicht immer leicht feststellen kann.
– Mein persönliches Verhältnis zu anderen Religionen ist seit meiner Kindheit von sehr positiven Erfahrungen geprägt und deshalb tief verwurzelt. (Religionsunterricht in der Schule, Käfige der Wiedertäufer). Deshalb war der ökumenische Dialog für mich immer ein persönliches Anliegen.
– Wenn in diesem Vortrag viel von Dialog und
Ökumene die Rede ist, dann geschieht das deshalb, weil gerade der Grad der Bereitschaft zur
Ökumene auch ein wichtiger meinungsbildender Faktor der Katholiken den Mennoniten gegenüber ist.
„Sie sollen eins sein in uns: So wird die Welt glauben, dass Du mich gesandt hast" (Joh. 17, 21).
Einleitung
Lateinamerika wurde nach dem Prozess der Kolonialisierung vor 500 Jahren und der sog. Christianisierung als katholischer Erdteil angesehen. Auch in
Paraguay hielt man es für ganz selbstverständlich, dass die Leute katholisch waren, abgesehen von einigen wenigen Indígenagruppen, die sich diesem Christianisierungsprozess widersetzt hatten, oder zu denen die Missionare noch nicht gelangt waren. Für viele Mitglieder der katholischen Kirche ist es bis heute nicht akzeptabel, dass Christen verschiedener Denominationen oder auch Nichtchristen gemeinsam das Leben einer kleinen
Gemeinde oder eines Dorfes gestalten sollen. Sicher gibt es dafür historisch bedingte Gründe, aber auch theologische oder solche, die auf persönlichen Erfahrungen beruhen. Dennoch ist es an der Zeit, sich darauf zurückzubesinnen, was Jesus eigentlich wollte, als er die Kirche gründete, und welche theologischen und pastoralen Konsequenzen die einzelnen christlichen
Kirchen und Gruppierungen für sich selbst und auch für das gemeinsame christliche Leben und Tun daraus ziehen sollten.
Wie wird heute von Katholiken Kirche verstanden?
Um die Beziehung der katholischen Kirche zu anderen Religionen und
Kirchen, z.B. zu den Mennoniten zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick auf ihr eigenes Selbstverständnis zu werfen. Die Tatsache, dass man heute in katholischen Dokumenten von der einen Kirche Christi wie auch von den
Kirchen in Mehrzahl spricht, wirft das Problem auf, wie es sein kann, dass Jesus Christus nur die eine Kirche gegründet hat, dass es aber tatsächlich viele christliche
Kirchen gibt. Das Neue Testament und die Geschichte und die Theologie danach betonen auf der einen Seite die Einheit und Einzigkeit der Kirche und auf der anderen Seite eine rechtmäßige und notwendige Diversität in der Kirche. Es entstehen so die Fragen, welche Beziehungen haben die einzelnen
Kirchen untereinander, und wo finden wir die einzige Kirche Christi? Die Konstitution des zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche (Lumen Gentium) sagt:
„Zum neuen Gottesvolk werden alle Menschen gerufen. Darum muss dieses Volk ein einiges und einziges bleiben und sich über die ganze Welt und durch alle Zeiten hin ausbreiten … In allen Völkern wohnt dieses Gottesvolk, da es aus ihnen allen seine Bürger nimmt, Bürger eines Reiches freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Natur. ….. Kraft dieser Katholizität bringen die einzelnen Teile ihre eigenen Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche hinzu, so dass das Ganze und die einzelnen Teile zunehmen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken".
(2)In der Zeit der Gegenreformation hatten katholische Theologen die einzige wahre Kirche Christi oft in fast exklusiver Weise mit der katholischen Kirche identifiziert, woraus bisweilen sogar abgeleitet wurde, dass sie die allein selig machende sei, was natürlich bei vielen anderen christlichen
Kirchen zu großem Ärgernis Anlass gab.
Das zweite Vatikanische Konzil und andere neuere kirchliche Dokumente sehen diesen Sachverhalt anders. Auch wenn das zweite Vatikanische Konzil auf der einen Seite sagt, dass man durch die katholische Kirche Christi auf einzigartige Weise die gesamte Fülle der Mittel der
Erlösung erlangen kann, und wir glauben, dass der Herr alle Heilsgaben des Neuen Bundes dem einzigen Apostelkollegium, dem Petrus vorsitzt, anvertraut hat, um den einzigen Leib Christi auf Erden zu konstituieren, in dem sich alle vollständig inkorporieren müssen, die auf irgendeine Weise zum Volk Gottes gehören,
(3) stellt es auf der anderen Seite fest:
„Es gilt noch mehr: Unter der Gesamtheit der Elemente und Gaben, aus denen die Kirche erbaut wird und lebt, gibt es einige und sogar viele und bedeutsame, die außerhalb des sichtbaren Raumes der katholischen Kirche existieren können…. All das, was von Christus kommt und zu ihm hinführt, gehört rechtmäßiger Weise zur einen Kirche Christi".
(4)Das bedeutet, dass die Kirche Christi in der kath. Kirche subsistiert, zum Ausdruck kommt, spürbar wird in einer einmaligen Art und Weise, aber nicht mit ihr absolut identisch ist.
„Deshalb – heißt es weiter- obwohl wir glauben, dass diese Kirchen und Gemeinschaften Mängel haben, ist es nicht so, dass sie keine Bedeutung und Gewicht haben für das Mysterium der Erlösung. Der Geist Christi hat es nicht zurückgewiesen, sich ihrer als Mittel der Erlösung zu bedienen, deren Wirkung aus derselben Fülle und Gnade hervorgeht, die der katholischen Kirche verliehen wurden".
(5)So heißt es auch an anderer Stelle in der Konstitution über die Kirche:
„Zu dieser katholischen Einheit des Gottesvolkes, die den allumfassenden Frieden bezeichnet und fördert, sind alle Menschen berufen. Auf verschiedene Weise gehören zu ihr und sind ihr zugeordnet die katholischen Gläubigen, die anderen an Christus Glaubenden und schließlich alle Menschen überhaupt, die durch die Gnade Gottes zum Heile berufen sind".
(6)Diese neue Form der Wertung anderer christlicher wie auch nichtchristlicher Gemeinschaften bewirkt auch eine neue Art der ökumenischen Annäherung von Seiten der katholischen Kirche. Anstatt nur noch von einem Ökumenismus der Rückkehr zu reden, anerkennen die Katholiken, dass sie sich schon einer gewissen Kommunion mit anderen christlichen Gruppen erfreuen je nach dem Grad, in dem sie einen gemeinsamen Glauben, ein gemeinsames sakramentales Leben und eine gemeinsame kirchliche Struktur haben. Von einer Exklusivität der römisch-katholischen Kirche als einzigen Heilsweg Gottes kann deshalb nicht die Rede sein. Der Ökumenismus ist so ein Bestreben, immer mehr auf eine Einheit hinzuwachsen, in der für alle Christen Platz ist, bis hin zur gemeinsamen Feier der Eucharistie.
(7)
Beziehungen der katholischen Kirche zu mennonitischen Gemeinden auf nationaler Ebene
Wenn dieses ökumenische Gedankengut trotz einiger gegensätzlicher Tendenzen heute in der katholischen Kirche immer mehr an Bedeutung gewinnt, und wenn man auf diesem Weg voran kommen will, dann darf man nicht außer Acht lassen, dass es im Laufe der Geschichte der Beziehung zwischen Katholiken und
Mennoniten in Paraguay viele Dinge gegeben hat, die eher an Abkapselung und Abgrenzung und manchmal fast an einen Religionskrieg erinnern, der viele Wunden aufgerissen hat, von denen noch so manche zu heilen sind.
1. Die Jahre der Gründung der mennonitischen Kolonien
Aus der Zeit der Gründungsjahre der mennonitischen Kolonien im paraguayischen
Chaco findet man in den kirchlichen Archiven der Bischofskonferenz und des Erzbistums
Asunción sehr wenig über das, was die Theologie und das religiöse Brauchtum der mennonitischen Einwanderer betrifft, vermutlich deshalb, weil sie weitab im
Chaco ihre Kolonien gründeten und weil sie als geschlossene pazifistische Gruppen kamen und auch zunächst keine proselytistischen Tendenzen zeigten. Es mögen auch nationalpolitische Gründe mitgespielt haben; denn die damalige politische Konstellation war in diesem Zusammenhang sicher von großer Bedeutung, da sowohl
Paraguay als auch Bolivien Anspruch auf weite Zonen des
Chaco anmeldeten. So wurden im Interesse Boliviens vom Bischof von La Paz die Oblatenmissionare nach Esteros am Pilcomayo gesandt und von
Paraguay her die Salesianer in den Nordosten des
Chaco, die ebenso wie später die Mennoniten zwischen beiden Missionarsgruppen durch ihre Präsenz die paraguayische Oberhoheit bestärkten. Es mag auch Gründe gegeben haben, die noch zu erforschen wären, dass man den deutschsprachigen Oblaten die Mennoniten als Missionare mit der gleichen Sprache und mit ähnlichem kulturellen Erbe gegenüberstellen wollte.
Eigentlich ist das fast schweigende Zusehen der katholischen Kirche zur Einwanderung der Mennoniten verwunderlich, weil sie zu jener Zeit sehr wohl darauf aufmerksam war, dass andere religiöse Gruppen in
Paraguay allgemein und auch im
Chaco im größeren Umfang tätig wurden. Zu erwähnen wären hier z.B. die vielen neuen protestantischen Gruppierungen in
Asunción oder die Missionen der Anglikaner im
Chaco. So hatte sie wohl auch aus diesem Grund schon im Jahre 1917 dem Orden der Salesianer die Missionsarbeit unter den Indígenas im nordöstlichen
Chaco übertragen.
(8)
Im zivilen Bereich hingegen findet man viele Dokumente, die von Gesetzen, Dekreten wie auch von den zahlreichen Sonderrechten und Privilegien der ersten mennonitischen Einwanderungsgruppen handeln. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es verschiedene Hinweise darauf gibt, dass der damalige Staatspräsident José. P. Guggiari und einige politische Instanzen sich darum bemühten oder auch sich dazu verpflichtet fühlten, die Sache der Aufnahme der Mennoniten im paraguayischen
Chaco und die damit verbundene Gesetzgebung mit den kirchlichen katholischen Autoritäten zu besprechen. Das ist sicherlich aus der geschichtlich gewachsenen Bedeutung der katholischen Kirche in
Paraguay und aus ihrer Beziehung zur Regierung und ihrer Teilnahme am konkreten politischen Leben des Volkes zu verstehen, hat vermutlich aber auch in einigen kirchlichen Kreisen das Rechtsbewusstsein geprägt, über andere religiöse Gruppen eine offizielle Meinung abgeben zu können oder auch auf gewisse Privilegien Anspruch zu haben.
2. Die katholische Kirche und protestantische Gruppen in Paraguay im 20. Jahrhundert.
Das Verhältnis der katholischen Kirche zu mennonitischen Gruppen muss daher sicher auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Stellung der Kirche zu anderen protestantischen Gruppen gewertet werden, die seit dem großen Krieg der Triple-Alianza 1869/70 wachsende Bedeutung gewannen im Wiederaufbau des Landes. Besonders im Erziehungswesen waren sie willkommene Helfer und bekamen dafür vom Staat weitgehende Garantien in Bezug auf religiöse Freiheiten. Hatte vorher die katholische Religion z.B. in den Schulen die Vorherrschaft, so hatte sie in den nicht-religiösen Schulen durch die neue Gesetzgebung diese Stellung verloren. Die katholische Kirche blieb gegenüber dieser Tatsache nicht untätig, um ihre früheren sogenannten Rechte wiederzuerlangen.
Die Zeit zwischen 1945 und 67 war gezeichnet von dauernden Kämpfen um religiöse Rechte und Freiheiten zwischen dem Staat und protestantischen und katholischen Leitungsstellen. In dem neuen Grundgesetz von 1940 wurde der Artikel über die Religionsfreiheit von 1870 wieder aufgehoben und der Artikel 3 sagt: „Die Religion des Staates ist die römisch-katholische Religion, aber man duldet die anderen Kulte, die sich nicht der Moral und der öffentlichen Ordnung widersetzen. Das Oberhaupt der katholischen Kirche und die Bischöfe müssen gebürtige paraguayische Staatsbürger sein". Noch größeren Ärger verursachte das Regierungsdekret 8219 von 1945, das im Artikel 19 sagt: „Der Gottesdienst aller Religionen darf nur in den jeweiligen Tempeln oder in den von den nationalen Autoritäten speziell dafür vorgesehenen Orten realisiert werden, mit Ausnahme dem der katholischen Religion, die der Staat in dieser Republik beschützt, in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz". Daraufhin gab es eine Menge von Anträgen von Seiten der „Coordinadora Central Evangélica (CCE)" an die Regierung mit der Bitte, diese diskriminierenden Gesetze und Dekrete wieder abzuschaffen, in einem Fall sogar mit dem Argument, dass man, wenn sogar der kommunistischen Partei Versammlungsfreiheit gewährt würde, den evangelischen
Kirchen doch wohl mit mehr Grund dasselbe Recht zustehen müsse.
(9) Trotzdem gab es 1953 eine neue Gesetzesvorlage, welche die katholische Religion in allen Schulen vorschrieb. Auch der Pastoralbrief von Bischof Aníbal Menaporta vom 29. Juni 1952 ist in diesem Interesse geschrieben, wenn er sagt, man habe „die größte Anstrengung … zu machen, um den Vormarsch des Protestantismus… aufzuhalten und wenn möglich, ihn dazu zu verpflichten, sich aus den aktuellen Positionen zurückzuziehen". Ein ähnlicher Ton wurde auch schon vorher in Pastoralbriefen der Kurie und in Predigten in katholischen Pfarreien angeschlagen, wenn man das Thema der Sekten und des Protestantismus behandelte. Die Folge dieser intensiven öffentlichen Meinungsbildung war in nicht wenigen Fällen eine direkte und bisweilen brutale Verfolgung protestantischer
Prediger und deren Anhänger. Erst im Jahre 1967 unter der Regierung von Präsident Alfredo Strössner hat das neue Grundgesetz die Religionsfreiheit wieder neu bekräftigt. Das geschah aber vermutlich auch mit dem Hintergedanken, die Opposition der katholischen Kirche der herrschenden Diktatur gegenüber zu brechen, dadurch dass er viele protestantische Gruppen ins Land rief, die sich in die
Politik nicht einmischten oder die Regierung in einer Art Opportunismus unterstützten, ein Vorgang, der auf ähnliche Weise bei der Brechung der
Macht der Militärs angewandt worden war.
Um so überraschender in diesem Zusammenhang ist die Bemerkung von Bischof Bogarín in einem Pastoralbrief über die Sekten vom Januar 1946, in dem er zwar sehr kritisch über die nordamerikanischen Sekten spricht und sie falsche Propheten nennt, die unter dem allgemeinen Namen von Protestanten in der Hauptstadt unterwegs seien und gegen die katholische Religion predigten und sie lächerlich machten und an gesetzlich verbotenen Orten ihre Versammlungen abhielten, weshalb die Polizei im Namen des Gesetzes gegen sie vorgehen müsse. Aber auf der anderen Seite erwähnt er im gleichen Pastoralbrief, dass im Grundgesetz die Religionsfreiheit verankert sei, und betont deshalb Folgendes: „In diesem Sinn und um der
Gerechtigkeit genüge zu tun, können wir feststellen, dass die europäischen Protestanten wie die weißen Russen unter uns (gemeint sind u.a. die Mennoniten) buchstabengetreu unser Grundgesetz erfüllen und keine verbotenen Dinge realisieren, die das katholische Volk belästigen könnten". Deswegen wurde auch ihre Präsenz in
Paraguay von vielen eher positiv bewertet. Allerdings war diese Meinung in der katholischen Kirche keine allgemeine.
3. Die letzten drei Jahrzehnte im vorigen Jahrhundert.
In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts gab es nur sporadische offizielle Kontakte zwischen den beiden
Kirchen zum Teil wohl deshalb, weil man sich auf beiden Seiten nicht besonders um einen echten Ökumenismus kümmerte oder eigentlich nicht daran glaubte. Man sah sich gegenseitig mit mehr oder weniger Argwohn oder auch Unkenntnis an, man ließ einander gewähren und versuchte, die eigenen Leute zusammenzuhalten, bis dann später besonders von einigen Pastoren und fanatischen Stellen der mennonitischen
Kirchen wie auch verschiedener protestantischer Gruppen in
Asunción ausgehend, sich unter dem Argument der Treue zum Missionsauftrag Christi wieder starke proselytistische Tendenzen breit machten, die auch heute noch nicht überwunden sind, wie es in gewissen mennonitischen Berichten über Missionserfolge und große Tauffeste zum Ausdruck kommt.
Als im Jahre 1991 das Komitee der mennonitischen
Kirchen an die paraguayische Bischofskonferenz eine Anfrage in Bezug auf die abzuschaffende allgemeine Wehrpflicht richtete, wurde geantwortet, dass man das Bestreben, diese abzuschaffen, zwar gern unterstütze, dass man aber in Zukunft einen breiteren ökumenischen Dialog suchen sollte, da es doch noch viel Intoleranz und schlechte Behandlung der Mennoniten den Katholiken gegenüber gäbe (laut Berichten von katholischen Missionaren und Gemeinden), was doch eigentlich unverständlich sei von Seiten gerade der Gruppen, die sich gern Pazifisten nennen.
(10) In diesem Zusammenhang wurden manche Dinge zum Ausdruck gebracht, die an den Mennoniten und ihrem Vorgehen kritisiert werden: Seit ihrer Ansiedlung haben sie viele Sonderrechte, die andere Bewohner des
Chaco benachteiligen. Sie sind ein Staat im Staat. Sie bilden geschlossene Gruppen mit rassistischen und fundamentalistischen Tendenzen. Sie versuchen nicht selten, kleine Gemeinden und auch einzelne Personen mit Geldversprechungen und ökonomischen Unterstützungen auf ihre Seite zu ziehen. Es entsteht so viel Konfusion unter den Christen.
(11) Sie haben viel finanzielle Hilfe aus dem Ausland und einen Plan systematisch mehr Land zu kaufen zu Preisen, die für die einfachen Leute nicht erschwinglich sind, so dass die paraguayische Bevölkerung und die Indígenas immer mehr an den Rand gedrängt werden.
Am Ende der Überlegungen meint die Vollversammlung, dass man mit Klugheit vorgehen müsse, dass man aber diesen kleinen Ansatzpunkt zum Dialog wahrnehmen solle und dass man sich besser über die mennonitischen
Kirchen informieren müsse, weil man spürte, dass man sie eigentlich sehr wenig kannte.
In den Hauptversammlungen der Bischöfe N° 126 (Asamblea Extraordinaria de la C.E.P. Julio, 1991) und 127 (Asamblea Ordinaria de la C.E.P. Nov. 1991) wurde im Zusammenhang des Studiums des geplanten neuen Grundgesetzes zum einen gefordert, dass es in Zukunft eine völlige Unabhängigkeit zwischen Kirche und Staat geben müsse, obwohl eine Zusammenarbeit in vielen Bereichen notwendig und nützlich sei. Zum anderen wurde ein ökumenischer Dialog mit anderen christlichen
Kirchen erwünscht, um zunächst die Abschaffung des Pflichtwehrdienstes zu unterstützen, später aber den Dialog auf andere Themen auszuweiten wie z.B. Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Verteidigung des Lebens und der
Familie, Beziehung zwischen
Kirchen und Staat und Militärdienst. Man wollte zu einem Konsens in diesen Fragen kommen und wenn möglich sogar zu einem Gemeinsamen Dokument über das geplante neue Grundgesetz. Zu diesem Zweck hat es zwei Versammlungen gegeben, an denen der Generalsekretär der Bischofskonferenz und Vertreter verschiedener christlicher
Kirchen teilnahmen (Mennonitas, Anglicanos, Iglesia Evangélica de la Plata, Discípulos de Cristo und Bautistas). Auffallend ist, dass man in diesem Moment noch keine theologischen Fragen anschneiden mochte, weil man befürchtete, dass es zu unfruchtbaren Diskussionen kommen würde, da man sich noch nicht genügend kannte und noch keine ökumenische Offenheit erwarten konnte. Obwohl in diesem Zusammenhang wiederum von Konflikten speziell bei Indígenagruppen in Ostparaguay und im
Chaco die Rede war, die durch mennonitischen Druck und ihre Intoleranz verursacht würden, wurde doch darauf bestanden, dass man sich dadurch nicht von dem begonnenen Weg des ökumenischen Dialogs abbringen lassen dürfe.
4. Kontakte auf dem Gebiet der Arbeit mit Indígena-Gruppen.
Wichtige Anhaltspunkte über die Beziehung der beiden
Kirchen zueinander finden wir auch in der konkreten Arbeit in den Indígenagemeinden, in denen Mitglieder beider
Kirchen aus dem einen oder anderen Grund tätig sind. Für eine authentische Identitätsfindung und eine gesunde Entwicklung der einzelnen Gemeinden und Volksgruppen und für ihren Glauben ist es unumgänglich, dass Personen, die von außen unter ihnen wirken, zusammenarbeiten, sich untereinander verstehen, sich die Arbeit aufteilen nach Kriterien, die für die Leute wichtig sind, und besonders dass sie mit denselben Kriterien und wenn möglich auch mit den gleichen Methoden arbeiten, um die Leute nicht zu verwirren. Das gilt für alle Lebensbereiche wie
Politik, Erziehungs- und Gesundheitswesen, soziale Bereiche, Religion und
Kultur etc. Deshalb ist es schwerwiegend und unverantwortlich, wenn man sich nicht einigen kann über das, was z.B. Entwicklung und Fortschritt bedeutet oder Erziehung, welchen Stellenwert die Einheit im Bereich
Kultur und Religion einnimmt, z.B. Schamanentum und spezielle Gebetsformen, welches die authentischen Organisations- und Autoritätsstrukturen sind, die Art der Meinungsbildung und Beschlussfassung, welche Rolle der Missionar oder der von außen kommende Berater einnimmt, oder welche ihm zugewiesen wird etc. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass man sich in einigen Fällen bei der Bemühung um Land für Indígenas einigen konnte, wie z.B. beim Kauf des Landes für Campo Loa oder im Fall von Laguna Negra, wo es ein Übereinkommen über die Betreuung der beiden Indígenagruppen gibt. Leider gibt es aber auch aus ideologischen Gründen noch eine ganze Menge Uneinigkeiten und Reibereien, die dem jeweiligen Volk nur schaden können. Am schlimmsten ist, wenn man im Namen Gottes oder der
Bibel Streit unter den Leuten anstiftet, sich gegenseitig verunglimpft und dadurch unglaubhaft
macht, was auch heute noch geschieht, um angeblich den wahren Glauben zu verteidigen, was aber tragischer Weise zur Folge hat, dass die Leute vom Christengott nichts mehr wissen wollen oder den Glauben ganz verlieren.
Unverständlich sind auch gewisse Fälle, wo mennonitische Gruppen aus materiellem Interesse Indígenagruppen ihr Recht auf Land absprechen. Da ist der Fall
Sommerfeld in Caaguazú, wo seit mehr als zehn Jahren den Indígenas das Land vom Parlament zugesprochen wurde und wo bis heute die mennonitische Gruppe trotz nationaler und internationaler Vermittlung das Land nicht für die Indígenas frei gibt, sondern sogar versucht hat, die Indígenas zu deportieren oder sie mit Gewalt umzusiedeln. Es ist auch nicht akzeptabel, wenn man ihren natürlichen Lebensraum nicht respektiert wie bei den
Ayoreos, oder wenn ihr ursprünglicher Glaube als Aberglaube abgetan wird oder wenn bei Arbeitern und Angestellten die sozialen Pflichten nicht erfüllt oder umgangen oder Kranke in Hospitälern zurückgewiesen werden, weil sie kein Geld haben, oder wenn Indígenas einmal mennonitisch getauft, vielleicht aus ethnischen Gründen doch nicht als vollwertige Mennoniten angesehen werden.
Was Katholiken hier im Chaco über Mennoniten denken und sagen
Die Meinung katholischer Christen über mennonitische ist geprägt von ihrer je persönlichen Einstellung und Erfahrung, manchmal begrenzt auf eine konkrete Region, wie in unserem Falle den
Chaco, von ihrer Kenntnis der eigenen und der anderen Religion, von ihrer Vorstellung über das, was Kirche ist, und von der persönlichen ökumenischen Offenheit Andersgläubigen gegenüber. Unter diesen Vorgaben muss man deshalb die folgenden Meinungen verstehen und ihnen Wert beimessen. So kann man über die Mennoniten hören:
– Sie erklären die Katholiken und Mitglieder vieler anderer Religionen als Nicht-Christen, als noch nicht zu Christus Bekehrte.
– Sie schließen Sünder aus der
Gemeinde aus, obwohl wir doch die Kirche der Sünder sind, für die Christus gestorben ist.
– Sie haben keine Klarheit in vielen theologischen und pastoralen Fragen, z.B. die Wiederverheiratung von geschiedenen Partnern gültiger Ehen. Gilt die Ehe fürs ganze Leben oder nicht?
– Sie taufen verschiedene Male dieselbe Person, weil sie sich angeblich in der je neuen
Gemeinde erst richtig bekehrt habe. Eine katholische
Taufe hat scheinbar keinen Wert.
– Sie sind sich nicht einig untereinander und in verschiedene religiöse Gruppen getrennt, die sich manchmal nicht einmal untereinander verstehen. Ein echter Ökumenismus unter den Mennoniten selbst wäre sehr nützlich.
– Sie verpflichten Menschen anderer Religionen, diese zu wechseln, wenn sie sich mit Mennoniten verheiraten wollen. Wo bleibt da die Religionsfreiheit?
– Sie lehnen Schamanen und religiöse Praktiken der Naturreligionen als Heidentum und Zauberei ab, obwohl der Geist Gottes in allen Völkern einen Heilsweg auf Gott hin vorgezeichnet hat, der seine je eigenen Ausdrucksweisen hat.
– Sie sehen ökumenische Bestrebungen als falsch und nicht wünschenswert an, obwohl die Einheit eines der wichtigsten Zeichen des wahren Christentums ist.
– Viele Pastoren haben einen extrem proselytistischen Geist, der nichts mit der Glaubensfreiheit und mit wahrer Missionierung zu tun hat. Die Zahl der Getauften scheint wichtiger zu sein als ein wirklicher innerer Bekehrungsprozess, obwohl dieser doch immer als das wichtigste Anliegen dargestellt wird.
– Die sogenannten Bekehrungsmethoden sind oft verquickt mit lügenhafter Diffamierung anderer Religionen und deren Vertreter (P.J. Seelwische, P.F. Bosch. P.M. Fritz) mit Falschdarstellungen und Lächerlichmachung ihrer Glaubenswahrheiten, mit falschen Versprechungen und Ausnutzung schwieriger Lebenssituationen, mit Handel zwischen Religion und Geld und anderen materiellen Gütern.
– Manche Pastoren zeigen fanatische und fundamentalistische Tendenzen, was die Auslegung der
Bibel angeht, die je nach Gutdünken oder Lebenssituation oft auf widersprüchliche Weise tendenziös interpretiert wird (z.B.: Das Verbot oder die Verpflichtung einer direkten Teilnahme in der
Politik). Nicht selten auch haben sie den Sekten sehr ähnliche Verhaltensweisen.
– Es scheint, dass der ökonomische Fortschritt und das Wohlergehen zentrale Werte sind im mennonitischen Denken und im Prozess der Entscheidungsfindung.
– Man bemerkt ein gewisse Scheinheiligkeit, weil sie behaupten, dass die Katholiken das Alkoholtrinken verteidigen, sie selber aber dagegen eintreten, aber nur scheinbar von diesem Problem frei sind.
– Sie kapseln sich gegen andere Volksgruppen ab, betrachten sie oft als minderwertig und wollen sich kulturell und ethnisch rein halten. Abfällige und erniedrigende Ausdrücke und Bezeichnungen für Leute anderer Hautfarbe sind geläufig. Man fragt sich, ob Menschen anderer ethnischen Gruppen überhaupt vollwertige Mennoniten werden können.
– Sie haben sich eine eigene Welt konstruiert, in der andere oft keinen Platz haben. Befürchtet man durch den näheren Kontakt, die eigene Identität zu verlieren?
– Andersdenkende sind in ihren eigenen Reihen nicht erlaubt, und der soziale und ökonomische Druck ist so stark, dass niemand aus diesem System ausbrechen kann, wenn er nicht alle Rechte verlieren will. Ebenso müssen katholische Angestellte oft unter ökonomischem oder moralischem Druck ihre Kinder in mennonitische Schulen schicken.
– Sie nützen die Schulsituation aus, indem in Schulen mit vorwiegend katholischen Kindern (z.B.
Nivaclé– und Guaraníkinder) diese zu mennonitischen Kultakten verpflichtet werden. Auch werden katholische Kinder vor mennonitischen lächerlich gemacht.
– Sie greifen andere Religionen und ihre Vertreter an wegen gewisser Glaubenslehren, obwohl sie selber untereinander den einzelnen Pastoren große Freiheiten in der Auslegung der
Bibel zugestehen.
Auf der anderen Seite werden die Mennoniten auch sehr geschätzt:
+ Sie sind überzeugte Christen, die ihren Glauben ernst nehmen und wirklich versuchen, danach zu leben, und werden deshalb von vielen Katholiken geschätzt.
+ Sie sind arbeitsam, wissen sich zu organisieren, arbeiten gemeinsam und halten innerlich zusammen und helfen sich gegenseitig in Notzeiten.
+ Sie sind pflichtbewusst und man kann sich auf sie verlassen.
+ Sie sind hilfsbereit, uneigennützig und solidarisch, wenn Menschen in Not sind, und haben sich viel um verschiedene Indígenagruppen gekümmert.
+ Sie haben große Verdienste an der wirtschaftlichen Entwicklung des
Chaco.
+ Sie suchen ein friedliches Zusammenleben und freundschaftliche Beziehungen zu anderen Menschen, obwohl sie immer auf gewisse Distanz bleiben zu Menschen anderer Kulturen.
All diese Einstellungen und Denkweisen kann man unter den Katholiken in mehr oder weniger ausgeprägter Weise vorfinden, hervorgerufen durch einen direkten Kontakt oder durch Informationen aus zweiter Hand, die bisweilen die Dinge nur oberflächlich betrachten, bisweilen aber auch ins Schwarze treffen. Gegenseitige Missverständnisse und Falschinterpretationen kommen bisweilen zustande durch unzureichende Kenntnis der anderen Religion, ihrer theologischen Grundlagen, ihrer Gründungserfahrung und ihrer Geschichte wie auch durch religiösen Fanatismus, der blind
macht für anders Denkende.
Solange man sich nur von fern betrachtet und jeder das Seine über den anderen denkt, wird vermutlich der Abgrund zwischen beiden religiösen Gruppen immer größer werden. Wenn man aber den Mut hat, sich unvoreingenommen gegenseitig zu nähern, sich dem andern zu öffnen, wenn man in einen wirklich ernsten Dialog eintritt, der auf gegenseitiges Verstehen, auf Gemeinsames, auf Vertiefung unserer gemeinsamen christlichen Wurzeln abzielt, gibt es Hoffnung, dass wir dem Hauptanliegen Christi, der Einheit unter denen, die an ihn glauben, einen Schritt näher kommen werden.
Gelungene und misslungene Kontaktversuche
1. Gelungene Kontakte.
– Meine ersten persönlichen Kontakte mit Gruppen der mennonitischen Kirche hatte ich im argentinischen
Chaco in Castelli und in Saenz Peña in den Jahren 1972 bis 78. Diese Kontakte waren auf der ganzen Linie positiv und es gab eine wirkliche Zusammenarbeit, besonders bei den Indígenagruppen der Zone. Bis heute nehmen Vertreter dieser mennonitischen Gruppen an unseren jährlichen Missionarstagungen hier in
Paraguay teil.
– Hier im
Chaco wurde in den ersten Jahren die mennonitische Präsenz von den katholischen Missionaren, den Oblaten, durchaus positiv angesehen. Es gab zahlreiche freundschaftliche Kontakte und persönliche Freundschaften zwischen katholischen Missionaren und mennonitischen Familien, die zum Teil vermutlich durch die kulturelle Nähe der beiden Gruppen entstanden sind, vor allem da, wo man es nicht mit fanatischen Personen zu tun hatte.
– Gute Beziehungen und gegenseitige Hilfe gab es besonders auf Gebieten, die nicht direkt mit der Religion zu tun hatten: Im sozialem Bereich, im Gesundheitswesen, in technischen Dingen, bei Entwicklungsprogrammen etc. Z.B.: Heriberto Wiens mit noch einem anderen jungen Mann waren jahrelang als Mitarbeiter in der Mission Escalante in der Schreinerwerkstatt tätig. Herr Walter Regehr war ab 1980 fast zehn Jahre lang als Anthropologe ein sehr geschätzter Mitarbeiter vom Equipo Nacional de Misiones (ENM ,heute CONAPI) der katholischen Bischofskonferenz und arbeitete mit katholischen Indianergruppen hier im
Chaco. Herr Abraham Hiebert (ab 1982) arbeitete eng zusammen mit P. Josef Seelwische in einigen Indígenadörfern. Diese Zusammenarbeit war möglich, weil man weitgehend die gleichen Kriterien in der Arbeit mit Indígenas und den Respekt vor ihren Kulturen hatte.
– Kontakte gab es, laut P.J. Seelwische, in den siebziger Jahren unterstützt von Herrn Harry Unruh auf dem Gebiet der Jugendpastoral: Treffen von mennonitischen und katholischen Jugendlichen in Mcal. Estigarribia und
Filadelfia, ebenso Gesangfestivals, Kontakte durch
Sport etc.
– P. Francisco Bosch hatte nach seinem Bericht vom März 2001 in den Jahren 73 bis 75 mit verschiedenen mennonitischen Missionaren und auch mit den Verantwortlichen der Colonia
Menno gute freundschaftliche Kontakte. Manchmal gelang sogar eine pastorale Zusammenarbeit. So haben einige Pastoren und Jugendliche in katholischen Grundschulen Bibelstunden gegeben oder auch den Sonntagsgottesdienst unterstützt (z.B.: in San José Obrero und Cruce
Boquerón und andere). Zu dieser Zeit gab es auch in
Loma Plata regelmäßige monatliche Treffen von P. Bosch und verschiedenen mennonitischen Lehrern (Abraham Giesbrecht, Helmut Isaak, Pablo Klassen, Friesen aus Paratodo, Neufeld vom Colegio in
Loma Plata und Martin Siemens.) Bei diesen Treffen wurde die Guaranisprache studiert und auch über soziale und religiöse Themen gesprochen. Auch wurde P. Bosch von mennonitischen Jugendlichen eingeladen, um mit ihnen über die katholische Missionsarbeit zu sprechen, über die soziale Situation der Paraguayer und was diese über sie denken. In diesem Zusammenhang wurde auch Herr Martin Siemens eingesetzt, um auf sozialem Gebiet mehr für die Paraguayer zu tun. Später musste er sich allerdings von dieser Arbeit zurückziehen, weil er aus angeblich ideologischen Gründen keine Unterstützung mehr bekam.
– Im Jahre 1993 gab es auf Wunsch beider Seiten ein Treffen in Mcal. Estigarribia, an dem Vertreter der Mennoniten,
Oberschulze Jakob Giesbrecht und einige Pastoren und Bischof Lucio Alfert und einige Patres und Schwestern teilnahmen. Dabei wurde über die folgenden Themen gesprochen: Darstellung des Apostolischen Vikariates und seiner Arbeit und das Verständnis von Kirche und christlicher
Gemeinde. Man wollte versuchen, zu einem größeren gegenseitigen Verständnis kommen.
– Im Laufe der Zeit waren die ersten ökumenischen Trauungen möglich, bei denen nicht nur die je eigene Religion der Partner respektiert wurde, sondern auch offiziell die Trauhandlung unter Mitwirkung des katholischen Pfarrers und des mennonitischen Pastors vollzogen wurde. Heute sind solche Annäherungen keine unbedingte Seltenheit mehr, werden aber nicht von allen Pastoren befürwortet.
(12)
– Verschiedene Male wurden von katholischen Missionaren mennonitische Pastoren und andere Mitarbeiter eingeladen, bei kirchlichen Veranstaltungen mitzuwirken. So z.B. bei den jährlichen Missionarstagungen Herr Wilmar Stahl und Herr Walter Regehr, oder bei der Jahresversammlung des Apostolischen Vikariates vom Pilcomayo im Januar 2000 Herr Gundolf Niebuhr und Herr Werner Franz, wobei es den katholischen Missionaren um bessere Kenntnis der Mennoniten als Freikirche und um Möglichkeiten der ökumenischen Verständigung ging. In einem anderen Fall gab es bei einem Besinnungstag der Priester des Vikariates mit zwei mennonitischen Freunden schon vor Jahren einen regen Austausch über Glaube, Kirche und religiöses Leben. Solche Begegnungen haben immer den Wunsch zum gegenseitigen Verständnis wachgehalten.
All diese zaghaften Versuche des Miteinanders sind kleine, aber wichtige Schritte, die von größter Bedeutung sind für die Wahrhaftigkeit und auch für die Zukunft unserer
Kirchen.
2. Misslungene Kontakte.
Es ist auf der anderen Seite aber auch wahr, dass all diese Versuche bisher nur sporadische Ereignisse sind, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass es viele Missverständnisse gab und noch gibt, manchmal auch böser Wille, falsche Beschuldigungen und Verleumdungen, womit wir uns gegenseitig das Leben schwer machen und unsere christliche Botschaft als nicht akzeptabel und nützlich für das menschliche Zusammenleben erscheinen lassen.
– Nach dem Bericht von P. Bosch verschlechterten sich ab 1976 die guten Beziehungen zunehmend. Die erbetene Erlaubnis, in
Loma Plata mit den dort ansässigen katholischen Christen im privaten Rahmen die Eucharistie feiern zu dürfen, wurde ihm von den Autoritäten in
Loma Plata verweigert, woraufhin auch er nicht mehr erlaubte, dass mennonitische Pastoren katholische Schulen besuchten. Von dieser Zeit an gab es in den einzelnen kleinen paraguayischen Gemeinden wie Cruce
Boquerón, San José Obrero, María Auxiliadora, Santa Cecilia, Sta. Aurelia,
Pirizal,
Campo Aceval und andere fast überhaupt keine Zusammenarbeit mehr, sondern es bildeten sich verhärtete Frontstellungen und jeder fühlte sich vom anderen verfolgt, was zum Teil der Wirklichkeit entsprach. Es ist hier nicht angebracht, die vielen Begebenheiten der Missverständnisse und gegenseitiger Belästigungen zu erwähnen, die ich eigentlich Anekdoten nennen möchte, wenn es dabei nicht um so wichtige Dinge ginge wie die Treue zum eigentlichen Missionsbefehl Christi, der Einheit des einen Gottesvolkes, und um unsere eigene Glaubwürdigkeit in unserer missionarischen Arbeit.
– Einzelne mennonitische Missionare, besonders auch ex-katholische, haben Missionsmethoden, die mit Christentum wenig zu tun haben. Sie gehen in kleine katholische Gemeinden, oft ohne eingeladen zu sein, reden schlecht und verleumderisch über die katholische Kirche und ihre Missionare, behaupten, dass die Katholiken keine Christen seien, verursachen so Streit und Teilung, versprechen oder geben ökonomische Mittel, um Menschen zu bekehren und sie schon nach sehr kurzer Zeit zu taufen mit dem Argument, dass die Leute nun wirklich bekehrt seien. Auf diese Weise werden die einzelnen Leute manchmal von verschiedenen Missionaren in verschiedenen Kongregationen zwei- oder dreimal getauft, ganz zu schweigen von der Wiedertaufe auch der als Erwachsene getauften katholischen Christen. Welche Bedeutung misst man unter diesen Umständen eigentlich der
Taufe bei? Eine ausgeprägte fundamentalistische und proselytistische Denkweise scheint die Grundlage zu sein für diese Art zu handeln.
(13) Bei manchen Missionaren hat man auch den Eindruck, dass sie sich in ihrem Glauben und in ihrem Handeln bestärkt fühlen, wenn es einen Verfolger gibt, den man bekämpfen kann.
– Ein misslungener Versuch, gemeinsam etwas für die Menschen zu tun, war z.B. das Schulprojekt in Villa Choferes del
Chaco. Anfänglich gab es eine gute Zusammenarbeit. Es war ein wirklicher Erfolg, dass sich 1990 alle an einen Tisch setzten, Autoritäten der
Kolonie und offizielle Vertreter beider
Kirchen, dass eine gemeinsame Kommission durch ein großes Verdienst von Herrn Harry Unruh ein Schulprojekt für das Dorf plante und ausführte. Leider machte sich später doch wieder gegenseitiges Misstrauen oder Unverständnis breit, welches keine offizielle Zusammenarbeit mehr ermöglichte.
– Auch der Versuch der privaten Institutionen, die mit Indígenas auf nationaler Ebene arbeiten, gemeinsame Kriterien für diese Arbeit zu finden, scheiterte, weil es diese nach der Meinung eines mennonitischen Vertreters nie geben werde. Ebenso ist es hier im
Chaco, wenn verschiedene Organisationen mit verschiedenen Kriterien bei denselben Leuten arbeiten, die dadurch verwirrt werden und so nie zu einer klaren Linie in ihrer Zukunftsplanung und zur Eigenverantwortung kommen können, sondern diese Situation in unguter Weise für sich ausnützen und die einzelnen Organisationen gegeneinander ausspielen (z.B.: Wert und Einstufung der traditionellen Religionen, der verschiedenen Kulturen und ihrer Ausdrucksformen, der Schamanen etc., die Art der Schulbildung, das Verständnis von Fortschritt und Entwicklung etc.). Es kommt dabei zu tragisch-komischen Situationen wie in dem Fall des Indígenas, der mich fragte, wie oft er sich noch taufen lassen müsse, damit er endlich sein Land bekäme, wodurch die
Taufe doch wohl zum Handelsobjekt wird.
– Das ökumenische Denken ist in gewissen mennonitischen Kreisen und leider auch in katholischen oft unbekannt, manchmal auch verpönt als etwas, was dem missionarischen Auftrag Christi widerspricht. Das Wort
Ökumene wird fast als Schimpfwort aufgefasst. Man zieht es vor, sich gegenseitig wegen verschiedener Auffassungen über theologische Wahrheiten zu beschimpfen, anstatt das Gemeinsame zu suchen und zu betonen und den Glauben von den Wurzeln her zu vertiefen. Hinzu kommt, dass nach der politischen Öffnung im konservativen Sektor der mennonitischen
Kirchen scheinbar die Abkapselung und der Fanatismus wieder zunehmen, und in der Missionsarbeit der alte Proselytismus wieder betont wird. Es ist zu vermuten, dass diese Bewegung nicht nur zur Diskussion mit anderen Religionen führen wird, sondern unter den Mennoniten selbst einen heftigen Streit auslösen wird, der hoffentlich in einen gesunden, lebensbringenden Dialog umgewandelt werden kann.
Einheit im Glauben: Grundlage und Glaubwürdigkeit der Kirche Christi
1. Die Einheit als Grundlage der Kirche.
Von der Gründung der Kirche und von ihrer eigenen Sinngebung her ist nach katholischem Verständnis die Kirche oder sind die
Kirchen und alle christlichen Gemeinden und Gruppen von innen her verpflichtet, auf die Einheit hinzuwachsen und alles dafür zu tun, wirkliche und praktikable Wege zur Einheit zu suchen. Die Verpflichtung zur Einheit als sakramentales Zeichen der
Erlösung ist der eigentliche Missionsauftrag Christi.
So sagt die päpstliche Enzyklika „Ut Unum Sint" (Damit sie eins seien.):
„Die Einheit der ganzen zerrissenen Menschheit ist Wille Gottes. Am Vorabend seines Opfertodes am Kreuz bittet Jesus selbst den Vater für seine Jünger und für alle, die an ihn glauben, dass
sie eins seien, eine lebendige Gemeinschaft (Joh.17,20 ff). Von daher rührt nicht nur die Pflicht, sondern auch die Verantwortung, die vor Gott gegenüber seinem Plan jenen Menschen obliegt, die durch die Taufe zum Leib Christi werden sollen, zu dem Leib, in dem sich die Versöhnung und die Gemeinschaft voll verwirklichen sollen. Wie ist es nur möglich, getrennt zu bleiben, wenn wir doch mit der Taufe `eingetaucht’ sind in den Tod des Herrn, das heißt in den Akt selbst, in dem Gott durch seinen Sohn die Wände der Trennung niedergerissen hat? Die Spaltung widerspricht ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen".
(14)Das alles bedeutet, dass die Einheit nicht ein zufälliges Attribut des Werkes Christi ist, sondern sein eigentliches Zentrum. In diesem Zusammenhang ist die trinitarische Theologie zu erwähnen, in der man den eigentlichen tiefen theologischen Grund und die Verpflichtung zur Einheit im Mysterium der Dreieinigkeit Gottes findet. Daraus muss man die Folgerung ziehen, dass es nicht den einzelnen christlichen Gruppen und
Kirchen überlassen ist, ökumenisch zu sein und zu denken, sondern dass sie ohne den festen Willen zur Einheit sich schlichtweg nicht Christen nennen können, da sie der eigentlichen Sache Christi untreu geworden sind. Christus hat den Seinen das neue Gebot der bedingungslosen gegenseitigen Liebe gegeben und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, dieses auch wirklich zu leben dadurch, dass er ihnen die Gegenwart und den Beistand des Heiligen Geistes, des Trösters, versprochen hat. Durch ihn hat er sein Volk vereint im Neuen Bund, welcher die Kirche ist, in der Einheit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. So sagt der Apostel: „Es gibt nur einen Leib und nur einen Geist; denn durch eure Berufung von Gott, habt ihr dieselbe Hoffnung empfangen. Ein Herr, ein Glaube, eine
Taufe (Epheser 4,4-5). Denn alle, die ihr in Christus getauft seid, habt euch mit dem Gewand Christi bekleidet….Denn ihr alle seid eins in Christus".
(15) Nur da, wo diese Einheit gelebt und immer mehr vertieft wird, kann die eigentliche Kirche Christi existieren.
2. Die Einheit als Glaubwürdigkeit der Kirche.
Von dieser Grundlage her muss man der Einheit noch eine andere große Bedeutung beimessen, die besonders für die missionarische Sendung der Christen wichtig ist. Jede Gabe Gottes, die wir empfangen, – und die Einheit aus der Liebe ist eine der größten -, birgt immer in sich auch den Auftrag, die Sendung, diese Gabe an andere weiterzugeben, sie anderen Menschen mitzuteilen, damit sie so zum Sakrament, das heißt zum wirksamen Zeichen des Heils und der
Erlösung wird. So sagt Jesus vor seinem Tod in seinem Gebet für uns zum Vater, welches gleichsam sein Testament ist: „Damit sie alle eins seien, wie Du, Vater, in mir bist und ich in Dir, damit auch sie in uns eins seien, so dass die Welt glaube, dass Du mich gesandt hast" (Joh. 17,21). Wenn also die Kirche und wir Christen unserem Missionsauftrag treu sein und wirklich für uns in Anspruch nehmen wollen, Zeugen der Liebe Gottes zu sein, dann ist es unumgänglich, dass wir uns ernsthaft um die Einheit im Glauben bemühen. Es gibt viele Menschen, die ihren Glauben verloren haben, weil wir Christen uns untereinander streiten und uns und anderen das Leben schwer machen. So etwas geschieht leider auch heute noch immer bei uns im
Chaco. Und es sind auch nicht wenige, die wegen der Zwietracht und des Streites unter Christen das Leben verloren haben. Wir brauchen nur einmal an die vielen Kriege zu denken, die noch immer auch aus religiösem Hass oder Intoleranz geführt werden.
Ein Blick in die Zukunft
Wenn wir aus der gegenwärtigen Situation heraus ernsthaft einen gemeinsamen Blick in die Zukunft werfen wollen, dann ist eine der wichtigsten Bedingungen, dass wir daran glauben, dass es diese gemeinsame Zukunft wirklich geben wird, und die Angst verlieren uns einander zu nähern, dass wir den Mut haben, uns gemeinsam auf den Weg zu machen. Wenn Menschen gemeinsam unterwegs sind, ein gemeinsames Ziel haben, das sie wirklich erreichen wollen, dann werden sie bald anfangen, alles miteinander zu teilen, was sie sind und was sie besitzen: Ihre Hoffnungen und Träume, ihre Erfahrungen und ihr Wissen, ihre inneren und auch ihre physischen Kräfte und Schwächen, einfach alles, was für sie lebenswichtig ist. Alle Grenzen und Zäune werden abgerissen, alle Ängste und Blockierungen abgebaut, bis sich ein solches gegenseitiges Vertrauen breit
macht, das die ersehnte Zukunft in Wirklichkeit so nahe rücken lässt, dass sie in gewisser Weise schon als Gegenwart erfahren werden kann.
Der Mut, auch hier im
Chaco miteinander einen offenen Dialog zu wagen, wie er schon auf Weltebene unter Mennoniten und Katholiken im Gange ist, sollte uns von einer Vertiefung unseres je eigenen Glaubens her kommen; denn in den Wurzeln werden wir am ehesten das Gemeinsame entdecken, das uns allen Leben gibt. Den wohl gewagtesten Dialog, der die Welt verändert hat, hat Gott selbst mit uns Menschen begonnen, als er sich in unsere menschliche Natur inkarniert hat, als er es nicht scheute uns gleich zu werden. So schreiben schon 1991 die Kongregation für die Glaubensverbreitung und der Päpstliche Rat für interreligiösen Dialog im Dokument „Dialog und Verkündigung" Folgendes:
„Der eigentliche Grund für die Anstrengung der Kirche um einen Dialog ist nicht nur anthropologischer, sondern grundsätzlich theologischer Natur. Gott hat in einem Dialog, der durch die Jahrhunderte hinweg dauert, der Menschheit das Heil angeboten und bietet es immer noch an. Um der göttlichen Initiative treu zu sein, muss die Kirche in einen heilbringenden Dialog mit allen eintreten".
Dieser heilbringende Dialog unter uns ist möglich, wenn wir Menschen anfangen wirklich zu glauben und zu lieben.
FRAGEN, die uns alle angehen:
- Warum gab es in der Vergangenheit keine größeren offiziellen Kontakte, um zu einem breiten ökumenischen Dialog zu kommen?
- Welches könnten mögliche Schritte sein, um sich auf theologischem Gebiet mehr auszutauschen und sich einander näher zu kommen? Könnte es in Paraguay in absehbarer Zeit eine ähnliche Charta Ecuménica geben wie die vor einigen Monaten von den christlichen Kirchen in Europa veröffentlichte?
- Warum suchen viele Menschen und speziell Jugendliche ihre Glaubensinhalte und ihre Gemeindebindung immer mehr außerhalb der offiziellen Kirchenstrukturen und besonders in esoterischen Denk- und Erfahrungsformen ?
- Was kann getan werden, dass man allgemeine Probleme wie z.B. Drogen und Alkoholismus und andere nicht einfach als katholische Probleme abtut, sondern als solche annimmt, die uns alle angehen?
- Inwieweit sind wir uns unserer Schuld wegen der Zerstrittenheit und Uneinigkeit an der zunehmenden Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber und der immer kleiner werdenden Zahl der aktiven Gemeindemitglieder und der regelmäßigen Kirchenbesucher bewusst und welche Konsequenzen ziehen wir daraus?
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Kulturelle Beiträge
Abkürzungen
UUS – Ut Unum Sint – Konstitution über die Einheit der Christen
LG – Lumen Gentium – Konstitutiion über die Kirche
UR – Unitatis Redintegratio – Konstitution über die
ÖkumeneDTE – Diccionario Teológico Enciclopédico
CCE – Coordinadora Central Evangélica
Literaturverzeichnis
- Juan Pablo II: – Mensaje para la celebración de la Jornada Mundial de la Paz. Librería Editrice Vaticana, 2001.
- Juan Pablo II: – Carta Apostólica „Tertio Millennio Adveniente", Litocolor – Asunción, 1999
- Congregación para la Doctrina de la Fé: – Declaración Dominus Iesus, sobre la unicidad y la universalidad salvífica de Jesucristo y de la Iglesia, Librería Editrice Vaticana, 2000.
- Juan Pablo II: – Carta Encíclica „Ut unum sint" (UUS) – Sobre el empeño ecuménico, Librería Editrice Vaticana, 1995.
- Juan Pablo II: – Carta Encíclica Redemptoris Missio – Sobre la permanente validez del mandato misionero, Librería Editrice Vaticana, 1990.
- Juan Pablo II: – Carta Apostólica „Novo Millennio Inuente" – Al Episcopado, al Clero y a los Fieles, al concluir el Gran Jubileo del Año 2000, Librería Editrice Vaticana, 2001.
- Pablo VI: – Exhortación Apostólica „Evangelii Nuntiandi", El Gráfico/ Asunción, 1975.
- Pontífico Consejo para la Promoción de la Unidad de los Cristianos: – Directorio para la aplicación de los principios y normas sobre el Ecumenismo – Colección Documentos del CELAM 128, Kimpres Ltda. Santa Fé de Bogotá, Colombia.
- IV Conferencia General del Episcopado Latinoamericano – Santo Domingo, República Dominicana, 12 – 28 de Octubre de 1992 – „Nueva Evangelización, Promoción Humana y Cultura Cristiana", ARFO Ltda. Santa Fé de Bogotá, Colombia, 1992.
- Colección del Centanario Salesiano Nr. 8: – Reseña histórica de las Misiones Salesianas del Chaco Paraugayo, 1917 – 1995. Don Bosco, Asunción, 1996.
- Jahrbuch für Geschichte und Kultur der Mennoniten in Paraguay, Litocolor, Asunción, 2000.
- Hans-Jürgen Goertz in: Theologische Realenzyklopädie, Vlg. Walter de Gruyter, 1993.
- P. Sosa: El Protestantismo en el Paraguay (Pags. 95 – 104).
- Mons. Juan Sinforiano Bogarín: Carta Pastoral sobre el protestantismo: 1895 – 1948, El Gráfico/Asunción.
- Conferencia Episcopal Paraguaya (C.E.P.): Actas de las Asambelas 126 y 127, 1991.
- Pastoral Colectiva del Episcopado Paraguayo: Sobre algunos puntos de la Doctrina Social Católica y los Deberes Cívicos de los Católicos, El Gráfico – Asunción, 1946.
- Genaro Romero: Colonización Mennonita, Imprenta Nacional, Asunción 1933.
- Cardenal Francis Arinze y Cardenal Josef Tomko: Diálogo y Anuncio, 1991.
- Ministerio de Economía: Las Colonias Mennonitas en el Chaco Paraguayo, Imprenta Nacional, Asunción 1934.
- P. José Seelwische, OMI; P. Francisco Bosch, OMI; P. Miguel Fritz, OMI: Apuntes y experiencias misioneras.
- Akten des 2. Vatikanischen Konzils, 1968.
- Konrad Algermissen: Iglesia Católica y Confesiones Cristianas, RIALP S. A. Madrid 1964.
- Diccionario Teológico Enciclopédico – Secciones: Sagrada Escritura, Historia, Espiritualidad, Teología fundamental, Dogmática, Moral, Ecumenismo, Religiones; Verbo Divino, 1995.
Fussnoten:
| Studium der Theologie in Deutschland, seit 1972 als Priester und Missionar in Paraguay und Argentinien tätig. 1986 zum Bischof geweiht, gegenwärtig apostolischer Vikar der Missionsprovinz des Pilcomayo und Mitglied in der paraguayischen Bischofskonferenz. |
| Vgl. LG.13. |
| UR3. |
| UR 3; UR 15-17; 20-23; LG 15. |
| UR3. |
| LG 13. |
| DTE 455-456. |
| Dekret von Bischof Bogarín, 19.03.1917. |
| CCE 19.9.1946. |
| (Asamblea extraordinaria 126 de la Conferencia Episcopal Paraguaya (C.E.P.) del 15-19.6.91) |
| P.M. Fritz, Berichte. |
| Informationen von P. Miguel Fritz und P. José Sander. |
| Beispiele von P.P. Peña, Fischat San Leonardo, Yishinachat, Sta. Teresita, Casanillo, Macharety, Cayin´ô clim etc. |
| UUS 6. |
| Gal 3,27-28, UR 2. |
Kulturelle Beiträge
Die Lammfellpantoffeln
Felizia Wolf
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber Wladimir hatte die gedämpften Stimmen seiner Eltern aus den Küche gehört. Er konnte an dem Lichtschimmer, der durch den breiten Türschlitz fiel, sehen, dass Mamuschka die große Laterne bereits angezündet hatte. Leise kroch er aus dem Bett. Sein Brüderchen Viktor schlief noch fest und Wladi wollte den Dreijährigen noch nicht wecken.
Aufgeregt zog er die Sachen, die ihm Mamuschka schon am Vorabend über den Stuhl gehängt hatte, an und ging in Küche. Die Mutter war dabei, noch etwas Proviant einzupacken, der Vater fing an, die Kisten hinauszutragen und auf dem Leiterwagen zu verschnüren.
Wladi hatte sich schon zwei Tage lang darauf gefreut: sie würden zum ersten Mal mit dem Zug fahren. Schweigend rutschte er auf einen Stuhl am Küchentisch und bekam von seiner Mutter etwas Brot und ein Schälchen mit zerlassener Butter vorgesetzt. Eifrig fing Wladi an, das Brot in Stücke zu reißen und durch das noch warme Fett zu ziehen. Es schmeckte ihm köstlich, jedoch das bedrückte Gesicht der Mamuschka ließ ihn lieber schweigen.
Er verstand nicht, was geschah, aber er hatte die Erwachsenen belauscht und mitbekommen, dass viele Leute – auch die Funks von nebenan – die Stadt Chortitza verlassen wollten, weil Krieg war. Sie alle würden jetzt
Flüchtlinge sein. Und die Stadt zu verlassen bedeutete
Zugfahren!
Etwas hektisch weckte Mamuschka den kleinen Viktor, kleidete ihn an und gab ihm die letzte heiße Milch.
Eine knappe Stunde später war die
Familie abreisebereit.
Ein letztes Mal ging die Mamuschka mit Wladi an der Hand durch das kleine Haus. Fast die gesamte Einrichtung blieb einfach zurück, ihr standen die Tränen in den Augen. Wladis Blick fiel auf die schönen, matt glänzenden Pantoffeln des Vaters. Wladi hatte diese herrlichen Schuhe immer bewundert. Wie oft hatte er sich am Abend die Schuhe angezogen und so auf den Vater gewartet, bis dieser von seiner Arbeit in der Mühle nach Hause kam. Lächelnd hatte ihn dann der Vater aus den Pantoffeln gehoben, sie selber übergestreift und Wladi ins Bett getragen. Und diese Kunstwerke aus Lammfell und fest vernähter Ledersohle sollten ebenfalls einfach zurückbleiben? Wladi löste seine Hand aus der Mamuschkas. Diese machte sich seufzend daran, die kunstvoll bestickte Tagesdecke auf dem Bett glattzustreichen. Wladi überlegte einen Moment. Sein eigenes Reisebündel bestand aus einem kleinen Beutel aus Leinen, in dem er sein Spielzeugauto und fünf Bauklötze aus Holz mitnehmen durfte. Er sah sich um. Mamuschka hatte den Blick von ihm abgewendet. Blitzschnell zog er das Auto aus seinem Beutel und stopfte die wundervollen Pantoffeln des Vaters hinein. Mamuschka hatte nichts gesehen.
Es ging los. Der Vater, ein großer, kräftig gebauter Mann mit blauen, freundlichen Augen, hob die Jungen mit Schwung auf den vollgepackten Leiterwagen. Die Mamuschka hielt den kleinen Viktor an der Hand und ging neben dem Karren her, während der Vater die Deichsel mit beiden Händen griff, den Wagen zog und den kleinen Treck anführte.
Wladi wusste nicht, wie lange sie unterwegs gewesen waren, als sie endlich den Bahnhof erreichten. Dieser Zug! Die vielen Leute! Und das Stimmengewirr! Wladi konnte einige plattdeutsche Sprachfetzen ausmachen, jedoch verstand er so vieles, was gesagt und gerufen wurde, nicht, weil seine Mamuschka immer nur Russisch mit ihnen sprach und der Vater meistens schwieg. Jetzt unterhielt sich dieser aber angeregt auf
Plattdeutsch mit zwei anderen Herren aus der Flüchtlingsgruppe, dann wies er die Mamuschka an, in welchem Abteil sie die
Jungen und das nötigste Reisegepäck unterbringen sollte. Er selbst kümmerte sich anschließend um Kisten und Leiterwagen.
Endlich im Zug! Wann würde es losgehen? Da – ein Ruck … der Zug setzte sich in Bewegung und fuhr etwa 20 Meter weit. Dann hielt er wieder. Draußen schien das Getümmel unverändert hektisch und aufgeregt. Es quietschte, ruckte wieder, dann fuhr der Zug rückwärts. Wladi versuchte aus dem Fenster zu schauen und zu erkennen, was geschah, aber er konnte nicht verstehen, warum sie nicht endlich losfuhren. Stunden vergingen. Viktor weinte. Mamuschka gab den Kindern etwas Brot. Warten. Endloses Warten, drei Tage lang. Nach drei Tagen kam die enttäuschende Nachricht: es würde keine Zugfahrt geben. Die Bahnstrecke sei durch Bomben beschädigt worden, man müsse zu Fuß gehen.
Wladi weinte. Als er sah, dass auch seine Mamuschka den Tränen nahe war und Vaters Wangenknochen wütend bebten, riss er sich zusammen und versteckte seine Enttäuschung so gut es ging. Er drückte seinen Leinenbeutel an sich und war nicht mehr so sicher, ob es klug gewesen war, die Schuhe des Vaters mitzunehmen und sein Auto zurückzulassen.
Alle verließen den Zug. Die Stimmung war schlecht, viele Leute konnten ihre Wut nicht unterdrücken. Jetzt musste man auch das letzte Hab und Gut in den Kisten zurücklassen! Mamuschka und der Vater brachen ihre Kiste auf, um wenigstens mitzunehmen, was sie tragen konnten. Mamuschka stopfte ein paar warme Sachen in ein zusammengeknotetes Betttuch, der Vater zog seine nagelneuen, schweren Lederstiefel an und ließ die alten am Bahnhof zurück.
Zu Fuß ging jetzt die lange Reise von Chortitza am Dnjepr über Polen nach Deutschland los. Gegen Abend wurde es jetzt im Oktober bereits bitterkalt, aber Wladimir meckerte nicht. Seine Mamuschka schien verzweifelt zu sein und der Vater machte nach zwei Tagen Fußmarsch einen gequälten Eindruck, sein Gesicht war schmerzverzerrt.
Nach vier Tagen hatte Wladis Gruppe das Glück auf einen weiteren Flüchtlingstreck zu treffen. Diese hatten Pferdewagen! Wladimir und seine Leute fanden auf einem offenen Pferdekarren Platz.
Erst hier auf dem Wagen sah Wladi, warum sein Vater einen solch gepeinigten Gesichtsausdruck bekommen hatte: der zog sich seine Stiefel, die er in letzter Minute am Bahnhof angezogen hatte, aus und versuchte die blutverkrusteten Socken von den völlig wunden Füßen zu lösen. Mamuschka war ihm behilflich und strich etwas von der letzten Butter, die noch im Proviantpaket übrig war, auf die offenen Stellen.
Wladi bekam Herzklopfen. Bisher hatten weder Mamuschka noch der Vater gemerkt, dass er die Pantoffeln des Vaters an sich genommen hatte. Sollte er jetzt zugeben, dass ihn das Lammfell so fasziniert hatte, dass er sein Auto einfach stehen gelassen hatte?
Er kämpfte mit sich selbst. Erst als es hieß, dass man absteigen sollte und er Vaters entsetzten Blick bei dem Gedanken an die schweren, neuen Stiefel sah, zog Wladi schweigend die Pantoffeln aus dem Beutel.
An jenem Nachmittag im Oktober 1943, als Wladi seinem Vater die Pantoffeln überreichte, hätte kein Geschenk einem Flüchtling größere Freude gemacht, als neue, harte Lederstiefel gegen warme Lammfellpantoffeln eintauschen zu können.
Niemals hat Wladi den glücklichen Ausdruck im Gesicht seines Vaters vergessen. Die Wanderung nach Polen war noch lang, die Lammfellpantoffeln haben sie nicht heil überstanden. Jedoch trug der Vater die Pantoffeln, bis sie unterwegs einen längeren Halt einlegen konnten. Hier tauschte Mamuschka die harten Stiefel gegen passende, gebrauchte Arbeitsschuhe. Diese trug er dann während der ganzen Zeit auf der Flucht, beim Aufenthalt in Polen, bis zur Ankunft im Lager in Deutschland.
Fussnoten:
Freundschaft
Eugen Friesen
Mühsam und auf einen Stock gestützt ging Francisco die staubige Straße entlang. Die Sonne brannte auf seiner Haut und der Schweiß tropfte vor ihm auf den betonierten Bürgersteig. Die schwachen Beine, der gekrümmte Körper und das graue Haar zeugten davon, dass der Zahn der Zeit auch an ihm nicht tatenlos vorbeigegangen war. Die Augen lagen tief in den Augenhöhlen und das Haar war mit einem aus Kaktus angefertigten Bändchen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Um sich vor der brennenden Sonne und dem starken Nordwind zu schützen, setzte er sich unter einen der vielen am Wegrande stehenden Algarrobos. Die an ihm auf der Schotterstraße vorbeifahrenden Autos wirbelten viel Staub auf und erschwerten dem Greis das Atmen. „Wie ist das bloß möglich", dachte Francisco, „dass die `mennonitas’ so viel besitzen und doch so geizig sind. Den ganzen Vormittag bin ich von Haus zu Haus gegangen und habe gebettelt und habe nur zwei harte Galletas und einen Becher Wasser bekommen, und das auch nur, weil ich so starrköpfig war und nicht gleich davonging. Diese Welt ist wohl nur für die Weißen gemacht worden".
Als er so in Gedanken versunken unter dem spärlich Schatten spendenden Baum saß, wanderten seine Gedanken zurück in die Zeit, als die Mennoniten als arme, hilflose und doch tief gläubige Leute in den
Chaco gekommen waren. Damals war auch er noch ein Kind gewesen. Doch die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede waren damals nicht vorhanden, zumindest nicht so krass erkennbar gewesen. Ja, er konnte sich noch gut erinnern, wie er mit dem damals achtjährigen Jasch ewige Treue geschworen hatte. Beide, er der Sohn eines Lenguas und auch Jasch, der Sohn eines weißen Einwanderers waren zwei junge Menschen gewesen, die außer ihren vielen Erfahrungen wohl kaum was besessen hatten. Jasch hatte die kalten Schneestürme Russlands miterlebt, die Flucht aus Russland und die strapaziöse Reise in den
Chaco. Er, Francisco, war mit seinem Großvater durch die Wälder gezogen und hatte sogar schon einige Tiere mit seinem Bogen und Pfeilen erlegt.
Das alles lag jetzt so weit zurück, und doch konnte er sich gut erinnern, wie Jasch und er in der heißen Mittagszeit den kühlen Schatten eines Baumes gesucht hatten, so wie er es jetzt immer noch machte. Er hatte schon bald einigermaßen das
Plattdeutsch beherrscht, und so waren diese Zeiten eine schöne Erinnerung geblieben. Sie waren beide so unkompliziert und anspruchslos gewesen und hatten alles miteinander geteilt. Er hatte Jasch gelehrt, welche Früchte man gut essen konnte und welche ungenießbar waren. Sein weißer Freund dagegen hatte ihm heimlich das übriggebliebene Mittagessen gebracht und ihm von einem Gott erzählt, der alle Menschen liebt, ganz egal wie sie aussehen. Heute bezweifelte Francisco allerdings, ob es diesen Gott wirklich gab, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es doch Unterschiede gibt. In jener Zeit war es auch gewesen, als sie sich ewige Treue geschworen hatten. Nie wollten sie einander vergessen und immer würden sie einander helfen und zueinander stehen.
Doch diese Ewigkeit war durch ihm unverständliche Gründe auf eine kurze Zeit begrenzt worden. Schon nach wenigen Jahren der bereits geschilderten Zeit hatten Jasch und er sich immer mehr auseinandergelebt. Er war mit seinem Stamm in den Süden gezogen, und Jasch hatte geheiratet und sich ganz seiner Arbeit gewidmet. Das war der Anfang vom Ende gewesen, denn Jasch war reich geworden und besaß ein schönes Haus und ein großes Auto, während er, Francisco, immer noch bettelarm war und sich von wilden Beeren ernährte, zumindest wenn er mal einige aufspüren konnte. Ansonsten war er von den milden Gaben der anderen abhängig. Wie gerne würde er Jasch mal wieder sehen und sich mit ihm unterhalten. Irgendwie verspürte er tief im Inneren, dass sie beide wirkliche Freunde waren, obzwar sie sich schon so lange nicht mehr gesehen hatten.
Francisco hatte so nachdenklich dagesessen und seiner Kindheit nachgetrauert, dass er nicht gemerkt hatte, dass sich ihm jemand genähert hatte. Erst als dieser seine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er zusammen und schaute sich um. Durch den Tränenschleier hindurch erkannte er in dieser Person sofort seinen alten Freund. „Komm, Francisco", sagte dieser „wie welle mol eenen kolden
Tereré drintje foare".
Gemeinde oder Wirtschaft?
Eugen Friesen
Anton, der jüngere der beiden am Gespräch beteiligten Männer, schaute in die Ferne, als ob er etwas am Horizont suche, und biss sich auf die Unterlippe. Nach einer kleinen Denkpause begann er das Gespräch. „Du, Martin, ich mache mir viele Gedanken darüber, wie es mit uns Mennoniten weitergehen wird. Wir müssen uns neu definieren. Die meisten jungen Menschen hier in der
Kolonie wissen selber nicht, wer oder was sie sind. Manche halten sich für Deutsche, andere für Paraguayer. Dabei beherrschen die meisten weder die deutsche noch die spanische Sprache, geschweige denn das Guaraní".
Martin hatte schweigend zugehört und hin und wieder mit einem „Hm" seine Zustimmung gegeben. Er war einer der wenigen Männer der
Kolonie, die sich über die Identitätsfrage der Gemeinschaft Gedanken machte, weshalb er von vielen als „kritisch" abgestempelt worden war. „Natürlich ist die Frage nach der Nationalität eine sehr wichtige Frage, Anton. Allerdings scheint mir, wir sollten uns vor allem wieder auf dem geistlichen Gebiet neu definieren", gab er zu bedenken. „Meines Erachtens ist es viel wichtiger, dass jeder Bürger sich darüber Gedanken
macht, ob er überhaupt noch ein
Mennonit ist oder nicht". „Was willst du damit sagen? Willst du etwa behaupten, dass wir nicht mehr Mennoniten sind"? „Nein, so krass wollte ich es nicht ausgedrückt haben. Aber etwas ist schon dran. Sei mal ehrlich, Anton, kennst du die mennonitischen Glaubensprinzipien? Und wenn ja, bist du damit einverstanden, kannst du da mitgehen"? Anton blickte auf seine Schuhe, mit denen er einen Kreis in den feinen Sand machte. Offensichtlich war diese Frage nicht leicht zu beantworten, und man merkte es ihm an, dass er konzentriert darüber nachdachte.
Nach einer längeren Denkpause schaute Anton Martin in die Augen. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber mir scheint, dass ich darüber zu wenig weiß". Martin nickte ihm nur zu. Nach einer Pause sagte Martin: „Das Mennonitentum ist doch nicht rassen-, sprach- oder kulturbedingt, wie wir es oft interpretieren wollen. Das ist ein total falsches Verständnis vom Mennonitentum, und auch die Landbevölkerung hat leider diese verkehrte Vorstellung von uns. Mennoniten sind diejenigen, die nach den mennonitischen Glaubensprinzipien leben, egal welche Hautfarbe sie haben. Wir deutschsprachigen Chaqueños verstecken uns sozusagen unter dieser religiösen Decke und versuchen uns dadurch abzuschirmen". „Das müsstest du mir schon näher erklären, ich kann deinem Gedankengang nicht folgen". „Nichts einfacher als das", erwiderte Martin. „Ich bin nämlich der Meinung, dass wir längst keine Glaubensgemeinschaft mehr sind, sondern dass wir uns zu einer Volksgruppe mit beinah ausschließlich materiellen Interessen entwickelt haben. Das heißt konkret, dass wir zwar immer noch an einigen moralischen Maßstäben festhalten, diese jedoch nicht aus voller Überzeugung ausleben, sondern eher als Pflicht ansehen". „Kannst du mir ein Beispiel nennen"? „Aber natürlich. Die meisten Bürger halten ihr Wort nur scheinbar. Das heißt konkret, dass sie zum Beispiel ihren Zehnten nicht geben, dass sie Steuer zurückhalten, dass sie aus einem Pflichtgefühl zur Kirche gehen, dass sie sich ihren Mitmenschen gegenüber gleichgültig verhalten. So könnte man diese Reihe fortsetzen. Wo man nicht beobachtet wird, ist man niemandem gegenüber mehr verantwortlich". „Das kann ich mir vorstellen und meine, dass es auch einleuchtend klingt. Aber, wo denkst du sitzt da der Haken? Warum sind wir so"? „Die definitive Antwort habe ich auch nicht parat, ich kann aber Hypothesen formulieren und Vermutungen anstellen. Ein Grund scheint mir die immer stärker auftretende Selbstgerechtigkeit zu sein. Man ist sich der Gnade Gottes nicht mehr bewusst und meint, das Leben alleine meistern zu können. Man meint, sich den Himmel durch gute Werke verdienen zu können. Du wirst bestimmt zu bedenken geben, dass gute Werke doch wichtig und unentbehrlich sind. Ich bin einverstanden, und dennoch fehlt das Wesentliche, denn wo kein Glaube da ist, scheitern jegliche gute und gut gemeinte Werke".
Anton ließ sich das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen. Martin hatte wohl nicht ganz Unrecht. Es schien ihm jetzt so einfach und verständlich zu sein, und dennoch war er noch nie selber drauf gekommen. Martin war zwar viel älter als er, aber sie waren gute Freunde. Martin hatte in Anton immer wieder einen interessierten Zuhörer und Gesprächspartner gehabt, und dieser hatte schon viel von seinem alten Freund lernen können.
„Was wolltest du erst andeuten, als du sagtest, dass wir versuchen, uns mit dem Glauben abzuschirmen? Der Punkt ist mir nicht einleuchtend". Martin suchte nach passenden Worten, um es seinem Freund so einfach und deutlich wie möglich erklären zu können und antwortete langsam: „Nehmen wir das Prinzip der
Wehrlosigkeit. Warum haben wir, du und ich und alle Bürger dieser
Kolonie, denn keinen Militärdienst geleistet"?
„Na ja, darüber habe ich auch schon oft nachgedacht. Es ist schon komisch, dass alle Paraguayer diesen Dienst leisten müssen und nur wir davon befreit werden". „Wenn du das auch so siehst, dann haben wir eine gute Grundlage, um gemeinsam über die von mir gestellte Frage nachzudenken. Als unsere Väter auf der Suche nach einem neuen Zuhause waren, war die Frage der
Wehrlosigkeit eine der wichtigsten. Dabei sind wir bei einem der Glaubensprinzipien angekommen. Sie haben damals beim paraguayischen Präsidenten erreichen können, dass alle mennonitischen Jungen vom Militärdienst befreit werden. So weit, so gut. Doch wie sieht das heute aus? Man, das heißt, die heutige Jugend ist sich nicht mehr dessen bewusst, wo dieses Privileg herkommt. Alle genießen es, doch die wenigsten wissen es zu schätzen, und manchen ist es sogar total schnuppe. Dass das Prinzip der
Wehrlosigkeit bei uns schon ins Wanken gekommen ist, wird auch dadurch deutlich, dass immer häufiger die Richter eingespannt werden. Man ist nicht mehr fähig, ein Problem unter Brüdern zu lösen. Ist das nicht sonderbar? Ein weiteres Glaubensprinzip ist die Treue. Wie oft hört man in unseren Kreisen, wie über die Landesregierung geschimpft und geflucht wird. Es ist ja offensichtlich, dass es viel
Korruption im Lande gibt. Doch was hilft es, dauernd darüber zu schimpfen? Wir sollten viel mehr darum beten, dass Gott die regierenden Männer mit seinem Wort berührt und zur Umkehr auffordert. Wie schon gesagt, schimpfen wir dauernd über die Situation im Lande und ergreifen keine Initiative. Wir geben nicht einmal ein gutes Beispiel". „Ja, das stimmt. Denkst du an Betrug bei der Steuerangabe"? „Auch. Aber es gibt noch andere Dinge, die total verkehrt laufen. Schau dir die vielen `Mau – Autos’ an. Wie viele davon gibt es in unserer
Kolonie? Viele kaufen illegale Wagen, weil sie meinen, sich keinen legalen leisten zu können. Außerdem ist ihr Wagen ja gar nicht ganz illegal, da er ja nicht einmal bei der nationalen Polizei als gestohlen gemeldet worden ist. Was
macht das also schon? Sogar einige der
Prediger fahren solche Wagen. Was ist das für ein Beispiel für unsere Landbevölkerung"?
Noch lange dachte Anton an diesem Abend über das Gespräch nach. Obzwar es ihm schwerfiel, musste er dem alten Martin Recht geben. Es war doch nicht ganz einfach, das eigene Verhalten und das der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen.
Buchbesprechungen
Harry Loewen (Hrsg.), Road to Freedom. Mennonites escape the land of suffering (Pandora Press, Kitchener, Ontario, 2000).
Der Herausgeber dieses gut ausgetatteten und sehr lesenswerten Buches hat damit den russlandmennonitischen Vätern und Müttern, die in Zeiten der Verfolgung und sehr großen Leidens sich in der Sowjetunion und auf der Flucht für das Leben ihrer Kinder eingesetzt und ihnen den Glauben an Gott ermöglicht und damit zur Tradierung christlicher Werte beigetragen haben, ein würdiges Denkmal gesetzt.
Anlass für die Herausgabe dieses Buches war die 50 Jahr-Feier der Mennoniten in Kanada, die nach dem Zweiten Weltkrieg in das Land der Freiheit gekommen waren. Nach einer umfassenden historischen Einführung, die den geschichtlichen Kontext beschreibt und damit den Hintergrund der zahlreichen Einzelschicksale erhellt, bekommt der Leser Einblick in das Leben zahlreicher Menschen, die in Notsituationen mit Gottes Hilfe und dem Beistand ihrer Mitmenschen leiblich und geistlich überlebt haben. Von den ca. 35 000 Mennoniten, die die Sowjetunion im Zuge des deutschen Truppenrückzugs verließen, wurden jedoch 23 000 zwangsweise wieder zurückgeschickt und nur 12 000 gelang es, im Westen zu bleiben, um dann größtenteils in Kanada oder Südamerika eine neue Heimat zu finden.
Um dem Leser einen Eindruck von dem Inhalt des Buches zu vermitteln, sollen im Folgenden drei Erlebnisberichte kurz wiedergegeben werden.
Da ist z.B. Irene Jantz, die ihre Erlebnisse und Reflexionen in den dreißiger und vierziger Jahren ihrem Tagebuch anvertraut hat. Geboren 1925, verbrachte sie ihre Kindheit in Friedensfeld (Miropol), Ukraine, und musste sehr bald erfahren: „In Russland lebten wir immer in Angst. Keiner fühlte sich sicher, und da keiner sicher war, fürchteten wir uns auch voreinander". (S. 44) 1937 kam der „Schwarze Rabe" und führte den Vater in die Verbannung. Dieses erschütternde Erlebnis veränderte ihr Denken und ihr Leben. Sie wusste nun: der Staat hat nicht immer Recht und die kommunistische Ideologie verlor für immer ihre Anziehungskraft.
Doch auch die Begegnung mit den deutschen Soldaten brachte Ernüchterung mit sich. Zwar hatte ihre Mutter ihr beigebracht, die deutschen Soldaten seien Christen, da auf ihrem Koppelschloss „Gott mit uns" zu lesen sei, doch Zweifel daran kamen auf, als sie miterlebte, wie die SS vier führende Kommunisten auf offenem Feld exekutierte. Angesichts von roher Gewalt und schreiender Ungerechtigkeit, die sie hautnah miterlebt hatte, verspürte sie einerseits einen unbändigen Drang nach Freiheit, war sich aber andererseits ihrer weiblichen Ohnmacht voll bewusst: „Ich wünschte, ich wäre ein Mann, dann würde ich dafür kämpfen, diese Freiheit zu sichern. Ich würde nach den Sternen greifen, ein Stück dieser Freiheit erhaschen und sie zu den Menschen herabbringen". (S. 49)
Nach jahrelanger Trennung von ihrer Mutter fand sie diese in Westdeutschland wieder und konnte schließlich im Jahre 1948 nach Kanada auswandern, um dort ein Leben in Freiheit zu beginnen.
„Krieg ist die Hölle" – so die Erkenntnis von Siegfried Bartel, einem westpreußischen Mennoniten, der als Offizier am Zweiten Weltkrieg teilnahm, ein Todesurteil zu fällen hatte und von Massenerschießungen erfuhr. Als er dann direkt an der Front über den Kopfhörer friedenverheißende Weihnachtslieder aus dem gegnerischen Schützengraben zu hören bekam, begann bei ihm ein Sinneswandel, der ihn nach Beendigung des Krieges dazu bewog, sich im Rahmen der
MCC-Arbeit für den Frieden einzusetzen. Für ihn war nun klar: „Du kannst nicht deinen Feind lieben
und abdrücken" (S.118).
Welche Möglichkeiten sich besonders für die jüngere Generation in den neuen Ländern bot, zeigt die Lebensgeschichte von Alfred Hecht, der als Flüchtlingsjunge nach
Paraguay kam und später Geographieprofessor in Kanada wurde. In
Paraguay lernte er die Freiheit und Begrenztheit des Landlebens kennen, und in Kanada begriff er sehr schnell, dass man als unbemittelter Einwanderer nur durch Arbeit und Studium vorankommen konnte. Durch seine Wochenendarbeit an der Tankstelle verschaffte er sich die Möglichkeit zum Schul- und Universitätsbesuch und durch seine zielgerichtete akademische Arbeit wurde er Professor an der Wilfried Laurier University in Waterloo, Ontario und Gastprofessor an mehreren deutschen Universitäten.
Doch zu jeder Zeit betrachtete Hecht sich als
Mennonit, der durch sein
Plattdeutsch auch die Zweifler überzeugen konnte. Er war Sonntagsschullehrer, Mitglied des Gemeindevorstands und betätigte sich auch im Rahmen der MB-
Konferenz. Trotz Krieg und wirtschaftlicher Schwierigkeiten behielt er seine positive Lebenseinstellung, die ihm in Kanada akademischen und wirtschaftlichen Erfolg erreichen ließen.
In diesen Lebensbildern wird wiederholt betont, wie wichtig der Einfluss der Eltern und vor allem das Gebet der Mutter für ihre Kinder gewesen sind. Da die Väter von ihrem Verbannungort aus den Kindern kaum beistehen konnten, blieb die Last ihrer Versorgung und Erziehung oft auf den Schultern der Mütter und Großmütter. Sie waren es, die den Kindern den Glauben an Gott angesichts des atheistischem Unterrichts in Schulen und Hochschulen in ihrem täglichen Leben vorlebten, und sie waren es auch, die den Kindern in der neuen Heimat den Mut und das Selbstvertrauen zum Aufbau einer neuen Existenz vermittelten.
Harry Loewen und seinen zahlreichen Mitarbeitern aus Kanada, Deutschland, Südmerika und den Vereinigten Staaten ist zu danken, dass in diesem Buch das Drama des menschlichen Leidens, verursacht durch Gewalt und Unrecht, aber auch die Errettung aus schier ausweglosen Situationen, bewirkt durch Gottes Hilfe und die menschliche Nächstenliebe, dokumentiert worden ist. Das Buch ist ein beredtes Zeugnis von menschlicher Bosheit und göttlicher Liebe. Es zeigt aber auch, was Gottes Liebe im Leben eines Menschen bewirken kann, wenn er dafür empfänglich ist.
Dieses 302 Seiten umfassende Buch, eingeteilt in 10 Kapitel und mit einem Literaturverzeichnis versehen, überzeugt durch die Ehrlichkeit der Berichterstattung, die durch Interviews, Tagebücher, Briefe, Manuskripte und Artikel zustande gekommen ist. Die zahlreichen Fotos vermitteln einen unmittelbaren Eindruck von den berichtenden Personen und ihrer Erlebniswelt. Die historische Einleitung und die nachdenklichen Kommentare über Unmenschlichkeit und Vergebung im Schlusskapitel tragen dazu bei, die Einzelschicksale in das gesamte Weltgeschehen besser einordnen zu können.
Pandora Press und der Koproduzent Herald Press haben mit der Publikation von „Road to Freedom" ein Buch mit starkem Einband, gut lesbarer Schrift und hoher Bildqualität vorgelegt. Angesichts der vielen deutschsprachigen Interessenten wäre es wünschenswert, wenn die geplante deutschsprachige Fassung – möglicherweise in einer billigeren broschierten Ausgabe – recht bald erscheinen würde.
Jakob Warkentin
Peter P. Klassen, Die Mennoniten in Paraguay Bd. 1: Reich Gottes und Reich dieser Welt. Zweite erweiterte und aktualisierte Auflage. (Mennonitischer Geschichtsverein, Bolanden-Weierhof 2001), 480 Seiten.
Die erste Auflage dieses sehr informativen Buches über die
Mennoniten in Paraguay erschien 1988 und fand das Interesse zahlreicher Leser. Da es seit fünf Jahren vergriffen war, ist die Neuauflage zu begrüßen. Die Qualität des Druckes und der Bilder ist verbessert, die Lesbarkeit durch eine größere Schrift erleichtert und der Text um fast hundert Seiten erweitert worden.
Worum geht es in dieser Publikation? Klassen beschreibt nicht nur, sondern problematisiert die spezifische Situation der
Mennoniten in Paraguay, indem er auf den Grundkonflikt des Kolonisationsmennonitentums hinweist, „der daraus erwächst, dass die täuferische Glaubensgemeinde nach apostolischem Leitbild mit der Kolonisation eine ihren Grundprinzipien widersprechende Aufgabe übernehmen mußte, nämlich die der weltlichen Regierung". (S.8).
Das erste Kapitel dient vor allem der Hintergrunderhellung. Darin beschreibt Klassen die Einwanderungsgesetzgebung der paraguayischen Regierung sowie die zahlreichen Siedlungsversuche europäischer Einwanderer, die aber kaum zu dauerndem Erfolg führten, da sich unter den Immigranten nur wenige Bauern befanden. Auf Dauer sezten sich hauptsächlich die brasiliendeutschen Siedler in Itapúa, die deutschen Siedler um Villarrica, einige kleinere japanische Kolonien und die mittlerweile im ganzen Land verteilten
Mennonitenkolonien durch.
Mennonitische Landsucher und einflussreiche Persönlichkeiten eröffneten den Weg für das Siedlungsunternehmen kanadischer
Mennoniten in Paraguay, das jedoch erst konkrete Formen annahm, nachdem 1921 mit dem gesetzlich garantierten
Privilegium die Grundlage für die mennonitische Siedlungspolitik in
Paraguay geschaffen war.
Um das den
Mennoniten in Paraguay mit Gesetz 514 gewährte
Privilegium besser verstehen zu könnnen, untersucht Klassen die Gewährung mennonitischer Sonderrechte in mehreren europäischen Ländern und kommt zu der Feststellung: „Tatsächlich ist die Geschichte der Mennoniten eine Geschichte der Auseinandersetzung der Gemeinden mit dem Staat und seinen Ansprüchen und des Ringens um die Gewährung von Sonderrechten". (S. 56).
Parlament und Öffentlichkeit fiel es nicht leicht, den Mennoniten die Sonderrechte zuzugestehen, andererseits verbanden sie mit deren Einwanderung sehr große Hoffnungen. Das zeigt die Stellungnahme der Zeitung „Liberal" aus dem Jahre 1921, in der zu lesen war: „Sie werden eine Stadt im
Chaco bauen – nicht einen Staat im Staate -, und wir werden hingehen, um sie dort zu begrüßen, die Asuncióner, die Pilarenser, die Concepcioner und die Villarricaner, alle, die da hungert und dürstet nach der
Gerechtigkeit werden hingehen, die mennonitische Stadt zu sehen, wo das Motto unserer Fahne – Friede und
Gerechtigkeit – in den Herzen der Bürger strahlt, die den Namen Gottes ehren, die das Blut des Nächsten und auch das ihrer Feinde nicht vergießen wollen und die sich nicht am Gut des Nächsten bereichern" (S.74). Angesichts der Missachtung staatlicher Gesetze im ganzen Land sind diese Erwartungen gerade heute von großer Aktualität. Die Besucher sind inzwischen in den Koloniezentren allgegenwärtig, sie suchen jedoch Teilnahme am wirtschaftlichen Erfolg und ob die oben genannten Tugenden hier zu finden wären, selbst wenn sie gesucht würden, bleibt eine offene Frage.
Bilden die Mennonitensiedlungen in
Paraguay ein"mennonitisches Reich" oder gar einen „Staat im Staate"? Klassen weist auf ihre Eigenständigkeit auf religiösem, kulturellem, wirtschaftlichem und teilweise auch auf politischem Gebiet hin, hebt die damit verbundenen Vorteile hervor, verschweigt aber nicht die Schwächen, die in einem mangelhaften Rechts- und Ordnungswesen begründet sind.
Bezüglich
Kultur, Sitte und Brauchtum bieten die unterschiedlichen Mennonitensiedlungen in
Paraguay ein buntes Mosaik. Diese Unterschiede kann der Autor besonders deutlich am Erziehungs- und Bildungswesen zeigen. Jedoch in allen Mennonitensiedlungen, ganz gleich, ob sie konservativ oder fortschrittlich gesonnen sind, wirkt sich die „soziale Kontrolle" als eine strukturbewahrende
Macht aus.
Ob „Streit und Spaltungen zum Wesen des Mennonitentums gehören" (S. 379), sei dahingestellt, fest steht, dass die
Mennoniten in Paraguay, trotz der Zusammenarbeit auf vielen Gebieten, immer noch an der Eigenständigkeit ihrer Gemeinden, Verwaltungen, Kooperativen und Schulen festhalten.
Trotz unterschiedlicher „Formen und Normen" in den Mennonitengemeinden in
Paraguay stellt Klassen jedoch auch „Gemeinsamkeit in der Vielfalt" fest. Als Beleg nennt er die
KfK, die gemeinsame Missionsarbeit, die Bibelschulen, die Indianer-Beratungsbehörde sowie das Gemeindekomitee, in dem Oberschulzen und Gemeindeleiter gemeinsam geführte Projekte planen und beraten sowie anstehende Fragen miteinander klären.
Im letzten Kapitel greift Klassen nochmals die Frage nach den zwei Reichen auf, analysiert sie im historischen Kontext und kommt zu dem Schluss, dass sich der Grundkonflikt letzlich nicht lösen lässt und manche Fragen offen bleiben müssen. In Bezug auf die paraguayische Situation
macht er folgenden Vorschlag, der sich seit 1988 nicht verändert hat: „Sinvoller als eine radikale Integration des ´mennonitischen Systems´ in die Verwaltungsstruktur des Staates wäre wohl eine schrittweise Angleichung, ein Abbau von schroffen, abweisenden Normen und eine Übertragung der bewährten Methoden, vor allem der Wirtschaftsführung, auf einen möglichst weiten Umkreis über die Grenzen der Kolonien hinaus. Die Ausschaltung möglichst aller diskriminierenden Faktoren und die Einbeziehung möglichst vieler Normen des öffentlichen Rechts in die Verwaltung würden damit Hand in Hand gehen müssen" (S. 459f).
Die veränderte politische Situation in
Paraguay seit 1989 und deren Auswirkungen auf die
Mennonitenkolonien wird von Klassen an einigen Stellen kurz angsprochen, so z.B. auf S. 272 ff und S. 460. Eine eingehende Analyse der mennonitischen Beteiligung an der
Politik, so z. B. durch die Stellung eines eigenen Abgeordneten und Gouverneurs oder eine Beschreibung der veränderten politischen Bewusstseinslage der mennonitischen Bürger hat er nicht geliefert. Vielleicht ist es auch noch zu früh und die Erfahrung zu kurz, um hier schon stichhaltige Ergebnisse aufzeigen zu können.
Bei der Fülle des kenntnisreich aufbereiteten Materials, das vom Autor in gut lesbarer Form präsentiert und in ansprechender Buchform vorgelegt wird, bleibt zu wünschen, dass das zu Recht neu aufgelegte Buch viele Leser findet.
Jakob Warkentin
Verein zur Erforschung und Pflege des russlandmennonitischen Kulturerbes (Hrsg.), Aber wo sollen wir hin. Briefe von Russlandmennoniten aus den Jahren ihrer Gefangenschaft, Verbannung und Lagerhaft in der Sowjetunion (Verlag Hirtenstimme e. V. Frankenthal 1998).
Diese den Leser beeindruckende Briefsammlung wurde von Julia Hildebrandt, Heinrich Klassen und Gerhard Wölk redigiert und mit einer ausführlichen Einführung über die Zeit und die Umstände, in denen die Briefschreiber lebten, versehen. Sie umfasst die Zeitspanne von 1932 bis 1971. Die Verfasser der Briefe sind „authentische Zeugen des während der kommunistischen Herrschaft verübten Unrechts an den eigenen Staatsbürgern. Vor allem aber eröffnen die Briefe einen Zugang zum Verständnis derjenigen Menschen, die sie einst in Unfreiheit und schwerer Bedrängnis schrieben" (S. 11).
Die Verhaftungswelle erreichte in den Jahren 1936-38 ihren Höhepunkt. Über die in dieser Zeit verbannten Menschen weiß man am wenigsten, da sie keine Schreiberlaubnis hatten und viele von ihnen sehr bald ihr Leben lassen mussten. Andere wiederum, die 1943/44 über Polen bis nach Deutschland gelangt waren, wurden zwangsweise in die Sowjetunion zurückgebracht, wo sie bis 1955 in Wäldern, Kohlen- und Uranbergwerken unter äußerst schwierigen Bedingungen Schwerstarbeit zu leisten hatten. Von ihnen gelangten Briefe in die Außenwelt. Sie erhielten aber auch Briefe von ihren Angehörigen, die sie trösteten und ihnen Kraft zum Überleben gaben. So half und tröstete man sich gegenseitig: „Und keinen der Männer, deren Briefe hier vorliegen", so die Meinung der Redaktion, „ließ das Gottvertrauen ihrer Frauen, Schwestern und Mütter gleichgültig." Und an anderer Stelle schreiben sie: „Manche Familienväter erziehen und belehren ihre Kinder auch aus der Ferne, alle sprechen ihnen Mut zu. Häufig wird damit auch die Mahnung verbunden, fleißig zu lernen, um ja nicht zurückzubleiben" (S. 19).
Hier ein Beispiel: Ältester Jakob Rempel, der es in Russland vom „Stallknecht zum Dorfschullehrer geschafft" hatte, in Basel ein Predigerschule besucht und anschließend an der Universität Theologie und Philosophie studiert hatte, wurde nach erfolgreicher Lehrtätigkeit an mennonitischen Schulen in Russland 1920 an die Universität von Moskau als Professor für Germanistik berufen. Als er jedoch gleichzeitig zum Ältesten einer
Mennonitengemeinde gewählt wurde, veränderte sich sein Leben, das schließlich in der Verbannung endete. Am 7.7.1930 schrieb er an seine
Frau Sonja:
„Herzlichen Gruß Dir und den Kindern aus dem weiten Norden. Noch bin ich am Leben und gesund, leide zwar etwas an Herzerweiterung. Vor drei Tagen schickte ich eine Postkarte an Euch ab, auf der ich Dich um Verschiedenes bat.[…]
Aber ich möchte durchaus nicht haben, dass Du von dem schickst, wovon Ihr selber nicht genug habt. Mir fällt es schwer genug, Dich mit diesen Bitten zu belästigen. Dein schweres Leben kann ich mir gut vorstellen. […]
Auch Euch, Kinder bitte ich um ein paar Worte. Seid gehorsam, lernt, auf dass Ihr unter keinen Umständen zurückbleibt" (S. 49).
Und Elisabeth Teichröb, geb. Reimer, die vier Schwestern und zwei Brüder durch die Einwirkung von Straflagern und Gefängnissen verloren hatte und deren Mann 1932 verhaftet wurde, schrieb 1933 an ihre Schwester Katharina in Kanada: „Von meinem Mann habe ich schon 2 ½ Monate keine Nachricht. Es wird erzählt, dass im Gefängnis von Bachmeter der Hungertyphus ausgebrochen ist. Da fahren sie die Leichen autoweise auf den Kirchhof. Was soll man machen? Warten und warten, beten und beten, weiter kann man gar nichts tun. Er mag schon längst begraben liegen. Ich habe schon im Gefängnis angefragt, sie sollen mir berichten, ob er noch lebt oder nicht. Nun warte ich auf Nachricht. Ach wie ist das Leben so schwer! Gäbe der liebe Gott nicht immer neue Kraft, wir wären längst verzagt" (S. 75).
Neben dem vielen Leid, über das die Briefschreiber berichten, steht jedoch das unerschütterliche Gottvertrauen, das ihnen die Kraft zum Überleben und, wenn nötig, auch zum Sterben vermittelt. Mit Bibelversen und Gedichten tröstet man sich gegenseitig. Und oft müssen verschlüsselte Botschaften weitergegeben werden, damit sie die Zensur passieren. Dazu sind Phantasie und Einfallsreichtum erforderlich. Auch schöpferische Kräfte werden mobilisiert, wenn es darum geht, die eigene Erfahrung in Gedichtform zu verarbeiten.
Dem Verein zur Erforschung und Pflege des russlandmennonitischen Kulturerbes ist zu danken, dass diese Zeugnisse der leidgeprüften Menschen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, und dem Redaktionsteam gebührt Lob und Anerkennung für die mühevolle Sammeltätigkeit und für die sorgfältige und kenntnisreiche redaktionelle Arbeit. Es bleibt zu wünschen, dass dieses aufregende und nachdenklich machende Buch zahlreiche Leser findet und sie zu einem besseren Verständnis von der menschlichen Leidens- und Liebesfähigkeit führt.
Jakob Warkentin
John D. Thiesen, Mennonite & Nazi? Attitudes Among Mennonite Colonists in Latin America, 1933 – 1945 (Pandora Press, Kitchener, Ontario, 1999), pp. 329.
Der Titel des Buches ist etwas provokativ – wohl absichtlich – aber der Untertitel umreißt den Inhalt des Buches ganz gut, „Auffassungen bei den mennonitischen Kolonisten in Lateinamerika".
Die drei behandelten Länder sind Mexiko, Brasilien und
Paraguay. Für Mexiko ist die Fassung kurz, acht Seiten und drei Fotos. Der Situation in Brasilien werden 25 Seiten und 5 Fotos gewidmet, während
Paraguay, besonders
Fernheim, auf 172 Seiten, mit 15 Fotos, beschrieben wird. Darauf folgen noch 52 Seiten informative Fußnoten und 22 Seiten Bibliographie. Es ist bis jetzt das umfangreichste Werk über dieses umstrittene Thema – ein kleines Lexikon über die Nazifrage bei den Siedlern, sehr hilfreich für zukünftige Forscher. Auch die Quellen aus dem nationalen Archiv in Washington sind darin angegeben.
Meines Wissens ist dieses das erste Buch über dieses Thema in englischer Sprache. Es bietet einen umfassenden Blick in die Nazibewegung (in
Paraguay zieht man den Begriff „völkische Bewegung" vor) bei den Mennoniten Fernheims und Frieslands. Thiesen hat mehr als zehn Jahre Forschungsarbeit auf dieses Thema verwendet, ausgehend von einer Diplomarbeit zum selben Thema. Die zur Verfügung stehenden Quellen waren sehr vollständig. Forschung und Bewertung zu dieser Episode begann mit Postmas Buch „
Fernheim = fernes Heim" (besonders wertvoll, weil es kurz nach den Ereignissen geschrieben wurde). Danach schrieben G. Ratzlaff und Peter P. Klassen. Thiesen hat also viel Material verarbeitet, und er hat es gründlich gemacht. Englische Leser haben jetzt ein Werk das jene dramatische und sensible Periode gründlich beschreibt, eine Periode die allgemein schwerverständlich ist, wegen ihres widersprüchlichen religiösen, kulturellen und emotionalen Kontextes.
Die
Kolonie Fernheim wurde 1930 durch russlandmennonitische
Flüchtlinge gegründet, unterstützt vom
MCC und der deutschen Regierung. Alle wären lieber nach Kanada eingewandert. In
Paraguay herrschten verzweifelt schwere Bedingungen. Anfänglich zweifelten die Siedler, ob es je möglich sein würde, in dieser Wildnis zu überleben. Wenn, dann könnte das nur mit Hilfe von außen geschehen. Als Hitler, ein starker Antikommunist, das neue Deutschland gründete und Interesse an Deutschen im Ausland bekundete, schöpften die Mennoniten Fernheims Hoffnung. Alle Ereignisse müssen im Licht dieser traumatischen Szene gesehen werden. Für Fernheimer sind es sehr sensible Ereignisse, für Außenseiter sind diese hochinteressant zu lesen.
Thiesens Beschreibung der Mennoniten Paraguays beginnt mit dem jugendlichen Aktivismus (Kap. 4). Er berichtet wie die völkische Bewegung in
Fernheim bereits 1933 voll im Gange war (S. 104). Er beschreibt die Tätigkeiten des Jugendbundes, die grundsätzlich deutsche (völkische) und christliche Haltungen fördern wollten. Diese zwei Begriffe waren nach den Worten von Julius Legiehn identisch: „Deutsch leben ist so viel als heilig und keusch leben … die Deutschheit schließt alle Tugenden der Vorfahren in sich… Nach dieser Deutschheit müssen wir streben, sie müssen wir pflegen"(S. 91). Fritz Kliewer, der einflussreiche und kontroverse Leiter dieser Bewegung, äußerte bei einer Gelegenheit: „Hingabe an Gott ist eng verbunden mit Loyalität zu unserem angestammten Volkstum. Rasse und Volkstum sind Teil der Schöpfungsordnung"(S. 103). Ein guter Christ sein, bedeutete also ein guter Deutscher zu sein, und umgekehrt auch. Ohne wesentliche Proteststimmen war dies der Hauptstrom des Denkens in
Fernheim, und Thiesen beschreibt es richtig.
In Kap. 5 wird die schwierige Wirtschaftslage im
Chaco erklärt sowie die Abwanderung eines Drittels der Siedler nach Ostparaguay, wo sie
Friesland gründeten. In diese Zeit fallen auch die Proteststimmen in der völkischen Bewegung. Thiesen hat es richtig erfasst, dass die Spaltung nicht aufgrund von Deutschtum, sondern aufgrund eines wichtigeren mennonitischen Prinzips, nämlich der
Wehrlosigkeit, erfolgte. Diese war in Gefahr preisgegeben zu werden. Eine starke Stimme war die von Nikolai Siemens, Schriftleiter des Mennoblattes. „Wenn wir in Wort und Tat an der
Wehrlosigkeit festhalten, so halten wir doch auch zum Deutschtum, in welches wir nicht durch Menschenhand, sondern durch den Schöpfer hineingepflanzt wurden" (S. 131).
Unter dem Titel „Neue Entschlossenheit" wird in Kap. 6 die wachsende Spannung beschrieben. Einerseits die Proteststimmen, andererseits die Bemühung, das Deutschtum zu stärken mit konkreten Vorbereitungen für eine Rückwanderung nach Deutschland oder in die Ukraine, falls Hitler, der als erwähltes Werkzeug Gottes galt, den Kommunismus besiegen würde. In diesem Kapitel geht es auch um die verstärkte Stellungnahme des
MCC und seiner Arbeiter gegen die völkische Bewegung und für „die fromme Gruppe". „John Schmidt unterstützte öffentlich die anti-völkische Gruppe", sagt Thiesen (S. 150).
„Das Ende der völkischen Bewegung" ist das Kapitel der traumatischen Ereignisse unter Fernheimer Mennoniten. Heute noch wünscht man, dass diese Vorfälle nie passiert wären. Auch gibt es heute noch wunde Gefühle bei solchen die dabei waren und deshalb wird das Thema vorsichtig gehandhabt, obwohl jüngere Leute durchaus offen sind, darüber zu diskutieren. Thiesen hat diese traurige Episode mit allen Details aufgerollt (sogar dramatisiert) und er braucht dazu Dokumente, die lange unter Verschluss waren, unter anderem die zensierten Briefe, die von der US-Botschaft in
Paraguay abgefangen wurden und in Washington gelagert waren. Wenn dies auch nicht die zuverlässigsten Quellen sind, so bestätigen sie, was man bereits wusste, nämlich die Einmischung der US-Regierung in den Kolonieangelegenheiten.
Das Buch als Ganzes ist gut geschrieben und dokumentiert. Es sind ein paar Fehler da, die nur für dem „Insider" auffallen. Wenn man bedenkt, dass Thiesen keine Feldforschung gemacht hat, muss man sagen, er hat sehr gute Arbeit geleistet. Nun wird aber die Interpretation der Tatsachen und Dokumente unterschiedlich ausfallen, je nach Motivation der Forschung. Das sollte respektiert werden. Im Blick auf das delikate Thema und von einem paraguayischen Blickwinkel her gesehen, fragt man sich, ob der Autor sich nicht besser etwas vorsichtiger ausgedrückt hätte – schon nur aus Respekt vor seinen mennonitischen Geschwistern in
Paraguay. Ein paar Beispiele dazu:
Das Foto auf dem Deckel zeigt Primarschüler beim
Sport. Die Erklärung dazu lautet. „Die kämpfende Jugend wurde zum Hauptinstrument der Naziideen in
Fernheim…" Alle befragten Personen in
Paraguay, die das Foto sahen, fanden die Erklärung irreführend und entstellend. Sie fragten sich unmittelbar, was wohl die Absichten des Autors seien. Das erste Kapitel beginnt mit dem Zitat „Man ist entweder ein Deutscher oder eine Christ. Beides kann man nicht sein" – Adolf Hitler. Ist dieses Zitat auf Mennoniten gemünzt?
Das Kapitel über Brasilien beginnt mit dem Zitat „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden". – Immanuel Kant. Oder Ausdrücke wie „gewaltsamer Ruf zu den Waffen" S. 91 „Gewaltsam konfrontierender Artikel" S. 96 … War es das wirklich? Solche Vergleiche und Behauptungen werden beleidigend wirken für Leser auf diesem Ende.
Im Schlusskapitel des Buches äußert der Autor nochmals: „Die Begegnung der Mennoniten Lateinamerikas mit dem Nationalsozialismus hinterließ ein bleibendes Erbe von Bitterkeit, besonders in
Paraguay. Dieses Buch wird wohl nichts dazu beitragen, um dieses Erbe abzubauen". (S. 226). Eine solche Haltung beim Schreiben eines Buches finde ich sehr bedauerlich. Vielleicht sollten wir im nächsten Buch die versöhnenden Kräfte hervorheben, die es bei dieser traumatischen Episode und ihrem Nachklang ebenfalls gab. Wäre das nicht in Übereinstimmung mit unseren mennonitischen Prinzipien? Oder vielleicht wäre eine Friedenskonferenz über dieses Thema angesagt, an der alle beteiligten Gruppen teilnähmen. Das würde sicherlich zur Heilung noch vorhandener Wunden beitragen, sowie auch zur Versöhnung gegensätzlicher Einstellungen.
Gerhard Ratzlaff
Edgar Stoesz and Muriel T. Stackley, Garden in the Wilderness. Mennonite Communities in the Paraguayan Chaco 1927 – 1997 (CMBC Publications, 1999), 219 pp.
Beim Archiv der
Kolonie Fernheim herrschte Hochbetrieb. Der Fotograf Mark Beach sortierte die alten Photos nach brauchbaren Szenen der Ansiedlung. Edgar Stoesz suchte nach Daten in Protokollen und Korrespondenz der Kolonieverwaltung. Nur in kurzen Momenten konnten wir über den Charakter des Buches sprechen, welches zu schreiben er sich vorgenommen hatte.
„Ich möchte ein `coffee-table Buch’ (Bildband)produzieren" sagte er. Auf den Einwand, dass wir solche Bücher schon durch die verschiedenen Jubiläumsschriften der Kolonien zur Verfügung hätten, war seine Antwort die, dass es jetzt eben um ein englisches Werk dieser Art gehe. Erie Sauder habe ihn beauftragt, eine Geschichte zu schreiben, welche die junge Generation in Nordamerika ansprechen würde. Diese sei nämlich in Gefahr, ein wesentliches Kapitel der Geschichte des
MCC zu vergessen. Also äußerte Stoesz die Absicht des Buches sehr klar: „Es ist ein Buch voller Lob, welches eine Erfolgsgeschichte nacherzählt". Und noch einmal auf S. 4 „Das Buch ist absichtlich voller Lob".
Es ist ein Bericht über die mennonitische Kolonisation des
Chaco aus der Perspektive eines sympathisierenden Beobachters, der das
MCC repräsentiert. Indirekt dürfte man es auch als Bewertung dieses großen Projektes in den ersten drei Jahrzehnten der Pionierarbeit ansehen. Ein leichtes Unbehagen oder zumindest einige offene Fragen bezüglich der Autoritätsstrukturen und Entscheidungen ist über die Jahre spürbar geblieben. Stoesz deutet das an, wenn er sagt „Abhängigkeit zieht unweigerlich Entrüstung nach sich"(S. 207). Aber er baut auf das Sprichwort „Ende gut, alles gut". Und die Schlussfolgerung ist, dass es schlußendlich doch ohne Vorbehalte als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet werden darf. Die Mennoniten waren erfolgreich, wirtschaftlich, politisch und geistlich. Ihre Interaktion mit den
Indianerkulturen des
Chaco, wenn auch von ethnozentrischen Fehlern begleitet, war doch beispielhaft. Ihr Beitrag zu dem Land, welches in schwieriger Zeit die Türen öffnete, kann heute nicht übersehen werden.
Inhaltlich ist das Buch in vier Abschnitte geteilt:
1) Geschichte (des Landes);
2) Fremde befreunden sich in der Wildnis;
3) Gemeinschaft wird in der Wildnis gebaut;
4) Heute.
Der Erzählstil ist durchgehend auf Einzelpersonen konzentriert. Dadurch werden die historischen Berichte persönlicher und leserfreundlich. Die „von-bis" und „früher-jetzt" Dialektik ist durchgehend zu verfolgen und entspringt der Absicht, den Fortschritt in allen Bereichen des Gemeinschaftslebens zu betonen. Alle wichtigen Bereiche werden tatsächlich abgedeckt, Gesundheit, Erziehung, Kommunikation, Verwaltung, Wirtschaft,
Gemeinde und Mission, Freizeit und die interkulturelle Begegnung.
Für Leser, die nicht bekannt sind mit den unterschiedlichen Mennonitengruppen, die im
Chaco siedelten, gibt es eine Erklärung über ihre Ursprünge und über die Beweggründe für ihre
Wanderungen.
In Kapitel 18 wird die Zukunft ins Blickfeld gerückt. Wie weit hat Integration stattgefunden? Wie wird es damit weitergehen? Wie wird man den wirtschaftlichen sowie kulturellen Spalt zwischen mennonitischen Siedlern und der umgebenden Bevölkerung überbrücken? Der Autor hebt auch den warnenden Zeigefinger und plädiert dafür, Russland nicht zu vergessen. Dort hat man „die Zeichen der Zeit" nicht wahrgenommen. Deshalb war das Verhängnis während der Anarchie und während der Kulakensäuberungen umso größer.
Es muss betont werden, das der Autor dass erreicht hat, was die Absicht des Buches ist. Es bietet einen panoramaartigen Überblick über die 70-jährige Siedlungeschichte im
Chaco. Für Leser in Kanada und den USA, wird es eine wertvolle Informationsquelle darstellen, aber auch für Leser hier in
Paraguay. Deshalb wurde sofort mit einer spanischen Übersetzung angefangen, die letztes Jahr schon unter dem Titel „Tierra de Refugio, Patria adquirida" publiziert wurde. Weil die spanischsprachige Literatur zu diesem Thema noch mangelhaft ist, fand dieser Titel in der paraguayischen Gesellschaft große Aufmerksamkeit.
Dieses Buch kann und will nicht die wissenschaftliche Arbeit zur Geschichte der
Mennoniten in Paraguay ersetzen. Einzelaspekte davon verlangen eine gründliche Erforschung, wie z. B. die Beziehungen zu
MCC während der völkischen Zeit, die interethnische Begegnung oder die ökologischen Auswirkungen der Siedlungen. Für die jetzige Generation eröffnen sich neue Möglichkeiten, die Geschichte zu erforschen. Wäre es nicht angesagt, dass Historiker aus Nord und Süd darin kooperieren?
Gundolf Niebuhr
Zuschriften
Zur Klärung des Begriffs „Altkolonier"
Heinrich Ratzlaff
Im „Jahrbuch für Geschichte und
Kultur der
Mennoniten in Paraguay", Jahrgang 1, November 2000, herausgegeben vom „Verein für Geschichte und
Kultur der
Mennoniten in Paraguay" befindet sich ein Beitrag von Hans Theodor Regier unter der Überschrift: „Die Altkolonier in
Paraguay". Darin werden irrtümlicherweise auch die
Sommerfelder, die
Bergthaler und die Kolonien
Reinfeld und
Santa Clara zu den „Altkoloniern" gezählt. Das Missverständnis kommt wahrscheinlich daher, dass die mennonitische Gruppe, auf die sich der Name „Altkolonier" exklusiv bezieht, im Verhältnis zum Gesamtmennonitentum nur klein ist und selbst kaum einmal von sich reden gemacht hat, und dass daher oft nicht zwischen Herkunft und exklusiver Bezeichnung unterschieden wird. Nach der bloßen Herkunft aus der ältesten mennonitischen
Kolonie in Russland, nämlich Chortitz, wären auch viele Neuländer und wohl auch manche Fernheimer als Altkolonier zu bezeichnen.
Die ausschließliche Bezeichnung dieser Gruppe als „Altkolonier" ist in
Manitoba entstanden. Die „Mennonite Encyclopedia" welche die Entstehung dieses Begriffes im 4. Band ausführlich behandelt, stellt gleich im ersten Satz kurz und präzise fest: „Altkolonier Mennoniten, eine sozioreligiöse Gruppe, die in
Manitoba entstanden ist".
(1) Der geschichtliche Werdegang, der dazu geführt hat, dass die Gruppe diese Bezeichnung erhielt, wird in der Mennonite Encyclopedia, besonders aber auch von Martin W. Friesen in seinem Buch „Neue Heimat in der Chacowildnis" ausführlich behandelt.
Wegen der entstandenen Landnot in der ältesten mennonitischen
Kolonie in Russland, Chortitza, wurde im Jahre 1836 etwa 200 Kilometer nach Süden hin die erste Tochtersiedlung gegründet. Sie erhielt nach dem Dorf, in welchem sich das Verwaltungszentrum befand, den Namen
Bergthal. Land in der Nähe der alten Siedlungen war wohl nicht mehr zu erwerben. Daher pachtete später eine andere Gruppe, ebenfalls aus der alten Siedlung Chortitza, Land von einem Fürsten und gründete dort 5 Dörfer. Die Siedlung erhielt den Namen „Fürstenland". Die Bewohner beider Tochtersiedlungen stammten also aus der alten
Kolonie und viele waren bestimmt noch miteinander verwandt. Die Ältesten dieser beiden Gemeinden z.B. waren Vettern. Der Älteste der
Bergthaler Gemeinde hieß Gerhard Wiebe, der Älteste der Fürstenländer
Gemeinde Johann Wiebe.
Als die russische Regierung in die mennonitischen Privilegien eingriff, waren es zuerst die
Bergthaler, die sich auf keinen Kompromiss einließen, sondern bis auf wenige Familien, geschlossen das Land verließen und nach Kanada auswanderten. Zuvor hatten sie Delegierte ausgeschickt, in ganz Nordamerika Siedlungsmöglichkeiten in Verbindung mit allen traditionellen Sonderrechten zu erkunden. Die Fürstenländer hörten davon und fassten den Entschluss, sich dieser Auswanderungsbewegung anzuschließen. Dazu schreibt Martin W. Friesen in dem erwähnten Buch:
„Als die Bergthaler im Jahre 1873 ihre Deputierten nach Amerika geschickt hatten, waren auch die Fürstenländer an dieser Erkundigung interessiert gewesen. Sie hatten aber von ihren Brüdern niemanden mitgeschickt, sondern nur bestellt, die Bergthaler Deputierten möchten auch für sie Siedlungsmöglichkeiten ausfindig machen. Das hatten die Bergthaler Brüder getan".
Hier bestand also noch eine ungetrübte Eintracht zwischen diesen Gemeinden. Die
Bergthaler Delegation hatte sich für Kanada entschieden und im südlichen
Manitoba beiderseits des Red River Land reserviert. Die beiden Landstücke erhielten nach der Himmelsrichtung die Bezeichnungen „
Ostreserve" und „
Westreserve". Die
Bergthaler hatten für sich den östlichen Teil erwählt, weil dort Wald und einzelne Bäume waren. Der westliche Teil war offene Prärie, aber fruchtbarer, wie sich später herausstellte. Daher siedelten später viele aus dem östlichen Teil in den westlichen Teil über. Die Fürstenländer kamen ein Jahr später und siedelten im westlichen Teil. Ihnen hatten sich in Russland viele auswanderungswillige Familien aus der alten
Kolonie Chortitza angeschlossen. Weil diese selbst keinen Ältesten unter sich hatten, schlossen sie sich der
Gemeinde der Fürstenländer unter dem Ältesten Johann Wiebe an und bildeten mit diesen zusammen eine geschlossene Gruppe. Martin W. Friesen schreibt dazu:
„In Manitoba bildeten nun die Fürstenländer mit den ihnen sich angeschlossenen Familien aus Chortitza eine geschlossene Siedlungsgruppe und eine selbständige Gemeinde, die zunächst noch keinen gemeinsamen Namen hatte. Sie wählten sich dann den Namen `Reinländer Mennonitengemeinde‘. Von den anderen wurden sie jedoch einfach die `Altkolonier’ genannt".
In der „Mennonite Encyclopedia" heißt es:
„Die Bergthaler Delegation hatte während ihrer Untersuchungsreise 1873 offensichtlich die Ostreserve für sich ausgewählt und die Westreserve für die Fürstenländer und die Familien aus Chortitza gelassen, von welchen die ersten im Jahre 1875 in der Westreserve eintrafen. So entstand in der Westreserve die Siedlung der Mennoniten aus dem Fürstenland und aus Chortitza, wo sie die `Reinländer Mennonitengemeinde‘ gründeten, die später als die `Altkolonier Gemeinde‘ bekannt wurde. Anfänglich wurde diese Bezeichnung angewandt, um sie von den Bergthalern zu unterscheiden. Offensichtlich gab es niemals einen Grund, die Fürstenländer Mennoniten von denen aus Chortitza zu unterscheiden, die zusammen auf der Westreserve ansiedelten".
Hier ist es, und dies sind sie. Diese Gruppe und spätere Gruppen, die als Nachkommen von diesen „Altkoloniern" stammen, werden in der mennonitischen Literatur unter dem Namen „Altkolonier" behandelt, so zuerst wohl von Walter Schmiedehaus, dann von Leonhard Sawatzky, Calvin Redekopp u.a. Die Festigung dieses Begriffs und auch der starke Unterschied in der Lebensgestaltung der Altkolonier liegt aber wohl hauptsächlich in dem späteren Zerwürfnis mit den Bergthalern begründet, mit welchen sie in der Auswanderungssache aus Russland noch so harmonisch zusammengearbeitet hatten. Das Zerwürfnis kam dadurch zustande, dass die „Altkolonier", wie sie nun genannt wurden, eine besonders starke Abgrenzung von „der Welt" durch strikte Formen in Kleidung, Gesang, Siedlungsform, Häuserbau und innere Einrichtungen usw. anstrebten und die
Bergthaler aufgrund ihrer liberaleren Einstellung darin nicht mitmachten. Sie strichen ihre Häuser an, trugen Krawatten, fuhren später Autos und gebrauchten
Telefon, Radio und elektrischen Strom usw. Friesen schreibt: „Denn wie sie es in Russland miteinander verabredet hatten, wollten sie gemeinsam vorgehen". Der Älteste Gerhard Wiebe hatte aber in Kanada viel von seiner Autorität eingebüßt und konnte daher diese Verabredung nicht mehr einhalten.
Der Konflikt hat sich anscheinend zuerst in der Frage des Kirchengesanges entzündet und sich dann später durch andere Dinge verschärft. Friesen schreibt: „Zwischen den Altkoloniern und Bergthalern entstand aber in der Folgezeit, als zu diesem Gesangeskonflikt noch andere Unstimmigkeiten hinzukamen, eine Kluft, die nicht mehr überbrückt werden konnte. Es hat auch später keine Zusammenarbeit mehr gegeben". Und an anderer Stelle:
„Die Spannung zwischen den zwei Gemeinden wuchs sich allmählich zu einer unüberbrückbaren Kluft aus. Die Altkolonier untersagten schließlich ihren Gliedern jeglichen Verkehr mit den Bergthalern. Es war eine trübe Zeit bitterster Auseinandersetzungen wegen in Wirklichkeit unwesentlicher Dinge. Die Altkolonier isolierten sich jetzt nach allen Seiten und ließen sich mit keiner anderen Gemeinde mehr ein, pflegten auch in keinerlei Angelegenheiten mehr Gemeinschaft mit anderen. Selbst in der schweren Zeit des I. Weltkrieges, als die Gemeinden Manitobas und Saskatchewans die Fragen der Wehrfreiheit und der Schulfreiheit erneut gemeinsam besprachen und geschlossen damit vor die Regierungsbehörden traten, beteiligten sich die Altkolonier an keiner der Verhandlungen und Besprechungen. Sie hielten vielmehr ihre Beratungen abgeschlossen von allen anderen und traten auch nur von sich aus und allein mit ihren Fragen vor die obrigkeitlichen Behörden".
So ist es im Großen und Ganzen bis heute geblieben. Nur in Mexiko hat durch eine langwierige Arbeit von auswärts nach und nach zum Teil eine Öffnung stattgefunden. Ein großer Teil der Altkolonier wanderte im Jahre 1922 nach Mexiko aus. Dort haben sie sich zahlenmäßig am stärksten entfaltet und im Laufe von Jahrzehnten auch ihre Art am stärksten gefestigt.
Von außen veranlasste Änderungen in neuerer Zeit haben dann dazu geführt, dass einzelne Gruppen wieder den Wanderstab ergriffen, um irgendwo in der Welt noch eine Stelle zu finden, wo eine Lebensführung in ihrer Art nicht bedroht zu sein schien. Auf diese Weise sind die Kolonien
Rio Verde,
Nueva Durango und
Manitoba in Ostparaguay sowie viele Kolonien in Bolivien entstanden.
Die Nachkommen der ursprünglichen
Bergthaler haben später auch verschiedene neue Gemeinden und Siedlungen gegründet, die sich aber wohl alle eigenständig entwickelt haben, wie z.B. die
Kolonie Menno im
Chaco sowie
Sommerfeld,
Bergthal und
Reinfeld in Ostparaguay und einige Siedlungen in Mexiko und Bolivien. Die Siedler von
Santa Clara sind über Mexiko nach
Paraguay gekommen. Manche von ihnen halten auch auf strenge Formen und eine niedrige Schulbildung. In der Annahme und im Gebrauch auch modernster technischer Einrichtungen haben sie meist aber keine Hemmungen. Auch ist ihre Kleidung nicht einheitlich.